Leitsatz (redaktionell)
1. Über die Verhältnisse auf dem Teilzeitarbeitsmarkt sind gesicherte Erkenntnisse nur durch ungewöhnliche Beweismittel und -methoden zu gewinnen (Ergänzung zu BSG 1970-07-23 4 RJ 497/67 = SozR Nr 24 zu RVO § 1247).
2. Zu den Fragen des Umfanges der Ermittlungen über Teilzeitarbeitsverhältnisse sowie der Abgrenzung der Berufsunfähigkeit (Erwerbsunfähigkeit) gegenüber der Arbeitslosigkeit.
Normenkette
RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. Mai 1971 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger - ungelernter Arbeiter, geboren 1908 - wendet sich gegen die Entziehung der ihm wegen Berufsunfähigkeit seit 1961 gewährten Rente. Auf seine Klage hin hatten Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, die Rente weiterhin zu leisten. Das LSG war davon ausgegangen, daß der Kläger nur noch leichte körperliche Arbeiten bis zu einer Dauer von 6 Stunden täglich verrichten könne. Bei einem solchermaßen eingeengten Leistungsvermögen hatte das LSG gefolgert, daß sich dem Kläger Arbeitsplätze nicht mehr in einem rechtlich beachtlichen Umfange böten.
Dieses Urteil hatte das Bundessozialgericht (BSG) aufgehoben und den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen. Dem LSG war aufgegeben worden, nach den vom Großen Senat (GS) des BSG aufgestellten Richtlinien (BSG 30, 167) und nach Hinweisen des erkennenden Senats (Urteil vom 23. Juli 1970 - 4 RJ 497/67 - SozR Nr. 24 zu § 1247 RVO) zu erforschen, ob dem Kläger der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei. Es war ausdrücklich hervorgehoben worden, daß das LSG die Untersuchungen nicht - wie es dies vorher getan habe - auf den Teilzeit-Beschäftigtenstand in Betrieben mit mindestens 10 Arbeitnehmern beschränken dürfe und daß es von den Verhältnissen in der gesamten Bundesrepublik ebenso wie von der Arbeitsmarktlage in Berlin (West) auszugehen habe.
In seiner neuen Entscheidung ist das Berufungsgericht (Urteil des LSG Berlin vom 12. Mai 1971) wiederum zu dem Ergebnis gelangt, daß die von der Beklagten ausgesprochene Rentenentziehung nicht gerechtfertigt, der Kläger vielmehr nach wie vor berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei. Er könne sein Leistungsvermögen nicht mehr verwerten, weil "auf dem Teilzeitarbeitsmarkt für Ungelernte nicht genügend Arbeitsplätze" nachweisbar seien. Die Repräsentativstatistik der Bevölkerung und des Erwerbslebens weise nicht die Zahl der Versicherten aus, die in ihrem Leistungsvermögen qualitativ und quantitativ mit dem Versicherten verglichen werden könnten; sie gebe des weiteren keinen Aufschluß über die beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten oder besonderen Körperkräfte, die bei Teilzeitarbeiten gefordert werden; sie bezeichne nicht die dabei im allgemeinen geltenden Arbeitsbedingungen, z. B. ob Tätigkeiten im Sitzen oder unter Hitze-, Kälte-, Nässe-, Staubeinwirkungen verrichtet werden müssen; sie erfasse auch nicht, wie es der GS des BSG verlange, alle "Interessenten" für Teilzeitarbeiten, sondern beziehe nur diejenigen Personen ein, die sich als Arbeitsuchende bei den Arbeitsämtern vorgestellt hätten. Unzureichend seien ferner die von der Bundesanstalt für Arbeit (BA) und dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung herausgegebenen statistischen Unterlagen. Daraus werde indessen ersichtlich, daß nur ein geringer Bruchteil aller Teilzeitarbeitsuchenden Arbeit gefunden hätte; hierbei seien die Angehörigen älterer Berufsgruppen, zumal wenn sie leistungsbehindert gewesen seien, benachteiligt gewesen. Dieses ungünstige Bild sei durch die Aussage des spezialerfahrenen Zeugen Dr. Z, Unterabteilungsleiter im Landesarbeitsamt Berlin, bestätigt worden. Danach habe das Berufungsgericht auch ohne Befragen einzelner Berufs- und Wirtschaftsverbände davon ausgehen können, daß Teilzeitarbeitsplätze wohl für Frauen, nicht aber für Männer zur Verfügung stünden. Eine Anfrage bei der Steuerbehörde, wie sie der erkennende Senat vorgeschlagen habe, habe keine Klärung gebracht, "weil bei den Finanzämtern keine Unterlagen über Art und Schwere der Teilzeitarbeitenden vorhanden" seien. Ob von einer Auswertung der bei den Versicherungsträgern anfallenden Nachuntersuchungsergebnissen ein Aufklärungseffekt zu erwarten gewesen wäre, hat das LSG mit dem Bemerken offen gelassen, daß die Beklagte "keine diesbezüglichen Feststellungen bekanntgegeben" habe. Schließlich erschien es dem LSG auch nicht geboten, Nachforschungen über den Arbeitsmarkt außerhalb Berlins anzustellen, da dem Kläger bei seinem stark herabgesetzten Gesundheitszustand, seinem Alter und seiner Familienbindung an Berlin ein Umzug in das Bundesgebiet nicht zuzumuten sei.
Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) hat die - nicht zugelassene - Revision eingelegt. Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Sie rügt eine mangelnde Sachaufklärung. Das LSG hätte, so führt sie u. a. aus, die Arbeitsfähigkeit des Klägers nicht ohne weitere medizinische Begutachtung als zeitlich begrenzt ansehen dürfen. Der Sachverständige Dr. D habe wegen eines - nicht in sein engeres Fachgebiet fallenden - Krampfaderleidens die tägliche Arbeitszeit des Klägers auf 6 Stunden angesetzt. Der gegenüber früher gebesserte Befund der Leber habe allerdings eine solche Schlußfolgerung nicht bedingt. Das Krampfaderleiden habe seit längerem bestanden, es habe den Kläger früher in seiner Erwerbsfähigkeit nicht wesentlich beeinträchtigt, sei vielmehr schubweise aufgetreten und einer Behandlung zugänglich gewesen. Auf diese Umstände, die im Verwaltungsverfahren von der Fachärztin für Hautkrankheiten Dr. L erwähnt worden seien, habe sie - die Beklagte - das Gericht vergeblich aufmerksam gemacht. Eine zusätzliche Befragung eines medizinischen Sachverständigen hätte ergeben, daß eine Arbeitszeit von 6 Stunden täglich nicht die oberste Leistungsgrenze des Klägers darstelle. - Zur Erfassung der Gegebenheiten im Bereich der Teilzeitbeschäftigungen hätte sich das LSG nicht mit der ihm von der Oberfinanzdirektion B erteilten Antwort begnügen dürfen. In dieser Antwort sei lediglich geschildert worden, wie die Lohn-Pauschal-Besteuerung durchgeführt werde. Das LSG hätte aus den von den Finanzämtern aufbewahrten Aufzeichnungen die Anschriften der Arbeitgeber erfragen und danach bei diesen die Ermittlungen über Teilzeitarbeitsplätze anstellen müssen. - Das LSG hätte des weiteren, weil es um die Einsatzmöglichkeiten für eine halbe bis unter volle Schicht gegangen sei, nicht bloß von den Verhältnissen auf dem Berliner Arbeitsmarkt ausgehen dürfen, sondern seine Untersuchungen auf das Gebiet der Bundesrepublik erstrecken müssen. - Soweit das LSG geglaubt habe, dem Kläger wegen seines herabgesetzten Gesundheitszustandes einen Umzug in das Bundesgebiet nicht zumuten zu können, werde das Urteil nicht von seinen Gründen getragen. Dem Gutachten des Dr. D sei entsprechendes nicht zu entnehmen.
Der Kläger beantragt, die Revision zu verwerfen. Sein Prozeßbevollmächtigter regt für den Fall, daß die Verfahrensangriffe der Revision durchgreifen sollten an, die Beweiserhebungen über Teilzeitbeschäftigungen in Betrieben mit weniger als 10 Arbeitnehmern auf die Nordfriesischen Inseln, die Lüneburger Heide, den Bayerischen Wald und Oberbayern auszudehnen. - Er hält es für denkbar, daß in diesen Bereichen auch größere Betriebe Teilzeitarbeitsplätze in der geforderten Relation aufweisen.
Die Revision ist zulässig. Mit ihr sind wesentliche Verfahrensmängel formgerecht geltend gemacht worden (§ 162 Abs. 1 Nr. 2, § 164 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die von der Beklagten zur medizinischen Seite des Sachverhalts bereits im ersten Revisionsverfahren vorgetragenen Bedenken sind nicht von der Hand zu weisen. Der Beklagten ist zuzubilligen, daß die Beurteilung, die das Krampfaderleiden des Klägers in dem Gutachten des Dr. D gefunden hatte, nicht ohne nähere Erläuterung durch einen weiteren Sachverständigen mit dem Verlauf dieser Krankheit und der Möglichkeit ihrer Heilbehandlung in Einklang zu bringen ist. Das Berufungsgericht hat sich in seinem Urteil mit dem Sachvortrag der Beklagten nicht auseinander gesetzt. Dem Beweiserbieten der Beklagten hätte aber das LSG nachkommen müssen (§ 103 SGG).
Die Beklagte sieht ferner die Beweiserhebungen des Berufungsgerichts zur Aufhellung des Teilzeitarbeitsmarkts zutreffend als unzureichend an. Das LSG selbst hat das Adressenmaterial, das die Finanzämter aufgrund der vereinfachten Lohn-Pauschal-Besteuerung besitzen als Ansatz für eine einschlägige Tatsachenermittlung angesehen. Zwar gilt die vereinfachte Lohnbesteuerung für Beschäftigungen von nicht mehr als 20 Stunden wöchentlich oder gegen einen voraussichtlich geringen Arbeitslohn, sie bezieht sich unmittelbar auf Arbeitsverhältnisse, die nach ihrem Ausmaß in der Regel weniger für die Berufsunfähigkeit als mehr für die Erwerbsunfähigkeit der Versicherten von Belang sind. Möglicherweise jedoch geben die Fakten, die zutage treten können, wenn man weiter forscht, Aufschluß über die Art der ausgeübten Teilzeittätigkeiten, die dabei gestellten Anforderungen an körperliche, geistige und berufliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, über die Beschäftigung von leistungsschwachen und älteren Menschen, die überregionale Unterschiede und die Bedingtheiten je nach Unternehmensgröße oder Wirtschaftszweig. Daß solche Beweisresultate nicht direkt durch Befragen der Finanzverwaltung zu erhalten sind, ist selbstverständlich. Auf die Steuerbelege gestützt, können solche Informationen zu beschaffen sein. Das Berufungsgericht hätte den eingeschlagenen Weg nicht abbrechen sollen; es hätte - wie die Beklagte betont - die Arbeitgeberanschriften lediglich als Fingerzeige für ein Fortschreiten in der Sachaufklärung nutzen müssen, indem es - im Benehmen mit der Finanzverwaltung - geeignete Sachverständige mit den weiteren Erhebungen beauftragte.
In dem ersten zurückverweisenden Revisionsurteil in diesem Rechtsstreit (mit dem darin erwähnten weiteren Urteil des Senats) ist dargelegt worden, daß mit den gebräuchlichen Beweismitteln und -methoden dem zu klärenden Tatsachenstoff nicht beizukommen ist. Sachverständige oder Stellen, die das erforderliche Wissen gegenwärtig bereithalten, gibt es allem Anschein nach - noch - nicht. Das entbindet den Tatsachenrichter jedoch nicht von der Pflicht, sich mit Hilfe anderer sozialwissenschaftlicher Verfahren den nötigen Überblick über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsgelegenheiten zu verschaffen. Anders vermag er nicht - "konkret" - zu beurteilen, ob und aus welchem Grunde ein Versicherter "vom Arbeitsmarkt praktisch ausgeschlossen" ist.
Die nicht hinreichende Aufklärung des Sachverhalts verstößt gegen das Verfahrensrecht. Mit dem darauf gegründeten Revisionsangriff hat sich die Beklagte das Rechtsmittel eröffnet. Die Revision ist auch begründet, weil nicht auszuschließen ist, daß das Berufungsurteil ohne die bezeichneten Mängel anders ausgefallen wäre. Damit die noch nötigen Beweiserhebungen nachgeholt werden können, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Das Berufungsgericht wird Gelegenheit haben, auch die übrigen Revisionsgründe und die in der Revisionserwiderung geäußerten Gedankengänge zu berücksichtigen. Für die neue Verhandlung und Entscheidung wird bemerkt, daß der Tatsachenrichter die Nachuntersuchungsergebnisse der Rentenversicherungsträger nicht deshalb unbeachtet lassen kann, weil die Versicherungsanstalten selbst dieses Beweismaterial bislang nicht ausgewertet haben. Freilich ist es dem Berufungsrichter unbenommen, andere - vielleicht bessere - Erkenntnisquellen zu erschließen. Die herkömmlichen Beweismittel, insbesondere die Erkundigungen bei der Arbeitsverwaltung und ihren Vertretern, haben sich jedoch nach der bisherigen Erfahrung jedenfalls für zurückliegende Zeiten als unzulänglich erwiesen. Von ihnen war allenfalls über den - amtlich bekannten - Arbeits"markt" (im engeren Sinne des Wortes) ein Bild zu gewinnen. Auf das öffentlich registrierte Zusammenspiel von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage kommt es aber nach der Rechtsprechung des GS des BSG (BSG 30, 167, Entscheidungssatz Nr. 4 und Begründung dazu S. 184) allein nicht an. Will man von Ungewißheiten, Mutmaßungen und Formeln freikommen, so wird man nicht umhinkönnen, neue Wege zu beschreiten, um die Teilzeitarbeitsverhältnisse durchschaubar zu machen. Die Resultate solcher Ermittlungen werden, wenn sie einmal allgemein gültig, weil wirklichkeitsgetreu, vorliegen, nicht ständig zu wiederholten, sondern für eine Vielzahl von Fällen und - unter der Voraussetzung im wesentlichen gleichbleibender Verhältnisse - für eine längere Zeit zu verwerten sein; sie werden vielleicht sachgerechte Differenzierungen gestatten und Erfahrungsregeln zutage fördern.
Es besteht deshalb kein Anlaß, die Bemühungen in der angeführten Richtung vorzeitig abzubrechen. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Arbeiter nimmt immer mehr ab; eine wöchentliche Tätigkeitsdauer, die im Bereich der sogenannten Teilzeitarbeit liegt, ist nicht selten (dazu Bundesarbeitsblatt 1971, 669, 670). Die Berufsunfähigen gehen zu einem hohen Prozentsatz einer Erwerbstätigkeit nach und haben einen Teilzeitarbeitsplatz inne (aaO 671). Stellt man es auf den Bedarf ab, so wird für jedermann augenfällig, daß Dienstleistungen, vornehmlich im privaten Bereich, die zu einem großen Teil nicht "vollschichtig" erledigt zu werden pflegen, überhaupt nicht oder unnötigerweise und unter ungebührlichen Opfern von Vollzeitkräften oder nur "unter der Hand" gedeckt werden. Es liegt im Interesse des Gemeinwohls, daß die Verantwortlichkeiten zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung nicht zu Lasten der ersteren verschoben werden. Der letzteren fällt die Aufgabe zu, Hemmnisse und Vorurteile abzubauen, die in einer industrialisierten genormten Arbeitswelt der Beschäftigung von männlichen Teilzeitarbeitskräften vor allem in größeren Betrieben entgegenstehen. Daß die Unternehmungen in dieser Beziehung anpassungsfähig und zu organisatorischen Umstellungen bereitzufinden sind, hat sich in der Entwicklung der Teilzeitbeschäftigung von Frauen gezeigt. Teilzeitarbeitsgelegenheiten, die aber heute Frauen vorbehalten werden, könnten, soweit nicht natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern und die Arbeitsbedingungen entgegenstehen, durch eine intensive und werbende Arbeitsvermittlung auch Männern mit herabgesetzter Leistungsfähigkeit eröffnet werden. Man sollte sich jedenfalls hüten, das Gegenteil vorschnell zu unterstellen. Die Risikoabgrenzung zwischen der Arbeitslosigkeit einerseits und der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit andererseits ist um so mehr zu beachten, als die Zahl der aktiv Erwerbstätigen im Verhältnis zur Masse der Gesamtbevölkerung ständig schrumpft. Dafür ist nicht allein die ungünstige Bevölkerungsstruktur maßgebend. Hinzu kommen gegenwärtig und noch mehr in absehbarer Zukunft weitere Faktoren, wie längere Ausbildungszeiten, Vorverlegung der Ruhestandsgrenzen, höhere Lebenserwartungen.
Fundstellen