Entscheidungsstichwort (Thema)
Befreiung von der Arzneikostengebühr. besonderer Härtefall. Ermessensausübung. Grundrente aus KOV. Lebensunterhalt
Leitsatz (redaktionell)
Befreiung vom Kostenanteil bei der Abnahme von Arznei-, Verband- und Heilmitteln nach § 14 S 2 KVLG:
1. Wird die Befreiung vom Kostenanteil bei der Abnahme von Arznei-, Verband- und Heilmitteln wegen eines besonderen Härtefalles nach § 14 S 2 KVLG auch von einer Einkommensgrenze abhängig gemacht, so ist diese zu niedrig angesetzt, wenn sie einen nicht unbedeutenden Teil der Versicherten, die laufend Arznei-, Verband- und Heilmittel benötigen, von der Befreiung ausschließt, wie dies bei einer Begrenzung in Höhe eines Drittels der Bezugsgröße des § 18 SGB 4 der Fall ist.
2. Bestimmen die Richtlinien über die Befreiung vom Kostenanteil, daß bei laufendem Bezug von Arznei-, Verband- und Heilmitteln oberhalb einer bestimmten Einnahmegrenze ein besonderer Härtefall nicht mehr vorliegt, dann müssen die Richtlinien noch Raum für eine abweichende Einzelfallentscheidung aufgrund besonderer Umstände zulassen.
Orientierungssatz
1. Zur Frage der Ermessensausübung bei Prüfung eines besonderen Härtefalles gemäß § 14 S 2 KVLG (vergleiche BSG vom 1981-01-29 11 RK 7/80).
2. Die Grundrente des Beschädigten dient der Bestreitung des Lebensunterhalts nur insofern, als sie den - zum Lebensunterhalt gehörenden - schädigungsbedingten Mehraufwand ausgleichen soll.
Normenkette
KVLG § 14 S. 2 Fassung: 1977-06-27; RVO § 182a S. 2 Fassung: 1977-06-27; BVG § 31
Verfahrensgang
Tatbestand
Der als Bezieher von Altersgeld bei der beklagten landwirtschaftlichen Krankenkasse gegen Krankheit versicherte Kläger beantragte im September 1977, ihn von der Zahlung eines Arzneikostenanteils gemäß § 14 Satz 2 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG) zu befreien. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, da das monatliche Einkommen des Klägers einschließlich seiner Grundrente von 395,-- DM monatlich die in ihren Richtlinien für Eheleute festgelegte Einkommensgrenze von 805,-- DM überschreite und deshalb ein Härtefall im Sinne von § 14 Satz 2 KVLG nicht vorliege (Bescheid vom 16. September 1977; Widerspruchsbescheid vom 10. Oktober 1977).
Die hiergegen erhobene Klage hatte vor dem Sozialgericht (SG) Erfolg (Urteil des SG Aachen vom 26. Juni 1978), wurde aber vom Landessozialgericht (LSG) abgewiesen (Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 31. Januar 1980). Zur Begründung wird ausgeführt, der Begriff des besonderen Härtefalls werde in § 14 KVLG nach Art einer Koppelungsvorschrift im Sinne des Beschlusses des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes - GmS-ObG 3/70 - vom 19. Oktober 1971 (BVerfGE 39, 355, 362 ff) gebraucht und sei nicht Ermessensvoraussetzung, sondern ausschließlich Ermessensrichtschnur. Die erwähnten Richtlinien hielten sich im Rahmen des den Krankenkassen eingeräumten Ermessens. Insbesondere sei es nicht ermessenswidrig, auf die Einkünfte zum Lebensunterhalt im Sinne des § 180 Abs 4 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) abzustellen. Zu diesen Einkünften gehöre auch die Grundrente aus der Kriegsopferversorgung (KOV), die das Bundessozialgericht (BSG) wiederholt als Beitrag zum Familienunterhalt im Sinne des § 1266 RVO angesehen und auch zu den Nebeneinkünften eines landwirtschaftlichen Unternehmers im Sinne des § 2 Abs 1 Nr 2 KVLG aF gerechnet habe. Einschließlich der Grundrente seien die Einkünfte des Klägers auch in den folgenden Jahren 1978 und 1979 jeweils höher gewesen als der sich aus den Richtlinien ergebende Betrag von 1/3 zuzüglich 1/10 der Bezugsgröße im Sinne des § 18 des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB 4).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung des § 14 Satz 2 KVLG. Angesichts der Zweckbestimmung der Grundrente und der vom Gesetzgeber in anderen Gesetzen ausdrücklich bestimmten Anrechnungsverbote sei es rechtsfehlerhaft, die Grundrente bei der Ermittlung der Einkünfte zum Lebensunterhalt im Sinne des § 180 Abs 4 Satz 1 RVO zu berücksichtigen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben
und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil
des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als die Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheides unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu verurteilen ist. Soweit das SG darüber hinaus die Beklagte zur Befreiung verurteilt, das LSG aber die Klage in vollem Umfang abgewiesen hat, konnten die Urteile der Vorinstanzen keinen Bestand haben. Das LSG hat die mit der Klage angefochtene Befreiungsversagung zutreffend als eine reine Ermessensentscheidung gewertet. Für die gerichtliche Nachprüfung bedeutet dies (zunächst), daß ungeachtet der mit der Anfechtungsklage verbundenen Verpflichtungs- bzw Bescheidungsklage die Rechtmäßigkeit dieses Bescheides nach der Sach- und Rechtslage zu beurteilen ist, die bei Erlaß des Widerspruchsbescheides vom 10. Oktober 1977 für die Zeit ab Antragstellung (6. September 1977) maßgebend war. Die Frage, ob wegen der auch einer Befreiungsversagung zuzumessenden "Dauerwirkung" aus verfahrensökonomischen Gründen nicht außerdem spätere Veränderungen dieser Lage - zum Vorteil wie zum Nachteil des Klägers - berücksichtigt werden müßten (vgl BSGE 38, 168, 173 bei Versagung rentengleicher Härteleistungen) kann hier offenbleiben, weil das LSG keine Veränderungen festgestellt hat, die als erheblich gelten könnten.
Der Umfang der gerichtlichen Nachprüfung wird darüber hinaus entscheidend durch die Art der nach § 14 Satz 2 KVLG zu treffenden Ermessensentscheidung bestimmt. Die in der Vorschrift enthaltenen Begriffe (besonderer Härtefall, laufendes Benötigen von Arznei-, Verband- und Heilmitteln) umschreiben nicht als unbestimmte Rechtsbegriffe Voraussetzungen der Ermessensausübung; sie sollen vielmehr als Ermessensbegriffe lediglich Inhalt und Grenzen des der Krankenkasse zustehenden Ermessen bestimmen (dh Ermessensrichtschnur sein) und unterliegen somit keiner vollen gerichtlichen Nachprüfung, wie der Senat im Urteil vom 29. Januar 1981 - 11 RK 7/80 - (zur Veröffentlichung vorgesehen) näher ausgeführt hat.
Die ablehnende Entscheidung der Beklagten ist hiernach allein daraufhin zu prüfen, ob die Beklagte nach der Sach- und Rechtslage zur Zeit des Widerspruchsbescheides die Grenzen ihres Ermessens überschritten hat - das ist hier von vornherein auszuschließen - oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG). Letzteres trifft zu.
Das ergibt sich allerdings noch nicht aus dem Gesichtspunkt einer Selbstbindung an die von ihrem Vorstand erlassenen Richtlinien, die Empfehlungen der Spitzenverbände der Krankenkasse entsprechen. Denn für die Selbstbindung der Beklagten kommt es nicht darauf an, ob bei richtiger Auslegung der Richtlinien und des dort in Bezug genommenen § 180 Abs 4 Satz 1 RVO die Grundrente als Einkommen zu berücksichtigen ist, sondern darauf, wie die Beklagte in ihrer Verwaltungspraxis ihre Richtlinien handhabt. Demnach ist eine "Selbstbindung", die Grundrente nicht anzurechnen, nicht entstanden, obgleich der 3. Senat mit Urteil vom 21. Oktober 1980 - 3 RK 53/79 - entschieden hat, daß die Grundrente keine Einnahme zum Lebensunterhalt im Sinne des § 180 Abs 4 Satz 1 RVO sei.
Damit ist zu klären, ob die Richtlinien der Beklagten mit dem Zweck der hier in § 14 Satz 2 KVLG erteilten Ermächtigung im Einklang stehen. Das ist aus mehreren Gründen zu verneinen.
Durch § 14 Satz 2 KVLG sollen besondere Härten vermieden werden, die ohne eine Befreiung infolge der in Satz 1 angeordneten Zahlungspflicht von 1,-- DM für jedes dort genannte Mittel entstehen würden. Demnach muß es sich um Fälle handeln, in denen diese Zahlungspflicht den Versicherten besonders hart treffen würde. Daraus müßte sich eigentlich ergeben, daß die Beklagte die Höhe der insoweit in Betracht kommenden Zuzahlungspflicht dem Einkommen gegenüberstellt. Gleichwohl erscheint es noch nicht als ein unbedingter Widerspruch zum Zweck der Ermächtigung, wenn die Beklagte aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung bei einem laufenden Bezug von Arznei-, Verband- und Heilmitteln nur auf die für die Kostentragung vorhandenen finanziellen Mittel und dabei nur auf das Einkommen des Versicherten abstellt. In diesem Falle hätte sie im Hinblick auf den Befreiungszweck jedoch folgendes beachten müssen.
1. Wenn die Beklagte in Fällen laufenden Bezuges nur bis zu einer Einkommensgrenze befreien will, darüber hinaus aber nicht mehr, dann muß sie diese Grenze so hoch festsetzen, daß sie damit auf jeden Fall diejenigen Versicherten erfaßt, bei denen wegen des laufenden Mittelbezugs eine besondere Härte zu bejahen ist. Das ist bei der festgelegten, dem Grundsatz nach an einem Drittel der Bezugsgröße des § 18 SGB 4 ausgerichteten Einkommensgrenze nicht der Fall, weil dadurch eine zumindestens noch beträchtliche Zahl dieser Versicherten von der Befreiung ausgeschlossen wird.
2. Wenn die Beklagte für die Gruppe laufenden Bezuges von Arznei-, Verband- und Heilmitteln lediglich auf feste Einkommensgrenzen abstellt, dann müssen die Richtlinien immer Raum für eine Einzelfallentscheidung aufgrund besonderer Umstände lassen.
3. Soweit die Beklagte in den Richtlinien auf die Höhe der Einkünfte zum Lebensunterhalt abstellt, hätte sie die Grundrente aus der KOV nicht einschränkungslos als Einkommen für den allgemeinen Lebensbedarf ansehen dürfen. Denn die Grundrente des Beschädigten dient der Bestreitung des Lebensunterhalts nur insofern, als sie den - zum Lebensunterhalt gehörenden - schädigungsbedingten Mehraufwand ausgleichen soll. Dementsprechend hätte die Beklagte die Grundrente nur insoweit berücksichtigen dürfen, als sie nicht durch zweckbedingte Aufwendungen verbraucht wird. Im vorliegenden Fall hat die Beklagte für die Überschreitung der Einkommensgrenze jedoch nahezu die gesamte Grundrente in Anspruch genommen, ohne hierzu festzustellen, daß der Kläger sie in dieser Höhe nicht für schädigungsbedingte Mehraufwendungen verbraucht.
Aus allen diesen Gründen - wie sie der Senat in dem angeführten Urteil 11 RK 7/80 näher ausgeführt hat - folgt, daß der ablehnende Bescheid rechtswidrig ist. Gleichwohl war das die Beklagte zur Befreiung verurteilende erstinstanzliche Urteil nicht in vollem Umfang wiederherzustellen, da der Senat der Ansicht des SG nicht zustimmt, daß schon jetzt der Ermessensspielraum der Beklagten so eingeengt sei, daß nur eine Befreiung von der in § 14 Satz 1 KVLG angeordneten Zahlung in Betracht komme. Dieser Schluß träfe zwar zu, wenn die Beklagte bei der bisherigen Struktur ihrer Ermessensrichtlinien verbleibt, also nicht nach der Höhe der Kosten für den Versicherten fragt und nur seine Einnahmen zum allgemeinen Lebensunterhalt berücksichtigt. Die Beklagte ist jedoch an eine solche Gestaltung der Richtlinien nicht gebunden. Daher lassen sich noch nicht alle Möglichkeiten für eine ermessensfehlerfreie Ablehnung der Befreiung ausschließen. Die Beklagte war daher nur zur Erteilung eines neuen Bescheides unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen