Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Rücknahme eines Bescheides, durch den die Rente eines unter die EWG-V 3 fallenden Versicherten zu hoch festgestellt worden ist.

 

Normenkette

EWGV 3 Art. 28 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1958-09-25, Buchst. b Fassung: 1958-09-25

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Juli 1967 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte eine erneute Anpassung nach dem 8. Rentenanpassungsgesetz vorzunehmen hat.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der am 12. März 1901 geborene Kläger hat einschließlich Ersatzzeiten 267 Monate in der deutschen knappschaftlichen Rentenversicherung und 32 Monate in der deutschen Rentenversicherung der Arbeiter zurückgelegt. Außerdem hat er während seiner Tätigkeit im niederländischen Bergbau vom 20. April 1927 bis 18. September 1944 203 Beitragsmonate in der niederländischen Sozialversicherung zurückgelegt. Die Beklagte gewährte ihm mit Bescheid vom 14. November 1961 die Gesamtleistung wegen Berufsunfähigkeit (BU) vom 1. November 1960 an und mit Bescheid vom 15. November 1961 das Knappschaftsruhegeld nach § 48 Abs. 1 Nr. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) vom 1. März 1961 an "unter Berücksichtigung der Bestimmungen des deutsch-niederländischen Sozialversicherungsabkommens". Der Leistungszuschlag ist nach den EWG-Verordnungen Nr. 3 und 4 berechnet worden. Der " Algemeen Mijnwerkersfonds" gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 9. Februar 1962 eine Alterspension vom 28. Oktober 1960 an. Mit Bescheid vom 7. Februar 1963 gewährte die "Sociale Verzekeringsbank " dem Kläger eine Rente nach dem Invaliditätsgesetz vom 1. Oktober 1960 an. Die Beklagte machte dem Kläger davon mit Schreiben vom 18. Juli 1963 Mitteilung und kündigte an, daß eine Umrechnung der deutschen Rente erforderlich sei. Mit Schreiben vom 6. Oktober 1964, mit dem sie dem Kläger den Bescheid des niederländischen Versicherungsträgers vom 7. Februar 1963 zuleitete, wies die Beklagte darauf hin, daß die bisherigen Bezüge bis zur Durchführung der Neuberechnung unverändert als widerrufliche Abschlagszahlung auf die neu festzustellende Leistung bezahlt würden. Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 30. August 1965 die gesamte Leistung wegen BU für die Zeit vom 1. November 1960 bis 28. Februar 1961 neu fest und errechnete dabei eine Überzahlung von 22,80 DM. Mit Bescheid vom 31. August 1965 stellte sie das Knappschaftsruhegeld vom 1. März 1961 an neu fest, und zwar niedriger als in dem Bescheid vom 15. November 1961. Sie errechnete für die Zeit vom 1. März 1961 bis zum 30. September 1965 eine Überzahlung von 4.267,80 DM, die sie an der von der Sociale Verzekeringsbank zur Auszahlung an den Kläger überwiesenen Rentennachzahlung in Höhe von 7.449,60 DM einbehielt, so daß von der Nachzahlung des niederländischen Versicherungsträgers abzüglich der im Bescheid vom 30. August 1965 festgestellten Überzahlung von 22,80 DM nur 3.159 DM an den Kläger zur Auszahlung kamen. Der Widerspruch des Klägers wurde am 25. Oktober 1965 zurückgewiesen.

Der Kläger hat am 2. November 1965 Klage bei dem Sozialgericht (SG) Gießen erhoben. Während des Klageverfahrens gewährte die Sociale Verzekeringsbank dem Kläger mit Bescheid vom 3. Februar 1966 die niederländische Alterspension vom 1. März 1966 an. Die Beklagte paßte das dem Kläger gewährte Knappschaftsruhegeld mit Bescheid vom 5. Mai 1966 nach dem 8. Rentenanpassungsgesetz (RAG) an.

Das SG hat mit Urteil vom 9. November 1966 die Bescheide der Beklagten vom 30. August 1965 und 31. August 1965 sowie den Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 1965 aufgehoben. Außerdem hat es mit Ergänzungsurteil vom 8. Februar 1967 den Bescheid der Beklagten vom 5. Mai 1966 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger vom 1. Januar 1966 an das Knappschaftsruhegeld ausgehend von den sich aus dem Bescheid vom 15. November 1961 ergebenden Berechnungsfaktoren unter Berücksichtigung der von dem Kläger bezogenen Unfallrente zu zahlen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 27. Juli 1967 zurückgewiesen. Es hat angenommen, die Berufung sei, soweit sie die Knappschaftsrente wegen BU betreffe, nach § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) unzulässig, weil sie Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betreffe. Im übrigen sei die Berufung unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 31. August 1965 sei nach § 77 SGG bindend geworden. Mit diesem Bescheid habe die Beklagte dem Kläger nicht einen widerruflichen Vorschuß gewährt, wie das nach Art. 34 Abs. 3 der EWG-Verordnung Nr. 3 möglich gewesen sei; vielmehr habe der Kläger nach dem Wortlaut und Inhalt des Bescheides den Eindruck gewinnen müssen, daß es sich um eine endgültige Rentenfeststellung handele, was offenbar auch von dem Sachbearbeiter der Beklagten zunächst angenommen worden sei. Eine Berichtigung des Bescheides in entsprechender Anwendung des § 138 SGG sei nicht möglich, weil Schreibfehler, Rechenfehler oder ähnliche offenbare Unrichtigkeiten nicht vorlägen. Wenn die Beklagte meine, sie habe den fehlenden Hinweis auf den Vorschußcharakter der Leistung mit ihren schreiben vom 18. Juli 1963, 6. Oktober 1964, 3. Mai 1965, 1. Juli 1965 und 19. Juli 1965 nachgeholt, so sei ihr auch insoweit nicht zu folgen, weil eine gesetzliche Grundlage für ein derartiges Verfahren nicht gegeben sei. Auch Art. 28 Abs. 1 Buchst. (g) der EWG-Verordnung Nr. 3 berechtige die Beklagte nicht zur Neufeststellung, denn der Kläger habe unter Berücksichtigung der deutschen und niederländischen Zeiten nach Art. 27 im gleichen Zeitpunkt die Voraussetzung sowohl nach deutschem als auch nach niederländischem Recht erfüllt. Der Einwand der Beklagten, sie sei außerstande gewesen, die von ihr zu zahlende Rente endgültig festzustellen, solange nicht die niederländischen Versicherungsträger ihrerseits die ihnen obliegenden Leistungen festgestellt hätten, sei unbeachtlich. Diesem Fall trage gerade Art. 34 Abs. 3 der EWG-Verordnung Nr. 4 Rechnung. Könne danach die Beklagte den Bescheid vom 15. November 1961 nicht ändern, so sei sie auch verpflichtet, bei der Anpassung des Knappschaftsruhegeldes nach dem 8. RAG von den Berechnungsfaktoren des Bescheides vom 15. November 1961 auszugehen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision trägt die Beklagte vor, die Feststellung des Knappschaftsruhegeldes sei zwar "unter Berücksichtigung der Bestimmungen des deutsch-niederländischen Sozialversicherungsabkommens" erfolgt; tatsächlich bildeten jedoch die Verordnungen Nr. 3 und 4 die Rechtsgrundlage für die Rentenfeststellung auf deutscher Seite. Im Zeitpunkt der Rentenfeststellung durch die Beklagte habe die Anspruchsberechtigung des Klägers gegen die niederländischen Versicherungsträger nicht festgestanden. Daher habe es auch nicht ausdrücklich der Kennzeichnung der jeweiligen deutschen Leistung als widerruflichen Vorschuß bedurft. Nach Feststellung der Leistungen aus der niederländischen Sozialversicherung sei auf Grund des Art. 28 Abs. 1 Buchst. (g) der Verordnung Nr. 3 eine Neufeststellung des von der Beklagten gewährten Knappschaftsruhegeldes erforderlich gewesen. Diesem Gesetzesauftrag stehe der § 77 SGG nicht entgegen, denn hier sei durch Gesetz ausdrücklich die Neufeststellung, also "etwas anderes" im Sinne des § 77 SGG zwingend vorgeschrieben. Die Einbehaltung des hierbei ermittelten überzahlten Betrages von der aufgelaufenen Rente des niederländischen Versicherungsträgers gründe sich auf Art. 84 Abs. 1 der EWG-Verordnung Nr. 4, der durch den Beschluß Nr. 44 der EWG-Verwaltungskommission vom 27. September 1963 noch erläutert worden sei. Art. 84 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4 sei Sonderrecht und gehe also dem § 93 Abs. 2 RKG vor.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vordergerichte aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit die Neufeststellung des Knappschaftsruhegeldes nach § 48 Abs. 1 Nr. 2 RKG durch den Bescheid der Beklagten vom 31. August 1965 streitig ist.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig.

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Nach dem Revisionsantrag ist nur noch darüber zu entscheiden, ob die Beklagte berechtigt war, das Knappschaftsruhegeld zuungunsten des Klägers neu festzustellen.

Das LSG hat diese Frage zu Recht verneint. Die Beklagte ist an ihren Bescheid vom 15. November 1961 gebunden.

Dem LSG ist darin zuzustimmen, daß der Bescheid vom 15. November 1961 die vorbehaltlose Feststellung des Ruhegeldes und nicht die Gewährung eines widerruflichen Vorschusses zum Inhalt hat. Daran haben die späteren Schreiben der Beklagten an den Kläger nichts geändert. In dem Schreiben vom 18. Juli 1963 hat die Beklagte zwar auf die Notwendigkeit der Neufeststellung hingewiesen, jedoch in keiner Weise zum Ausdruck gebracht, daß sie statt des festgestellten Knappschaftsruhegeldes einen widerruflichen Vorschuß zahlen wolle. Das ist zwar mit Schreiben vom 6. Oktober 1964 geschehen. Abgesehen davon, daß die Beklagte den Charakter der Leistung nicht rückwirkend ändern konnte, hat der Kläger diesen ohne Rechtsmittelbelehrung versehenen Änderungsbescheid innerhalb der Jahresfrist angefochten, so daß er nicht bindend geworden ist.

Eine Rücknahme des bindenden Bescheides vom 15. November 1961 ist nicht möglich. Dieser Bescheid ist nicht etwa nachträglich rechtswidrig geworden, sondern war von Anfang an rechtswidrig, weil er schon bei seinem Erlaß den gesetzlichen Vorschriften widersprach. Das von der Beklagten angewandte Verfahren, die Rente dem Grunde nach unter Berücksichtigung der deutschen und niederländischen Beiträge festzustellen und dennoch die Höhe dieser Rente allein nach deutschen Versicherungsbeiträgen zu berechnen, mag dem deutsch-niederländischen Sozialabkommen entsprochen haben; dieses war jedoch im Jahre 1961 nicht mehr anwendbar, da die EWG-Verordnung Nr. 3 bereits am 1. Oktober 1958 in Kraft getreten war. Da der Kläger nacheinander bwz. abwechselnd in Deutschland und in den Niederlanden Versicherungszeiten zurückgelegt hat, richtet sich die Frage, ob die Wartezeit erfüllt ist, nach Art. 27 Abs. 1 der EWG-Verordnung Nr. 3. Nach Art. 28 Abs. 1 Buchstabe a hat der Versicherungsträger festzustellen, ob unter Zusammenrechnung dieser Zeiten die Anspruchsvoraussetzungen gegeben sind. Zu Recht hat demgemäß die Beklagte festgestellt, daß die Wartezeit von 300 Beitragsmonaten unter Zusammenrechnung der deutschen und niederländischen Versicherungszeiten erfüllt und der Anspruch dem Grunde nach gegeben ist. Die Berechnung der Rentenhöhe muß nach Art. 28 Abs. 1 Buchst. b erfolgen, weil der Anspruch nach Buchst. a besteht. Die Beklagte hätte daher eine sog. "Zunächst-Rente" unter Berücksichtigung aller deutschen und niederländischen Beiträge nach deutschem Recht berechnen müssen. Diese "Zunächst-Rente" hätte dann nach dem Verhältnis der Dauer der deutschen Versicherungszeiten zur Gesamtdauer aller Versicherungszeiten-pro rata temporis - aufgegliedert und der auf die deutsche Rentenversicherung entfallende Teil festgestellt werden müssen. Die Beklagte ist jedoch nicht so verfahren, sondern hat die Höhe der Rente, wenn von dem Leistungszuschlag abgesehen wird, allein aus den deutschen Versicherungszeiten berechnet. Diese Berechnung widerspricht den Vorschriften der Art. 27 und 28 Abs. 1 Buchst. b der EWG-Verordnung Nr. 3. Die Beklagte hätte nur dann die Rente unter Berücksichtigung allein der deutschen Beiträge berechnen dürfen, wenn der Anspruch dem Grunde nach allein aus deutschen Versicherungszeiten gegeben gewesen wäre (vgl. dazu Entsch. d. EuGH Sammlg. d.Rspr.d.Ger.-Hofes Bd. XIII, 1967 S. 253; 279; 438). Das aber ist nicht der Fall, weil die niederländischen Versicherungszeiten erforderlich waren, um überhaupt die Wartezeit als erfüllt ansehen zu können.

Der Bescheid vom 15. November 1961 könnte nach § 77 SGG nur zurückgenommen werden, wenn dies gesetzlich vorgesehen wäre. Das ist jedoch nicht der Fall; die Voraussetzungen des § 1744 der Reichsversicherungsordnung (RVO), der nach deutschem Recht allein als Rücknahmevorschrift in Betracht kommt, liegen nicht vor. Da alle übrigen Alternativen dieser Vorschrift schon von vornherein ausscheiden, käme allein die der Nr. 6 in Betracht. Deren Voraussetzungen liegen aber ebenfalls nicht vor, weil der niederländische Rentenfeststellungsbescheid erst nach Erlaß des Bescheides vom 15. November 1961 ergangen ist, es sich also bei dem niederländischen Bescheid nicht um eine Urkunde handelt, die die Beklagte nachträglich, d.h. nach Erlaß dieses Bescheides, aufgefunden oder zu benutzen instandgesetzt worden ist. Eine solche Urkunde könnte nur dann vorliegen, wenn sie aus der Zeit vor dem Rentenfeststellungsbescheid vom 15. November 1961 stammen würde.

Das EWG-Recht sieht die Rücknahme eines rechtswidrigen Bescheids in Art. 28 Abs. 1 Buchst. g EWG-Verordnung Nr. 3 vor. Danach ist eine Neufeststellung in den Fällen des Art. 28 Abs. 1 Buchstaben e und f aaO statthaft. Buchst. e erfaßt allerdings nur solche Fälle, in welchen die Rente nach Art. 28 Abs. 1 Buchst. b, d.h. pro rata temporis, berechnet worden ist und Buchst. f nur solche Fälle, in denen die Voraussetzung einer Rente dem Grunde und der Höhe nach allein unter Berücksichtigung der nationalen Beiträge - hier der deutschen Beiträge - festgestellt worden ist. Hier liegt aber weder ein Fall des Buchst. e noch ein Fall des Buchst. f vor. Die Beklagte hat vielmehr die Rente dem Grunde nach unter Berücksichtigung der niederländischen und der deutschen Beiträge festgestellt, die Höhe der Rente aber allein aus deutschen Beiträgen berechnet. Für diesen Fall rechtswidriger Feststellung aber ist eine Rücknahmemöglichkeit in Art. 28 Abs. 1 Buchst. g nicht gegeben.

Die Rücknahme dieses rechtswidrigen Bescheids ist daher ausgeschlossen.

Die Revision war mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Rentenanpassung nach dem 8. RAG erneut vorzunehmen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669837

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