Leitsatz (amtlich)

Zur Bedeutung und Tragweite der Inländerbehandlungsklausel im Vtr USA Freundschaft/Handel vom 1954-10-29 in Bezug auf die Regelung über die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten nach den Vorschriften der EWG-V 3 vom 1958-09-25 und den AllgAbk Frankreich SozSich vom 1950-07-10.

 

Normenkette

EWGV 3 Art. 4 Abs. 1 Fassung: 1958-09-25, Art. 5 Fassung: 1958-09-25; EWGVtr Art. 234 Fassung: 1957-03-25; FreundschVtr USA Art. 4 Fassung: 1954-10-29; SozSichAbk FRA Art. 13 § 1 Fassung: 1950-07-10, § 3 Fassung: 1950-07-10

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 9. Juli 1971 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger ist 1900 in Polen geboren. Er war polnischer Staatsbürger und hat den Beruf eines Schäftesteppers erlernt. 1919 siedelte er nach Berlin über. Zwei Jahre lang war er abhängig beschäftigt; nachher war er selbständig tätig. 1938 floh er aus Verfolgungsgründen nach Frankreich. Während der deutschen Besetzung tauchte er dort unter. Von 1947 bis 1952 stand er in Frankreich in einem versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis. Dann wanderte er in die USA aus. 1958 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Nunmehr lebt er in Israel. Er ist Verfolgter des Nationalsozialismus (§ 1 des Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung - BEG -).

Seinen Antrag auf Bewilligung von Altersruhegeld lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 27. März 1969). Es fehle an der erforderlichen Mindestversicherungszeit von 180 Kalendermonaten. Zu berücksichtigen seien lediglich 153 Monate, nämlich 96 Wochen der versicherungspflichtigen Beschäftigung von 1919 bis 1921 und eine Ersatzzeit von 566 Wochen. Die in Frankreich verbrachte Versicherungszeit von 72 Monaten könne nicht gutgebracht werden. Hierfür schieden als Rechtsgrundlage insbesondere die Verordnungen Nrn 3 und 4 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-VO) aus; dies deshalb, weil der Kläger amerikanischer Staatsangehöriger sei und er auch nicht in einem Mitgliedstaat der EWG wohne.

Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben die Klage abgewiesen (Urteil des SG Speyer vom 17. März 1970; Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 9. Juli 1971). Auch ihres Erachtens steht einer Anrechnung der in Frankreich erworbenen Beitragszeiten (dazu Art. 27 EWG-VO Nr. 3) entgegen, daß der Kläger 1952 den Bereich der EWG verlassen und die amerikanische Staatsangehörigkeit erworben habe (Argument aus Art. 4 Abs. 1 EWG-VO Nr. 3). Ein anderes Ergebnis sei ferner nicht dem deutsch-französischen Vertragsrecht - vornehmlich der die Flüchtlinge betreffenden 3. Zusatzvereinbarung zum Abkommen vom 10. Juli 1950 (BGBl II 1951, 177) - zu entnehmen. Diese Bestimmungen sicherten Vorrechte nur Deutschen, Franzosen und Flüchtlingen zu, wenn und solange sie in einem Vertragsstaate lebten. Schließlich gewähre der Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag der Bundesrepublik Deutschland mit den Vereinigten Staaten von Amerika vom 29. Oktober 1954 (BGBl II 1956, 487) dem Kläger keinen Vorteil. Dies wäre nur in Verbindung mit einem innerstaatlichen Rechtssatz möglich, nicht aber, wie es der Kläger erstrebe, durch eine Bezugnahme auf das europäische Recht.

Der Kläger hat Revision eingelegt. Er beantragt, die angefochtenen Urteile aufzuheben und seiner Klage stattzugeben. Er meint, bei einer Anwendung der angeführten Vorschriften, wie sie die Beklagte und die Vorinstanzen für richtig hielten, werde auf seinen heutigen Wohnsitz und die gegenwärtige Staatsangehörigkeit und damit auf Umstände abgestellt, die auf die nationalsozialistische Verfolgung zurückzuführen seien. Von solchen Umständen dürfe aber seine Rentenberechtigung nicht beeinflußt werden.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision des Klägers hat Erfolg.

Der Kläger hat die Wartezeit für das Altersruhegeld erfüllt (§ 1248 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Für den Erwerb des Rentenanspruchs ist nicht nur auf den Bestand an Beitrags- und Ersatzzeiten in der deutschen Rentenversicherung - von 153 Kalendermonaten - zurückzugreifen, dafür sind vielmehr auch die 72 zur französischen Rentenversicherung aufgewendeten Monatsbeiträge zu verwerten (Art. 13 § 1, § 3 Abs. 1, 2 des Allgemeinen Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich über die soziale Sicherheit vom 10. Juli 1950). Auf die Bestimmungen dieses Abkommens (Abk.) ist für den Anspruch des Klägers abzuheben, sofern die Vorschriften der EWG-VO Nr. 3, die - von hier nicht erheblichen Ausnahmen abgesehen - an die Stelle des Abk. getreten sind (Art. 5 EWG-VO Nr. 3), es nicht mit Sicherheit erlauben, die Versicherungszeiten des Klägers in der deutschen Rentenversicherung mit den in Frankreich verbrachten Versicherungszeiten aufzufüllen. Es erscheint nämlich zweifelhaft - und kann dahingestellt bleiben -, ob das supranationale Recht diese Möglichkeit eröffnet. Die Art. 27 ff EWG-VO Nr. 3 über die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten in den Mitgliedstaaten der EWG sind in ihrem Anwendungsbereich auf die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten oder auf Staatenlose oder Flüchtlinge, die in einem Mitgliedstaat wohnen, beschränkt (Art. 4 Abs. 1 EWG-VO Nr. 3). Die Begrenzung des Personenkreises stimmt mit der Zielsetzung überein, die den einschlägigen europäischen Vorschriften durch Art. 51 des EWG-Vertrages (EWGV) gesetzt ist, nämlich die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft zu fördern (vgl. Urteil des EuGH vom 16. November 1972, Rechtssache Nr. 16/72). Als Amerikaner, der in Israel wohnt, hat der Kläger an den Rechtswohltaten des europäischen Gemeinschaftsrechts unmittelbar keinen Anteil, und wohl auch nicht mittelbar, wie noch auszuführen ist. Anders verhält es sich jedoch mit der durch das deutsch-französische Abk. eröffneten Summierung von Versicherungszeiten (Art. 13 § 1, § 3 Abs. 1, 2 ebd.). Auch nach dieser zwischenstaatlichen Vereinbarung genießen allerdings nur Franzosen und Deutsche die darin zugesagten Vorteile (Art. 1 § 1 und Art. 2 § 1 ebd.). Auf der Grundlage des deutsch-französischen Vertragswerks ergibt sich indessen für den Kläger eine Recht s lage, die sich nicht völlig mit derjenigen nach dem Recht der EWG deckt oder decken muß. Der Inhalt der bilateralen - deutsch-französischen - Übereinkunft ist durch das Zustimmungsgesetz vom 18. Oktober 1951 (BGBl II 177) insoweit in innerdeutsches Recht "transformiert" worden, als durch diese Abmachung nicht bloß Verpflichtungen der Staaten zueinander, sondern auch Rechte und Pflichten der einzelnen Staatsbürger erzeugt worden sind (vgl. Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar zu Art. 59 Rz. 25). Dieses zu "innerstaatlichem" Recht umgeformte zwischenstaatliche Vertragsrecht wirkt sich infolge des - in dem bereits erwähnten deutsch-amerikanischen Freundschaftsvertrag (Art. IV) enthaltenen - Gebots, Staatsangehörige der USA wie Inländer zu behandeln, zum Nutzen des Klägers aus. Dieser Wirkung steht nicht die Relativität zwischenstaatlicher Verträge entgegen. Freilich trifft ein völkerrechtlicher Vertrag grundsätzlich nur Regelungen im Verhältnis der beteiligten Vertragsstaaten zueinander. Ein weiteres Abk. des einen Vertragspartners mit einem Drittland darf den anderen Partner nicht belasten. Darum geht es aber nicht, wenn der deutsche Versicherungsträger im Ausland zurückgelegte Versicherungszeiten auch zu Gunsten der Angehörigen eines dritten Staates berücksichtigt. Davon geht der erkennende Senat im Anschluß an die Entscheidung des 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 8. März 1972 (BSG 34, 90, 92) aus. Das Resultat dieser Entscheidung wird zwar in der Vertragspraxis nicht immer für selbstverständlich gehalten (dazu zB. die Vorbehalte in dem Schlußprotokoll Nrn 12 und 13 zum Ersten Sozialversicherungsabk. mit Österreich - BGBl 1952 II, 323); diese Interpretation mag auch zu Komplikationen in der Rechtsanwendung führen, insbesondere dann, wenn Leistungen sich nicht nach der Aufteilung und Dauer von Versicherungszeiten richten (hierüber: Hannemann, Die AngVers 1972, 277). Andererseits läßt sich jedoch dieses Ergebnis aus der Umbildung zwischenstaatlichen Vertragsrechts in innerstaatliches Recht folgern.

Dieselbe Wirkung haben hingegen nicht ohne weiteres die Vorrechte, die den Angehörigen der Mitgliedstaaten durch die EWG-VO Nr. 3 eingeräumt worden sind. Die Inländerklausel im Vertrag mit den USA erstreckt sich nicht notwendig auf diese Rechtspositionen, weil das Gemeinschaftsrecht nicht mit dem staatlichen Recht des einzelnen Mitgliedstaats zu einer Einheit verschmilzt. Die Gemeinschaftsrechtsquellen gelten nicht für jeden Mitgliedstaat besonders, sondern einheitlich und gleichzeitig für und in der Gemeinschaft. Sie stellen eine von dem innerstaatlichen Recht gesonderte andersartige Rechtsmasse dar. Soweit Normen des Gemeinschaftsrechts Rechte und Pflichten des einzelnen Bürgers begründen, bedarf es zu ihrer unmittelbaren innerstaatlichen Anwendbarkeit keiner irgendwie gearteten nationalen Legislativakte (Art. 189 Abs. 2 EWGV; hierzu: Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht 1972, § 2 Rnrn 31, 32, 52 S. 63, 69). Aus diesem Grunde kann nicht als selbstverständlich angenommen werden, daß das Gemeinschaftsrecht als "in der Bundesrepublik Deutschland geltende Gesetzgebung" gilt und kraft zwischenstaatlicher Inländerklausel Vorteile auch an Bürger von Nichtmitgliedstaaten vermittelt (vgl. Rundschreiben des BMA vom 26. Oktober 1957, abgedruckt in Deutsche Sozialversicherungsabkommen mit ausländischen Staaten, Verlag der Ortskrankenkassen Bad Godesberg, XVI "USA", Anm. 2 zu Art. IV des Freundschaftsvertrags. Im Ergebnis ebenso: Wende, BArbBl 1958, 339, 345; ferner mit Hinweis auf Art. 234 Abs. 3 EWGV und einer aus völkerrechtlichen Erwägungen abgeleiteten Begründung: Peter Schütterle, Die Inländerbehandlungsklausel in den klassischen Handels- und Niederlassungsverträgen der Bundesrepublik Deutschland, Jur. Diss. Heidelberg 1970, 52 f, 54 f m. w. N.). Mithin gewinnen die Vergünstigungen, die auf der Basis der deutsch-französischen Übereinkunft beruhen, erhöhtes Gewicht. Diese Rechtspositionen bestehen im übrigen fort, obgleich ihre Grundlage - die zweistaatlichen Vereinbarungen - im wesentlichen durch die EWG-VO Nr. 3 abgelöst worden ist (Art. 5 aaO). Das Allgemeine Abk. mit Frankreich galt seit dem 1. Januar 1952 (BGBl 1952 II, 437). Die EWG-VO Nr. 3 ist am 1. Januar 1959 in Kraft getreten (Art. 56). Sie hat den Versicherungsbestand, der auf der Basis der älteren völkerrechtlichen Verträge geschaffen worden war, nicht beeinträchtigt; denn sonst würden Amerikaner eine Einbuße an Rechten und Anwartschaften erleiden, die nicht gleichzeitig auch die Inländer träfe. Das bedeutete einen Verstoß gegen die Inländerbehandlungsregel. Eine solche Absicht ist aber auch mit dem Inkrafttreten des europäischen Gemeinschaftsrechts nicht schlechthin verbunden gewesen. Vielmehr ist das Gegenteil, eine gewisse stabilisierende Tendenz in bezug auf das vorher geltende Recht, dem Art. 234 Abs. 1 EWGV zu entnehmen. (Dazu Ipsen, aaO § 7 Rdnr 34, S. 178 f.)

Die Rechtsstellung des Klägers ist aus Art. IV Nr. 2 des Freundschaftsvertrages mit den USA vom 29. Oktober 1954 herzuleiten. Die dort angeordnete "Inländerbehandlung" wird "hinsichtlich der Anwendung der im Gebiet des anderen Vertragsteils geltenden Gesetze und sonstigen Vorschriften über soziale Sicherheit gewährt, die ohne Nachprüfung der Bedürftigkeit Leistungen vorsehen" ua. bei Alter, Invalidität oder Berufsunfähigkeit. Ob und inwieweit der Begriff der "Inländerbehandlung" sich mit dem in sonstigen zwischenstaatlichen Sozialversicherungsabkommen oft anzutreffenden Gedanken der Gleichbehandlung von Staatsangehörigen der Vertragspartner völlig deckt, kann im vorliegenden Fall auf sich beruhen. Für die Rechtsverhältnisse, die von dem Abkommen mit den USA berührt werden, wird "Inländerbehandlung" in Art. XXV Abs. 1 des Vertrages näher erläutert als "die innerhalb des Gebietes eines Vertragsteils gewährte Behandlung, die nicht weniger günstig ist als diejenige, die dort unter gleichartigen Voraussetzungen den Staatsangehörigen ... dieses Vertragsteils gewährt wird". Daraus ist zu folgern, daß ein amerikanischer Staatsangehöriger, der in Deutschland wohnt, eine Leistung der deutschen Sozialversicherung ebenso verlangen kann wie ein Deutscher. Jedoch ist das Gebiet des Vertragspartners dem Inland nicht gleichgestellt. Wie bei Aufenthalt in den Vereinigten Staaten oder sonst im Ausland zu verfahren ist, geht aus der Erläuterung des Art. XXV nicht direkt hervor. Aber auch insoweit ist an den Begriff der "Inländerbehandlung" anzuknüpfen. Der Aufenthalt im Inland ist für den Genuß der in Betracht kommenden Berechtigung weniger ausschlaggebend als die Anwendung der hier im Inland geltenden Vorschriften (so auch der Text des Art. IV Nr. 2 des Freundschaftsvertrages mit den USA). Deshalb ist davon auszugehen, daß amerikanische Staatsangehörige bei Auslandsaufenthalt Leistungen unter den gleichen Voraussetzungen und in demselben Umfang wie ein Inländer, der sich im Ausland befindet, zu erhalten haben (dazu BT-Drucks. II/1843 S. 22; ebenso: BGH RzW 1963, 320, 322; BMA in dem bereits zitierten Rundschreiben; ferner Hentrich, BArbBl 1956, 512, 515). Hiernach sind dem Kläger die in Frankreich zurückgelegten Versicherungszeiten zur Erfüllung der Wartezeit und damit für die Begründung des Rentenanspruchs anzurechnen.

Die Höhe der Leistung, die der deutsche Rentenversicherungsträger zu erbringen hat, richtet sich nach dem Anteil der deutschen zur Gesamtversicherungszeit (Art. 13 § 3 des Allg. Abk. mit Frankreich). Ferner sind die Vorschriften über das Ruhen der Rente eines Deutschen bei Auslandsaufenthalt (§§ 1317 ff RVO) zu beachten. Die nach diesen Gesetzesbestimmungen erheblichen Tatsachen sind noch erst zu ermitteln. Damit dies geschehen kann, ist das Berufungsurteil, das von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, aufzuheben und der Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669559

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