Leitsatz (amtlich)
Eine Versicherte hat eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit iS von AVG § 25 Abs 3 S 1 nF dann ausgeübt, wenn die Beschäftigung oder Tätigkeit in der Regel mit einer Verpflichtung zur Leistung von Beiträgen zur Rentenversicherung verbunden war. Diese Voraussetzung hat bei einem "Notdienstverhältnis ohne Beschäftigungsverhältnis" 2. DV 3. Notdienst V § 4 vom 1939-10-10, für das keine Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden sind, nicht vorgelegen.
Normenkette
AVG § 25 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1957-02-23; NotdienstVDV 2 § 4 Fassung: 1939-10-10; RVO § 1248 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Oktober 1959 und das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 29. Mai 1958 werden aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin erstrebt, und zwar für die Zeit vom 1. Januar 1957 an, die Gewährung des damals neu eingeführten vorzeitigen Altersruhegelds für weibliche Versicherte (§ 25 Abs. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - nF). Die Beteiligten streiten darüber, ob das dafür geforderte Tatbestandsmerkmal der "überwiegenden rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit in den letzten 20 Jahren" vorliegt oder nicht. Das Landessozialgericht (LSG) stellte in tatsächlicher Hinsicht folgendes fest:
Die Klägerin vollendete im September 1956 das 60. Lebensjahr. Sie entrichtete im Verlauf ihres Arbeitslebens mehr als 180 anrechnungsfähige Monatsbeiträge zur Rentenversicherung, davon 111 auf Grund der Versicherungspflicht seit August 1942. Von November 1939 bis Juli 1942 war sie zum langfristigen Notdienst ohne Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses herangezogen und im Bürodienst eingesetzt. Für die Zeit des Notdienstes wurden für sie keine Beiträge entrichtet. In den Jahren unmittelbar davor war die Klägerin nicht rentenversicherungspflichtig erwerbstätig und ist es auch seit 1951 nicht mehr. Den Antrag auf Altersruhegeld stellte sie Ende 1956.
Die Beklagte hält den Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld nicht für begründet, weil die Klägerin in den letzten 20 Jahren vor dem erstrebten Rentenbeginn, also in den Jahren 1937 bis 1956, nicht überwiegend eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt habe; dafür seien mindestens 121 Beitragsmonate auf Grund der Versicherungspflicht erforderlich, während tatsächlich in diesem Zeitraum nur 111 solcher Beitragsmonate lägen; die - beitragslose - Zeit des Notdienstes sei eine Ersatzzeit, aber keine Zeit einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung (Bescheid vom 18. November 1957). Die Vorinstanzen dagegen verpflichteten die Beklagte zur Rentengewährung vom 1. Januar 1957 an; sie stellten den von der Klägerin geleisteten Notdienst einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung gleich und kamen so für die Jahre 1937 bis 1956 zu über 120 Monaten einer solchen Beschäftigung (Urteil des LSG vom 12. Oktober 1959).
Das LSG ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das Berufungsurteil Revision ein und beantragte, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie begründete die Revision mit der Rüge, das LSG habe die Vorschriften im § 25 Abs. 3 AVG nF nicht richtig angewendet.
Die Klägerin beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Eine Versicherte, die das 60. Lebensjahr vollendet hat, kann Altersruhegeld erhalten, wenn sie eine Wartezeit von 180 Kalendermonaten erfüllt, in den letzten 20 Jahren überwiegend eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat und eine solche Beschäftigung oder Tätigkeit nicht mehr ausübt (§ 28 Abs. 3 AVG nF). Aus den vom Berufungsgericht ermittelten Tatsachen, an die das Revisionsgericht gebunden ist (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), hat das Gericht richtig gefolgert, daß die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits allein noch davon abhängt, ob der von der Klägerin geleistete Notdienst wie eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung behandelt werden kann. In Übereinstimmung mit der Beklagten muß das jedoch verneint werden.
Zur Erfüllung des umstrittenen Tatbestandsmerkmals genügt regelmäßig nicht die Ausübung einer Beschäftigung, die ihrer Art nach rentenversicherungspflichtig sein könnte. Der Wortlaut der Vorschrift allein ließe zwar eine solche Auslegung zu, jedoch erfordern der Sinn und Zweck der strittigen Anspruchsvoraussetzung, daß in der Regel eine Versicherungspflicht mit einer Verpflichtung zur Beitragsleistung tatsächlich bestanden haben muß. Ob es ausnahmsweise genügt, daß später, etwa durch eine zulässige Nachversicherung, rückwirkend eine Beitragszeit hergestellt wird, kann für die Entscheidung dieses Rechtsstreits dahingestellt bleiben, weil ein solcher Fall nicht zu beurteilen ist. Für diese Auslegung spricht überzeugend die Vorschrift im § 25 Abs. 3 Satz 2 AVG nF. Danach steht einer anrechenbaren versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit im Sinne von § 25 Abs. 3 Satz 1 AVG nF eine Beschäftigung oder Tätigkeit gleich, die nur wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze versicherungsfrei war, wenn und soweit die Versicherte während der Zeit der versicherungsfreien Beschäftigung oder Tätigkeit freiwillig Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet hat. Aus dieser Vorschrift wird deutlich, daß es nicht auf den Charakter der Beschäftigung ankommt, denn eine nur wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze versicherungsfreie Beschäftigung ist ihrem Wesen nach eine an sich rentenversicherungspflichtige Beschäftigung geblieben, sondern auf die Entrichtung von Beiträgen. Freiwillige Beiträge werden unter der im Gesetz genannten Voraussetzung Pflichtbeiträgen gleichgestellt; diese Gleichstellung erfolgt aus der Tatsache der Beitragsentrichtung, nicht aus der Ausübung einer Beschäftigung bestimmter Art. Daraus kann geschlossen werden, daß beitragsfreie Beschäftigungen, auch wenn sie im übrigen das Gepräge versicherungspflichtiger Beschäftigungen tragen, nicht angerechnet werden sollen.
Dieses Ergebnis wird noch durch die folgenden Erwägungen gestützt. Das AVG nF verwendet den Begriff der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit u.a. auch innerhalb der Regelung für die Ersatzzeiten (§ 28 Abs. 2 AVG nF) und Ausfallzeiten (§ 36 Abs. 1 AVG nF). Diese Zeiten werden angerechnet, wenn entweder eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit vorher vorgelegen hat oder nachher innerhalb einer bestimmten Frist aufgenommen worden ist. Beitragslose Zeiten, wie Ersatz- und Ausfallzeiten, wirken sich also nur vergünstigend aus, wenn sie in enger Verbindung zu Versicherungszeiten stehen. Versicherungszeiten in diesem Sinn müssen aber Beitragszeiten sein. Das ergibt sich aus der Wahrung des Versicherungsprinzips, das durch die Reformgesetzgebung 1957 in der Rentenversicherung weitgehend wiederhergestellt worden ist und das grundsätzlich Beiträge des Versicherten als Gegenwert künftiger Versicherungsleistungen verlangt. Diesem Prinzip liefe es zuwider, beitragslose Zeiten dann anzurechnen, wenn sie anderen Zeiten ohne Beitragsleistungen folgen oder vorangehen. Der Senat hat bereits früher entschieden, daß das Gesetz unter dem Verlangen, eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufzunehmen, eine Beschäftigung oder Tätigkeit versteht, durch die eine Verbindung zur Rentenversicherung hergestellt wird, aus der - sofort oder später - Pflichten zur Entrichtung von Beiträgen erwachsen (BSG 11, 274; vgl. auch Urteil des BSG vom 20.2.1962 - 1 RA 62/60). Im gleichen Sinn ist auch der Begriff der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit im § 25 Abs. 3 AVG nF auszulegen. Die vorgesehene Vergünstigung, nämlich die Gewährung eines vorzeitigen Altersruhegelds, soll nicht allen irgendwie berufstätig gewesenen weiblichen Versicherten zugute kommen, sondern solchen, die eine qualifizierte Beitragsleistung aufweisen. Die bloße Ausübung einer an sich versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit - ohne Berücksichtigung einer Beitragsfreiheit - genügt nicht.
Der von der Klägerin ohne Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses geleistete langfristige Notdienst war in der Rentenversicherung kraft ausdrücklicher Anordnung beitragsfrei (§ 7 der Notdienstverordnung vom 15. Oktober 1938 - RGBl I 1441 - in Verbindung mit § 4 der zweiten Durchführungsverordnung zur Notdienstverordnung vom 10. Oktober 1939 - RGBl I 2018 -); er war keine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit im Sinne von § 25 Abs. 3 AVG nF.
Der Notdienst der Klägerin darf auch - im Gegensatz zur Ansicht des LSG - nicht wie eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit behandelt werden. Die für die Notdienstpflichtigen ergangenen sozialversicherungsrechtlichen Regelungen bieten dafür keine Grundlage. Nach § 4 der zweiten Durchführungsverordnung vom 10. Oktober 1939 gelten für die Notdienstpflichtigen, die in einem Notdienstverhältnis ohne Beschäftigungsverhältnis gestanden haben, sinngemäß die für Soldaten während des Krieges in der Rentenversicherung erlassenen Vorschriften; die Notdienstpflichtigen blieben jedoch versicherungsfrei, wenn sie beim Eintritt in den Notdienst nicht rentenversicherungspflichtig waren. Es kann schon zweifelhaft sein, ob die rentenrechtlichen Vorschriften, die für Soldaten ergangen sind, überhaupt der Klägerin zugute kommen, weil diese vor dem Notdienst nicht rentenversicherungspflichtig war; aber selbst wenn die Vergünstigungen, die für Soldaten geschaffen sind, auch der Klägerin zustehen, so kann ihr die Notdienstzeit nur als Ersatzzeit, jedoch nicht als Versicherungszeit zur Erlangung des vorzeitigen Altersruhegelds angerechnet werden. Der Kriegsdienst der Soldaten und Wehrmachtsangehörigen bildet eine Ersatzzeit, die - sowohl nach früherem wie nach heutigem Recht - zur Erfüllung der versicherungstechnischen Voraussetzungen und zur Rentenerhöhung dient (Verordnung über die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten während des besonderen Einsatzes der Wehrmacht vom 13. Oktober 1939 - RGBl I 2030 -; §§ 26, 28, 35 AVG nF). Insoweit stehen Kriegsdienstzeiten Pflichtbeiträgen gleich. Dadurch werden Kriegsdienstzeiten aber nicht zu Zeiten rentenversicherungspflichtiger Beschäftigungen oder Tätigkeiten. Es gibt im Gesetz keinen Anhalt für eine derartige Fiktion. Dem Kriegsdienst kommt nur die Bedeutung zu, die der Natur einer Ersatzzeit entspricht: er ersetzt Pflichtbeiträge, erfüllt aber nicht das Tatbestandsmerkmal einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit. Die Anerkennung des Kriegsdienstes als Ersatzzeit wirkt sich also lediglich in dem genannten Umfang aus. Darüber hinaus gewährt das Gesetz in der Rentenversicherung für die Ableistung von Kriegsdienst keine Vergünstigungen. Der Kriegsdienst kann deshalb nicht einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit gleichgestellt werden und vermag nicht die in diesem Rechtsstreit umstrittene Anspruchsvoraussetzung zu erfüllen. Was aber der Kriegsdienst nicht vermag, kann auch über einen Notdienst nicht erreicht werden, weil die Vorschriften für den ersteren sinngemäß auch für den letzteren gelten.
Der Senat vertritt zwar die Auffassung, daß Verfolgungszeiten im Sinne des "Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung" vom 22. August 1949 den Zeiten einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit im Sinne von § 25 Abs. 3 AVG nF gleichstehen (BSG 13, 67). Darauf kann sich die Klägerin aber nicht zu ihren Gunsten berufen. In der genannten Entscheidung hat der Senat den Verfolgungszeiten, die im Gesetz zwar ebenfalls nur als Ersatzzeiten bezeichnet werden, eine größere Wirkung beigelegt, als es normalerweise dem Wesen von Ersatzzeiten zukommt. Das war deshalb möglich und geboten, weil das Verfolgten-Gesetz nicht ausschließlich der Sozialversicherung zugeordnet und allein aus ihrer Sicht beurteilt werden darf, sondern inhaltlich und ideenmäßig zu den Gesetzen gehört, die der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts dienen (BSG 10, 113). Die Verfolgten des Nationalsozialismus haben eine Sonderstellung erhalten, die ihnen eine völlige Wiedergutmachung zusichert. Für die früher Notdienstpflichtigen ist ein so weitgehender Schadensausgleich jedoch nicht vorgesehen. Es muß deshalb für sie in den Rentenversicherungen bei den Entschädigungen bleiben, die die Rentengesetze anordnen; dazu gehört der von der Klägerin verfolgte Anspruch nicht.
Der Ablehnungsbescheid der Beklagten ist also im Ergebnis richtig und muß wiederhergestellt werden (§§ 170 Abs. 2, 193 SGG).
Fundstellen