Leitsatz (amtlich)
Zu den Selbsthilfearbeiten iS des RVO § 539 Abs 1 Nr 15 gehören Arbeitsleistungen für den Anschluß an die Kanalisation auch dann, wenn sie wegen der bis dahin fehlenden Kanalisation erst mehrere Jahre nach der Bezugsfertigkeit des Familienheims ausgeführt werden konnten.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 15 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. September 1969 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger errichtete in den Jahren 1958/60 ein von ihm bewohntes, öffentlich gefördertes Familienheim. Die Maurer-, Maler- und Erdaushubarbeiten wurden in Selbsthilfe ausgeführt. Für die Abwässer wurde eine Klärgrube gebaut. Im Jahre 1967 kanalisierte die Gemeinde die vom Kläger bewohnte Straße. Am 20. April 1967 hob der Kläger einen Graben aus, um den Anschluß seines Familienheimes an den Hauptkanal, zu dem er durch Ortssatzung verpflichtet war, zu ermöglichen. Hierbei erlitt er eine Quetschung des rechten Vorfußes. Zunächst bestand Arbeitsunfähigkeit. Für die anschließende Zeit schätzte der Durchgangsarzt die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 20 v.H.
Mit Bescheid vom 25. August 1967 lehnte der Beklagte Entschädigungsleistungen ab, weil es sich bei der unfallbringenden Arbeit nicht mehr um den Bau eines Familienheimes i.S. des § 539 Abs. 1 Nr. 15 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gehandelt habe.
Der Kläger hat Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 18. April 1968 die Beklagte verurteilt, den Kläger aus Anlaß des Arbeitsunfalles zu entschädigen, und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Der Anspruch des Klägers sei nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO begründet. Die Herstellung der Kanalisation gehöre zum Bau eines Familienheimes, auch wenn sie erst sieben Jahre nach der Bezugsfertigkeit des Hauses erfolgt sei. Erst als der Hauptkanal vorhanden gewesen sei, habe der Kläger die Kanalisation seines Hauses in Angriff nehmen können. Für die Zeit vorher habe ein Provisorium - die Senkgrube - errichtet werden müssen. Dieses Provisorium habe zwar die Benutzung des Familienheimes ermöglicht, aber nicht ausgereicht, den Hausbau als vollständig abgeschlossen anzusehen, zumal da Anschlußzwang an die gemeindliche Kanalisation bestehe.
Die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 24. September 1969 zurückgewiesen und in den Entscheidungsgründen u.a. ausgeführt: Der Bau einer Hauskläranlage in den Jahren 1958/60 sei nicht nur als Provisorium gedacht gewesen; damals hätte man noch keine Kanalisierung der vom Kläger bewohnten Straße vorgesehen. Indes komme diesen Umständen keine Bedeutung für die Beurteilung des Rechtsstreits zu. Nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen könne bei der Ergänzung des Familienheimes, z.B. unter bestimmten Voraussetzungen bei der Errichtung einer ursprünglich nicht eingeplanten Garage, vier Jahre nach der Bezugsfertigkeit des Familienheimes ebenso Versicherungsschutz bestehen wie bei der erst viele Jahre nach der Bezugsfertigkeit vorgenommenen Erweiterung eines Familienheimes. Dem Versicherungsschutz stehe nicht entgegen, daß sich die unfallbringenden Arbeiten des Klägers nicht unmittelbar auf die Schaffung weiterer Wohnräume oder Nebenräume, sondern auf die Stillegung der bereits vorhandenen Hauskläranlage und den Anschluß des Familienheimes an die Ortskanalisation erstreckten. Diese Arbeiten wären keine Reparatur- oder Verbesserungsarbeiten gewesen, wie der Beklagte meine; durch sie hätte vielmehr eine bauliche Anlage geschaffen werden sollen, die nach den Bestimmungen der Ortssatzung für die Bewohnbarkeit des Familienheimes unerläßlich geworden wäre und deshalb eine notwendige Ergänzung der Bauarbeiten dargestellt hätte.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und trägt vor: Für nachträgliche Bauarbeiten habe das Bundessozialgericht (BSG) stets die besondere Voraussetzung gefordert, daß die Arbeiten durch öffentliche Mittel gefördert würden; auch müsse durch sie neuer Wohnraum oder dazugehöriger neuer Nebenraum geschaffen werden. Es sei jedoch nicht festgestellt, daß der Kläger bei seiner unfallbringenden Selbsthilfetätigkeit mit öffentlichen Mitteln unterstützt worden sei; dies sei vielmehr offensichtlich nicht der Fall. Ebensowenig sei durch die Herstellung des Anschlußkanals irgendwelcher neuer Wohnraum oder dazugehöriger Nebenraum neu geschaffen worden. Es sei nicht einmal irgendein aus irgendwelchen Gründen zerstörter Eigenheimstil wiederaufgebaut worden. Es sei überhaupt nichts geschehen, was dem Wiederaufbau oder dem Neubau des Eigenheims oder von Teilen desselben gedient habe. Das Eigenheim sei vielmehr längst fertiggestellt gewesen. Weder eine Klärgrube noch ein Kanalanschluß hätten mit dem Eigenheim und dem Eigenheimbau als solchem etwas zu tun; dies sei lediglich ein gesundheitspolitisches und sozialhygienisches Problem. Daß man den Kläger gezwungen habe, die Haus-Kläranlage stillzulegen, um die Abwässer in den öffentlichen Straßenkanal zu führen, sei keineswegs eine öffentliche Förderung seines Eigenheims und erst recht keine Steuerbegünstigung seines Baues; es sei vielmehr nichts anderes als eine nachträgliche öffentliche Belastung, die ihm zuteil geworden sei, also genau das Gegenteil dessen, was die Voraussetzung des Eingreifens des Schutzes aus § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO sei.
Der Beklagte beantragt,
unter Aufhebung bzw. entsprechender Änderung des angefochtenen Urteils nach den Anträgen in der Vorinstanz, insbesondere im Ergebnis auf Klagabweisung,
hilfsweise,
auf Zurückverweisung an die Vorinstanz zu erkennen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) liegen vor.
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Das SG und das LSG haben mit Recht entschieden, daß der Kläger beim Ausheben des Grabens für den Kanalisationsanschluß seines Hauses nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO unter Versicherungsschutz gestanden hat.
Der Kläger hat in den Jahren 1958/60 ein öffentlich gefördertes Familienheim errichtet. Das LSG hat weiter festgestellt, daß die Maurer-, Maler- und Erdarbeiten in Selbsthilfearbeit ausgeführt wurden. Daraus ergibt sich zugleich, daß der durch den Wert der Selbsthilfe gegenüber den üblichen Unternehmerkosten ersparte Betrag wenigstens 1,5 v.H. der Gesamtkosten des Bauvorhabens deckt (vgl. BSG 28, 122).
Zu der nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO geschützten Selbsthilfe zählen auch Arbeiten bei dem Anschluß an die Kanalisation. Es kann hier dahinstehen, ob diese Arbeiten, wenn sie nachträglich durchgeführt werden, unmittelbar dem Bau des Familienheimes i.S. des § 539 Abs. 1 Nr. 15 Satz 1 RVO oder noch der Aufschließung des Geländes i.S. des § 539 Abs. 1 Nr. 15 Satz 2 RVO dienen (s. allgemein LSG Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1969, 113, 114; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., S. 474 x; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 539 Anm. 94; Linthe, BG 1956, 388, 389). Der Anschluß an die Kanalisation gehört jedenfalls zur zeitgemäßen Ausstattung eines aufgeschlossenen Wohngrundstückes.
Der Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO ist nicht, wie die Revision wohl meint, zu verneinen, weil der Kläger zum Anschluß an die Kanalisation durch die Ortssatzung verpflichtet gewesen ist. Zwar stehen für den Anschlußzwang u.a. gesundheitspolitische und sozialhygienische Gesichtspunkte im Vordergrund. Es wäre jedoch mit Sinn und Zweck des § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO nicht vereinbar, dem Versicherten bei allen Selbsthilfearbeiten Versicherungsschutz zu gewähren, die allein seinen eigenen Wünschen zur Ausgestaltung des Familienheimes dienen, ihn aber bei den Arbeiten vom Versicherungsschutz auszunehmen, die er beim Bau eines Familienheimes auch und vielleicht sogar in erster Linie im Interesse der Allgemeinheit aufgrund eines öffentlichen Zwanges verrichtet.
Der Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO setzt entgegen der Auffassung des Beklagten nicht voraus, daß die Selbsthilfe vor oder unmittelbar nach dem Einzug in das Familienheim verrichtet wird (ebenso u.a. LSG Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1969, 356, 357; Lauterbach aaO § 539 Anm. 93; Vollmar, Die Sozialversicherung 1967, 280, 283).
Der erkennende Senat hat ebenfalls bereits in einer weiteren Entscheidung vom 27. Juni 1968 (BSG 28, 131, 133) für den Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO als unerheblich angesehen, daß die Selbsthilfe vier Jahre nach dem Bezug des Familienheimes geleistet wurde. Entscheidend ist auch im vorliegenden Fall, daß die Bauarbeiten noch als eine sachgemäße Ergänzung und Vollendung des Familienheimes zu betrachten sind, die versicherungsrechtlich nicht anders zu behandeln sind, als wenn der Anschluß an die Kanalisation seinerzeit bei Schaffung des öffentlich geförderten Familienheimes gleich mit ausgeführt worden wäre. Daher ist hier ebenfalls nicht als entscheidungserheblich anzusehen, daß die zum Unfall führende Tätigkeit nicht in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Bau eines Wohnraumes gestanden hat (BSG aaO). Der zeitliche Abstand zwischen dem Bezug des Familienheimes und den später durchgeführten Selbsthilfearbeiten kann allerdings ein Kriterium dafür bilden, ob im Einzelfall Bauarbeiten noch eine sachgemäße Ergänzung oder Vollendung des Familienheimes sind. Der Senat braucht jedoch hier nicht abschließend zu entscheiden, nach Ablauf welcher Zeit regelmäßig eine Ergänzung oder Vollendung des bereits seit Jahren bezogenen Familienheimes nicht mehr anzunehmen sein wird. Zu erwägen wären als allgemeine zeitliche Grenze im Rahmen des § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO die für die Steuerbegünstigung beim Bau eines Familienheimes jeweils festgelegten Zeiträume. Aber unbeschadet einer solchen Grenzziehung wären die Selbsthilfearbeiten des Klägers beim Ausheben des Grabens nach dem hier gegebenen zeitlichen Abstand noch eine sachgemäße Ergänzung und Vollendung des Bauvorhabens, zumal da nach der Ortssatzung hinsichtlich der Kanalisation Anschluß- und Benutzungszwang bestanden.
Voraussetzung für den Versicherungsschutz ist hier schließlich nicht, wie der Beklagte meint, daß der Anschluß an die Kanalisation selbständig öffentlich gefördert worden ist. Der Senat hat - entgegen der Auffassung der Revision - auch in den Entscheidungsgründen seines Urteils vom 27. Juni 1968 (BSG aaO) die gesonderte öffentliche Förderung eines nachträglich durchgeführten Bauvorhabens nicht stets als Voraussetzung des Versicherungsschutzes angesehen. Die Ausführungen (BSG aaO), eine nachträgliche sachgemäße Ergänzung und Vollendung des Familienheimes seien versicherungsrechtlich nicht anders zu behandeln, als wenn sie seinerzeit bei der Schaffung der öffentlich geförderten Wohnung - hier des Familienheims - gleich mit durchgeführt worden wären, deutet bereits darauf hin, daß der Senat ebenfalls eine selbständige neue öffentliche Förderung nicht stets für erforderlich angesehen, sondern die Ergänzung und Vollendung des Familienheimes insoweit in die bisherige öffentliche Förderung als eine Voraussetzung des Versicherungsschutzes nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO mit eingeschlossen hat. Andererseits ist bei Aus- und Anbauten darauf zu achten, ob dadurch nicht der für eine öffentliche Förderung festgelegte Rahmen (vgl. §§ 39 ff des Zweiten Wohnungsbaugesetzes - hier - idF vom 1. August 1961, BGBl I 1121) über- oder unterschritten wird. Dies ist jedoch bei der Ergänzung eines Familienheimes, die auf einem öffentlich-rechtlichen Zwang zum Anschluß an die Kanalisation beruht, nicht der Fall.
Da die sonstigen in § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO aufgestellten Anspruchsvoraussetzungen vorliegen, ist die Revision des Beklagten unbegründet und muß zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen