Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz. Erweiterung eines Familienheimes. Kanalanschlußarbeit. Unfallversicherungsschutz beim Bau eines Familienheimes (Kanalanschlußarbeiten)
Orientierungssatz
Kanalanschlußarbeiten, die zur zeitgemäßen Ausstattung eines aufgeschlossenen Grundstücks gehören, zählen noch zur sachgemäßen Ergänzung oder Vollendung und damit zum Bau des Familienheimes (vgl BSG 29.2.1972 2 RU 230/69 = SozR Nr 26 zu § 539 RVO). Dem Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO steht nicht entgegen, daß zum Anschluß der Kanalisation aufgrund der Ortssatzung eine Verpflichtung bestand, welcher auch schon vor dem steuerbegünstigten Ausbau hätte nachgekommen werden müssen. Ebenfalls unerheblich für den Versicherungsschutz ist es, daß der Kanalanschluß auch dem Familienheim insgesamt, also auch seinen nicht öffentlich geförderten oder steuerbegünstigten Teilen, dienen sollte.
Normenkette
RVO § 539 Abs 1 Nr 15
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 25.02.1985; Aktenzeichen L 3 U 47/84) |
SG Mainz (Entscheidung vom 16.01.1984; Aktenzeichen S 7 U 235/82) |
Tatbestand
Die Klägerin zu 1) ist die Witwe, die Klägerin zu 2) die im August 1979 geborene Tochter des am 16. Mai 1981 im Alter von 26 Jahren tödlich verunglückten K.E. (E.). Sie begehren Hinterbliebenenentschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung, der Unfall habe sich bei Selbsthilfearbeiten iS des § 539 Abs 1 Nr 15 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ereignet.
Das von den Eheleuten E. bewohnte Haus S.10 in R. war noch nicht an die im Jahre 1977 in der S. fertiggestellte gemeindliche Abwasseranlage angeschlossen. Die Abwässer des Haushalts wurden in einer grundstückseigenen Klärgrube geklärt und von dort in den Vorfluter (R.) geleitet. Auf einen im Oktober 1980 gestellten Antrag, rückwirkend und künftig von Kanalgebühren freigestellt zu werden, erging von der Verbandsgemeindeverwaltung R. am 22. Oktober 1980 die Anordnung, bis zum 25. November 1980 die Entsorgungsleitungen des Grundstücks entsprechend dem Anschlußzwang nach § 5 der Kanalisationssatzung vom 8. Juli 1975 an die öffentliche Abwasseranlage anzuschließen. Am Montag, dem 18. Mai 1981, wollte die Gemeinde den Weg zwischen den Häusern S.10 und 12 mit Schotter befestigen. Der Ehemann der Klägerin zu 1) und der Nachbar H. (H.), denen eine gemeinsame Anschlußleitung gestattet worden war, beauftragten für den 16. Mai 1981 einen Baggerführer zum Ausschachten eines unter dem Weg verlaufenden, teilweise zwei bis drei Meter tiefen Grabens, in den sie von der Straße her die Abwasserrohre selbst verlegten. Nachdem ein Teil der Arbeiten durchgeführt war, stürzte der Graben ein. Der Ehemann der Klägerin zu 1) wurde verschüttet und konnte nur noch tot geborgen werden.
Vor dem Unfall hatte der Ehemann der Klägerin zu 1), der gelernter Bauzeichner und im Unfallzeitpunkt Soldat auf Zeit war, das Haus um eine Wohnküche im Untergeschoß und um ein Kinderzimmer sowie ein Bad mit WC und einen Flur im Obergeschoß zum Großteil in Eigenarbeit mit seinem Bruder erweitert und diese Arbeiten bis auf die sanitären Anlagen und den Flur bereits fertiggestellt. Auf einen Bauantrag vom 30. Mai 1981 mit Bauzeichnungen, die der Ehemann der Klägerin zu 1) gefertigt und dessen Vater nach dem Unfall ergänzt hatte, wurde wurde der Klägerin zu 1) am 2. Dezember 1981 die Baugenehmigung für "Umbau und Erweiterung des Wohnhauses" erteilt (geschätzte Baukosten 35.000,- DM, Anteil der Selbsthilfe nach Angaben des Vaters des Ehemannes der Klägerin zu 1) ca 10.000,- DM). Durch Bescheid vom 16. März 1982 erkannte die Kreisverwaltung B. 20 qm neu geschaffener Wohnfläche im Obergeschoß ("Umbau und Erweiterung des Wohnhauses - Gesamtwohnfläche 128,04 qm") als steuerbegünstigte Wohnung nach §§ 82, 83 II. Wohnungsbaugesetz (WoBauG) an.
Der Beklagte lehnte durch Bescheid vom 16. November 1982 Entschädigungsansprüche ab. Der Ehemann der Klägerin zu 1) sei im Unfallzeitpunkt als Unternehmer nichtgewerbsmäßiger Bauarbeiten versicherungsfrei gewesen. Ein Zusammenhang der Kanalanschlußarbeiten mit dem Ausbau des Hauses habe nicht bestanden, so daß ein Versicherungsschutz auch nicht aus § 539 Abs 1 Nr 15 RVO hergeleitet werden könne.
Das Sozialgericht (SG) Mainz hat den Beklagten verurteilt, den Klägerinnen die gesetzlichen Entschädigungsleistungen aufgrund des tödlichen Unfalls des E. zu gewähren (Urteil vom 16. Januar 1984). Es hat ua ausgeführt: Der Ehemann der Klägerin zu 1) habe gemäß § 539 Abs 1 Nr 15 RVO unter Versicherungsschutz gestanden. Er habe durch den Ausbau des Hauses in Selbsthilfe steuerbegünstigten Wohnraum geschaffen und auch schaffen wollen. Der Anschluß des Familienheimes an die Kanalisation sei nicht nur in Erfüllung des Anschluß- und Benutzungszwangs durchgeführt worden, er habe vielmehr wesentlich auch der Beseitigung der Abwässer aus dem neugeschaffenen Wohnraum gedient.
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die von ihm insgesamt als zulässig angesehene Berufung des Beklagten das Urteil des SG geändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 25. Februar 1985). Es hat ua ausgeführt: Für einen Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO reiche es nicht aus, daß der Kanalanschluß auch dem umgebauten, steuerbegünstigten Teil des Hauses habe dienen sollen. Der von den Klägerinnen angenommene Zusammenhang sei nicht bautechnisch, sondern willkürlich und laufe darauf hinaus, sich seit dem Jahre 1977 nicht schon der satzungsgemäßen Pflicht zum Kanalanschluß und der gemeindlichen Aufforderung unter Bußgeldandrohung, sondern erst der Erkenntnis gebeugt zu haben, daß anders eine baurechtliche Genehmigung und eine steuerrechtliche Anerkennung nicht zu erlangen sein würde. Es könne nicht richtig sein, daß eine satzungswidrige Verzögerung des Kanalanschlusses den Vorteil des Unfallversicherungsschutzes einbringen solle. Nach den Angaben der Klägerinnen sei der Umbau mit Ausnahme der sanitären Einrichtungen und des Flurs im Unfallzeitpunkt bereits beendet gewesen, ohne daß eine Baugenehmigung eingeholt worden sei. Das LSG habe nicht die Überzeugung gewinnen können, daß infolge erheblicher Erhöhung der Abwassermenge die Kapazität der Klärgrube nicht mehr ausgereicht hätte, die Umstellung der Kanalisation also auch ohne Anschlußzwang veranlaßt gewesen wäre. Zwar dürften insoweit auch die subjektiven Vorstellungen des Bauherrn berücksichtigt werden. Es könne aber auch nicht mit Überzeugung festgestellt werden, daß der Verunglückte zu den Rohrverlegungen durch die Vorstellung bewogen worden sei, die Kapazität der Klärgrube werde nach der Einrichtung eines weiteren Bades mit WC nicht mehr ausreichend sein. Als Beweggrund für die Arbeiten bleibe nur die satzungsgemäße Anschlußpflicht übrig in der Erkenntnis, Zwangsmaßnahmen der Gemeinde doch nicht entgehen zu können, und in der Voraussicht, daß sich die Grabungsarbeiten nach durchgeführter Wegebefestigung verteuern würden. Die Gewährung des Versicherungsschutzes im vorliegenden Fall würde rechtswidriges Verhalten belohnen und rechtmäßiges Verhalten benachteiligen. Das Gleichbehandlungsgebot verbiete, den pflichtwidrig Verzögernden auf eine günstigere Stufe als den pflichtgerecht den Satzungspflichten Nachkommenden zu stellen.
Die Klägerinnen haben die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und tragen ua vor: Das LSG sei bei seiner unzutreffenden Argumentation, die Gewährung des Versicherungsschutzes im vorliegenden Fall bedeute die Belohnung rechtswidrigen Verhaltens, schon insoweit von einem unrichtigen, zumindest unvollständigen Sachverhalt ausgegangen, als es außer acht gelassen habe, daß die Hauskläranlagen im Ort wegen des Fehlens einer gemeindlichen Kläranlage noch lange nach dem Unfall in Betrieb hätten bleiben müssen. Die Selbsthilfeleistung bei dem Anschluß an die öffentliche Kanalanlage habe mit dem steuerbegünstigten Ausbau des Familienheimes in ursächlichem Zusammenhang schon deshalb gestanden, weil ohne den Anschluß keine Baugenehmigung erteilt worden wäre.
Die Klägerinnen beantragen sinngemäß, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Mainz vom 16. Januar 1984 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er meint, der neue Sachvortrag der Klägerinnen dürfe im Revisionsverfahren nicht berücksichtigt werden. Der neue Sachvortrag würde auch keine andere Entscheidung rechtfertigen. Die Baugenehmigung sei trotz fehlenden Anschlusses an die gemeindliche Kanalisation erteilt worden, wenn auch mit der Auflage, den Anschluß herzustellen. Ohne Anschlußzwang wären die unfallbringenden Arbeiten nicht durchgeführt worden. Die Schaffung steuerbegünstigten Familienwohnraums sei nur eine Gelegenheitsursache für das Tätigwerden gewesen, so daß eine Zuordnung der Anschlußarbeiten zu dem nachträglich als steuerbegünstigt anerkannten Umbau willkürlich sein würde.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerinnen ist begründet.
Die Berufung des Beklagten ist, soweit sie die den Klägerinnen vom SG zugesprochenen Ansprüche auf Sterbegeld und Überbrückungshilfe betrifft (s § 589 Abs 1 Nrn 1 und 4, § 591 RVO in der hier maßgebenden Fassung des UVNG bis zum Inkrafttreten des Gesetzes vom 11. Juli 1985 - BGBl I 1450 -, s Art 1 Nrn 1 und 2; § 617 RVO idF dieses Gesetzes) unzulässig, weil sie von der Berufung ausgeschlossene Ansprüche betrifft (s BSG SozR 1500 § 144 Nrn 2 und 4, jeweils mwN).
Die Ansprüche auf Hinterbliebenenrenten aus der gesetzlichen Unfallversicherung (§§ 589 Abs 1 Nr 3, 590, 595 RVO) sind begründet. Der tödliche Unfall des Ehemannes der Klägerin zu 1) und Vaters der Klägerin zu 2) war ein Arbeitsunfall (§ 548 RVO).
Nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO sind gegen Arbeitsunfall ua Personen versichert, die bei dem Bau eines Familienheimes im Rahmen der Selbsthilfe tätig sind, wenn durch das Bauvorhaben steuerbegünstigte Wohnungen geschaffen werden sollen. Dies gilt auch für die Selbsthilfe bei der Aufschließung und Kultivierung des Geländes, bei der Herrichtung der Wirtschaftsanlagen und der Herstellung von Gemeinschaftsanlagen (Satz 2). Als Bau eines Familienheimes ist nicht nur ein Neubau, sondern auch der Ausbau und die Erweiterung eines bestehenden Familienheimes anzusehen, falls dadurch für die Familie des Bauherrn - wie hier durch Ausbau von Räumen ua zu einem Kinderzimmer mit Bad und WC - zusätzlicher Wohnraum geschaffen wird und die Wohnflächengrenzen des steuerbegünstigten Wohnungsbaus nicht überschritten werden (BSGE 28, 128, 130 und 131, 132). Hat das Bauvorhaben - wie hier - im Unfallzeitpunkt den Voraussetzungen für die spätere Anerkennung als steuerbegünstigt entsprochen (s § 82 des II. WoBauG), ist es unerheblich, wann die Steuerbegünstigung beantragt und durch Bescheid anerkannt worden ist (BSGE 28, 134, 136; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 475b mwN).
Unter den Beteiligten besteht zu Recht kein Streit darüber, daß - bei einer Gesamtwohnfläche von 128,04 qm nach Durchführung des Erweiterungsbaus - die neugeschaffene Wohnfläche die Grenzen des förderungsfähigen Bauvorhabens nicht überschritten hat (s § 82 iVm § 39 Abs 1 II. WoBauG) und der durch den Wert der vom Ehemann der Klägerin zu 1) geleisteten Selbsthilfe gegenüber den üblichen Unternehmerkosten ersparte Betrag wenigstens 1,5 vH der Gesamtkosten des Ausbaus gedeckt hat (s BSGE 28, 122). Allerdings hat der Ehemann der Klägerin zu 1) den Unfall nicht bei dem Ausbau der Wohnung, sondern bei den Kanalanschlußarbeiten erlitten. Diese Arbeiten, die zur zeitgemäßen Ausstattung eines aufgeschlossenen Grundstücks gehören, zählen aber noch zur sachgemäßen Ergänzung oder Vollendung und damit zum Bau des Familienheimes (s BSG SozR Nr 26 zu § 539 RVO). Dem Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO steht nicht entgegen, daß zum Anschluß der Kanalisation aufgrund der Ortssatzung eine Verpflichtung bestand (BSG aaO), welcher hier nach den Feststellungen des LSG auch schon vor dem steuerbegünstigten Ausbau hätte nachgekommen werden müssen. Ebenfalls unerheblich für den Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift ist es, daß der Kanalanschluß auch dem Familienheim insgesamt, also auch seinen nicht öffentlich geförderten oder steuerbegünstigten Teilen, dienen sollte. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Selbsthilfetätigkeit in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit der Durchführung des als steuerbegünstigt anerkannten Bauvorhabens gestanden und ihm unmittelbar gedient hat (s Brackmann aaO S 475 mwN; BSG USK 80138 und 80143). Dies war hier der Fall. Der für das Wohnhaus insgesamt vorgesehene Kanalanschluß diente rechtlich wesentlich unmittelbar auch den steuerbegünstigt neugeschaffenen Wohnräumen jedenfalls schon wegen der erforderlichen Entwässerung aus den zusätzlichen sanitären Anlagen. An dem rechtlich wesentlichen Zusammenhang der Selbsthilfearbeiten mit dem Bau fehlt es entgegen der Auffassung des LSG nicht deshalb, weil das LSG nicht hat feststellen können, daß etwa infolge erheblicher Erhöhung der Abwassermenge die Kapazität der Klärgrube nicht mehr ausgereicht hätte oder der Ehemann der Klägerin zu 1) - irrtümlich - von dieser Vorstellung ausgegangen ist. Der Ehemann der Klägerin zu 1) hatte sich, wenn auch verzögert, zur Herstellung des Anschlusses an die gemeindliche Kanalisation entschlossen, und es kommt nicht darauf an, ob dazu technisch eine Notwendigkeit bestand. Daß die Kanalanschlußarbeiten vom Ehemann der Klägerin zu 1) durchgeführt wurden, weil dieser, wie das LSG ausgeführt hat, anders keine baurechtliche Genehmigung insbesondere für den beabsichtigten Einbau der sanitären Anlagen und keine steuerliche Anerkennung erwarten konnte, steht dem rechtlich wesentlichen Zusammenhang der Arbeiten mit dem Erweiterungsbau und der Unmittelbarkeit zwischen der unfallbringenden Tätigkeit und dem Bau ebenfalls nicht entgegen.
Die Revision der Klägerinnen ist danach begründet. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen