Orientierungssatz
Das Revisionsgericht muß einen Beteiligten als prozeßfähig ansehen, solange seine Prozeßunfähigkeit nicht festgestellt ist.
Der unbedingte Revisionsgrund des ZPO § 551 Nr 5 gilt gemäß SGG § 202 auch im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit (vergleiche BSG 1956-07-26 2 RU 35/55 = BSGE 3, 185; BSG 1957-05-28 3 RJ 98/54 = BSGE 5, 176). In einem Fall des ZPO § 551 ist dem Revisionsgericht die Entscheidung über das Rechtsmittel iS des SGG § 170 Abs 1 S 2 versagt, dh, es ist der Nachprüfung des Revisionsgerichts entzogen, ob sich das Berufungsurteil trotz der wirksam geltend gemachten Gesetzesverletzung etwa aus anderen Gründen als richtig erweist (vergleiche BSG 1957-02-14 8 RV 691/55 = BSGE 4, 281, 288; BSG 1957-05-28 3 RJ 98/54 = BSGE 5, 176).
Normenkette
SGG § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 551 Nr. 5; SGG § 170 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. Juli 1961 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger verlangt Rente wegen eines am 1. Dezember 1939 erlittenen Arbeitsunfalls, der eine Quetschung des rechten Fußes zur Folge hatte. Er meldete seinen Anspruch im November 1955 bei der Beklagten an. Diese ließ den Kläger durch den Chirurgen Dr. M in Siegburg untersuchen, der neben geringen Unfallfolgen eine spastische Gangstörung feststellte und berichtete, der Kläger sei 1950 wegen Demenz und psychogener Gangstörung invalidisiert worden. Die Beklagte erteilte dem Kläger den Ablehnungsbescheid vom 7. August 1956 mit der Begründung, die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage nur 10 v. H., ferner habe der Kläger die Ausschlußfrist des § 1546 der Reichsversicherungsordnung (RVO) versäumt.
Die Niederschrift über die Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) am 2. Oktober 1957 enthält folgenden Vermerk:
"Bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage erhält der Kläger selbst Gelegenheit, Stellung zu nehmen. Dabei ergibt sich, daß er durchaus in der Lage ist, dem Vortrag zu folgen und die Sachlage zu erfassen. Bedenken bezüglich der Prozeßfähigkeit bestehen von Seiten des Gerichts nicht."
Das SG hat die Klage auf Grund des § 1546 RVO abgewiesen.
Im Berufungsverfahren hat einer der Anwälte, die nacheinander als Prozeßbevollmächtigte des Klägers auftraten, eine Äußerung der Rheinischen orthopädischen Landeskinderklinik Süchteln vom 30. September 1959 überreicht; darin hat der Oberarzt Dr. ... ausgeführt:
"Herr K stellte sich heute in unserer Ambulanz vor. Die Verständigung mit dem Patienten war etwas schwierig, da m. E. eine nicht ganz unerhebliche geistige Retardierung vorliegt."
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers auf Grund des § 145 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verworfen. Im Urteil vom 4. Juli 1961 ist die Prozeßfähigkeit des Klägers nicht geprüft worden.
In der nicht zugelassenen, form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Revision hat der Kläger ua gerügt, er sei in beiden Vorinstanzen sehr wahrscheinlich prozeßunfähig und nicht ordnungsgemäß vertreten gewesen. Er hat insoweit auf das Schreiben der Rheinischen orthopädischen Landeskinderklinik vom 30. September 1959 Bezug genommen.
Der Kläger beantragt Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz.
Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen.
Der Senat hat durch Einholung eines Gutachtens des Rheinischen Landeskrankenhauses Bonn Beweis darüber erhoben, ob der Kläger an einem seine freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit leidet, gegebenenfalls seit wann er sich in einem solchen Zustand befindet. In der abschließenden Zusammenfassung des Gutachtens vom 17. Februar 1964 hat der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Landesobermedizinalrat Dr. H folgendes ausgeführt:
"1. Nach dem Ergebnis einer ambulanten Untersuchung im hiesigen Krankenhaus am 17.1.1964 leidet Herr K. unter anderem an einer organischen Erkrankung des Zentralnervensystems mit spastischer Lähmung beider Beine, Lähmung der Harnblase und psychischen Störungen. Eine genaue diagnostische Beurteilung dieser Erkrankung ist nur durch eine Reihe von Ergänzungsuntersuchungen im Rahmen einer stationären Beobachtung möglich.
2. Unabhängig davon genügt das Ergebnis der ambulanten Untersuchung für die Feststellung, daß Herr K. an einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit leidet.
3. Dieser Zustand hat sehr wahrscheinlich schon am 30.9.1959 bestanden."
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die vom LSG nicht zugelassene Revision ist statthaft auf Grund des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, da der Kläger einen wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens zutreffend gerügt hat.
Der Umstand, daß der Kläger seine Prozeßfähigkeit bezweifelt, macht das Revisionsverfahren nicht unzulässig. Wie das Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung ausgesprochen hat (BSG 5, 176, 177; Urteile des erkennenden Senats vom 28. November 1961 - 2 RU 39/61 - und 30. November 1962 - 2 RU 220/60 -), ist ein Revisionskläger, welcher rügt, er sei im Verfahren vor dem Berufungsgericht wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit geschäftsunfähig und daher nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen (§ 551 Nr. 5 der Zivilprozeßordnung - ZPO -), im Revisionsverfahren insoweit als prozeßfähig zu behandeln, als über die Frage seiner Prozeßfähigkeit zu entscheiden ist. Das Revisionsgericht muß sonach einen Beteiligten als prozeßfähig ansehen, solange seine Prozeßunfähigkeit nicht festgestellt ist. Das hatte zur Folge, daß der mit der Revision gerügte Mangel der Prozeßfähigkeit des Klägers im Revisionsverfahren nachzuprüfen war.
Nach dem überzeugenden, überdies auch von der Beklagten unwidersprochen gebliebenen Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie beim Rheinischen Landeskrankenhaus in Bonn, Landesobermedizinalrat Dr. H, ist als erwiesen anzusehen, daß sich der Kläger seit dem 30. September 1959, also etwa von der Mitte des Berufungsverfahrens an, in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden, seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden hat. Der Kläger ist somit in diesem Zeitraum bis zum Erlaß des angefochtenen Urteils geschäftsunfähig und daher nicht imstande gewesen, sich durch Verträge zu verpflichten (§§ 104 ff BGB). Er ist demzufolge nach § 71 SGG prozeßunfähig und war deshalb schon im Berufungsverfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten. Die Revision ist somit statthaft.
Auf dem festgestellten Verfahrensmangel der fehlenden Prozeßfähigkeit des Klägers beruht das angefochtene Urteil ohne weiteres im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG. Der unbedingte Revisionsgrund des § 551 Nr. 5 ZPO gilt gemäß § 202 SGG auch im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit (BSG 3, 185; 5, 177). In einem Fall des § 551 ZPO ist dem Revisionsgericht die Entscheidung über das Rechtsmittel im Sinne des § 170 Abs. 1 Satz 2 SGG versagt, d. h., es ist der Nachprüfung des Revisionsgerichts entzogen, ob sich das Berufungsurteil trotz der wirksam geltend gemachten Gesetzesverletzung etwa aus anderen Gründen als richtig erweist (BSG 4, 281, 288; 5, 177). Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben werden.
Eine Entscheidung in der Sache selbst war dem Senat nicht möglich; die Sache war daher an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Dieses wird gemäß § 72 Abs. 1 SGG das Erforderliche zur Herbeiführung einer ordnungsgemäßen Vertretung des Klägers zu veranlassen haben. Darüber hinaus erscheint es geboten, die durch das Gutachten des Dr. H vom 17. Februar 1964 noch nicht abschließend beantwortete Frage der Prozeßfähigkeit des Klägers in der Zeit vor dem 30. September 1959 durch eine stationäre Beobachtung des Klägers und weitere geeignete Ermittlungen zu klären; hieraus könnten sich unter Umständen Folgerungen bezüglich der Zulässigkeit der Berufung (§ 150 Nr. 2 SGG) ergeben.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen