Leitsatz (amtlich)
Bei der Feststellung des Unterkunftsbedarfs als Teil des notwendigen Mindestbedarfs sind entsprechend RegelsatzV § 3 die tatsächlichen Aufwendungen für die Unterkunft anzusetzen; Einkünfte, die unmittelbar mit der Unterkunft zusammenhängen und dadurch die tatsächlichen Aufwendungen für die Unterkunft mindern (zB Einnahmen aus einer Untervermietung), sind zu berücksichtigen (Ergänzung von BSG 1975-06-25 4 RJ 209/74 = SozR 2200 § 1265 Nr 5).
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Alt. 1 Fassung: 1957-02-23; BSHG § 22 Fassung: 1969-09-18; RegSatzV § 3 Fassung: 1971-05-10
Tenor
Auf die Revision der Beigeladenen werden die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 4. März 1975 und des Sozialgerichts Hamburg vom 2. April 1974 aufgehoben.
Die Klage der Klägerin wird abgewiesen.
Die Klägerin hat der Beigeladenen deren außergerichtliche Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Im übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Gründe
Es ist umstritten, ob die Witwenrente der Klägerin zu kürzen ist, weil die Beigeladene Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes beanspruchen kann (§§ 1265, 1268 Abs. 4 Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die Ehe des Versicherten mit der Beigeladenen wurde 1955 aus überwiegendem Verschulden des Versicherten rechtskräftig geschieden. Im selben Jahr heiratete der Versicherte die Klägerin. Er ist am 6. Januar 1971 gestorben.
Der Versicherte bezog seit 1965 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und seit Februar 1970 das Altersruhegeld in Höhe von zuletzt 484,40 DM. Außerdem hatte er Bezüge aus der belgischen Rentenversicherung. Die Beigeladene erhielt seit Jahren Sozialhilfe und seit 1963 auch eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Der Versicherte zahlte ihr aufgrund eines Urteils von 1954 bis zu seinem Tod wöchentlich 13,- DM an Unterhalt.
Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 2. April 1971 Witwenrente in Höhe von monatlich 309,20 DM. Mit Bescheiden vom 8. April 1972 gewährte sie der Beigeladenen Hinterbliebenenrente in Höhe von 149,30 DM, änderte den Witwenrentenbescheid vom 2. April 1971 und setzte die Witwenrente der Klägerin auf monatlich 160,- DM herab (§§ 1265, 1268 Abs. 4 RVO).
Auf die Klage der Klägerin hat das Sozialgericht (SG) die Bescheide vom 8. April 1972 aufgehoben (Urteil vom 2. April 1974). Die Berufung der Beigeladenen, die im Ergebnis die Weitergewährung der Geschiedenenwitwenrente begehrt, wurde vom Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 4. März 1975). Das LSG hat einen Anspruch der Beigeladenen nach den drei Alternativen des § 1265 Satz 1 RVO verneint. Die Zahlungen des Versicherten an die Beigeladene seien zu gering, um einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente zu begründen. Unterhaltsleistungen müßten mindestens ein Viertel des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs der Beigeladenen zur Zeit des Todes des Versicherten ausmachen. Dieser Mindestbedarf habe 1971 monatlich 262,- DM betragen; er ergebe sich aus dem Regelsatz für Alleinstehende in Höhe von 160,- DM, dem Mehrbedarf von 48,- DM (§ 23 Bundessozialhilfegesetz - BSHG -) und einer Mietpauschale von 54,- DM - Miete von 79,- DM abzüglich 25,- DM - die die Beigeladene dafür erhalten habe, daß in einem Zimmer Möbel abgestellt gewesen seien. Ein Viertel dieses Mindestbedarfs habe monatlich 65,50 DM betragen. Der Versicherte habe aber nicht mehr als monatlich 56,30 DM (= wöchentlich 13,- DM) gezahlt.
Die Beigeladene hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben sowie das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 2. April 1974 abzuändern und die Klage der Klägerin abzuweisen.
Sie meint, der Mindestbedarf sei nur aus dem Regelsatz und der Mietpauschale zu errechnen. Ihr Mehrbedarf nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 BSHG von 48,- DM dürfe nicht mitgerechnet werden. Der Mindestbedarf betrage ein Viertel von 214,- DM (160,- DM + 54,- DM), d. i. 53,50 DM. Durch die Unterhaltsleistungen des Versicherten von wöchentlich 13,- DM werde dieser Betrag überschritten.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beigeladenen zurückzuweisen.
Sie macht geltend, der Mindestbedarf betrage 239,- DM. Es sei von der Höhe der Miete von monatlich 79,- DM auszugehen. Das LSG habe zu Unrecht die Einnahmen der Beigeladenen aus dem Abstellen von Möbeln in Höhe von monatlich 25,- DM von der Miete von 79,- DM abgezogen. Diese Einnahme sei bei der Feststellung des Mindestbedarfs nicht zu berücksichtigen, auch wenn sie die Bedürftigkeit der Beigeladenen mindere.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Beigeladenen zurückzuweisen.
Der Beigeladenen ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Revision zu gewähren; denn sie hat diese Prozeßhandlungen nach Bewilligung des Armenrechts rechtzeitig nachgeholt (§ 67 Abs. 2 Satz 1 und 3 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Revision der Beigeladenen ist zulässig und begründet. Sie hat Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 Satz 1 dritte Alternative, RVO; denn der Versicherte hat ihr im letzten Jahr vor seinem Tod Unterhalt geleistet. Der Betrag von wöchentlich 13,- DM = monatlich etwa 56,50 DM, den er ihr gezahlt hat, ist höher als 25 v. H. des notwendigen Mindestbedarfs.
Unter Berücksichtigung des Grundgedankens der Unterhaltsersatzfunktion der Hinterbliebenenrenten und ihrer Höhe, die nicht vom konkreten Unterhalt, sondern vom Versicherungsleben des Versicherten abhängt, sowie der Teilung der Hinterbliebenenrente zwischen der Witwe und der Geschiedenen wird in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) als Unterhalt im Sinn des § 1265 RVO nur ein Betrag angesehen, der ins Gewicht fällt. Dies ist der Fall, wenn der vom Versicherten gezahlte Betrag etwa 25 v. H. des Betrages ausmacht, der nach den zeitlichen und örtlichen Verhältnissen zur Deckung des notwendigen Mindestbedarfs benötigt wird (SozR Nr. 26, 49 zu § 1265 RVO). Dieser Mindestbedarf ist nicht nach den individuellen Verhältnissen und Bedürfnissen gerade des ansprucherhebenden Hinterbliebenen zu bestimmen, sondern allgemein unter Zugrundelegung der örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten zu ermitteln; denn die Hinterbliebenenrenten der gesetzlichen Rentenversicherung sind keine individuell bemessenen Leistungen, die von einer bestimmten Bedürftigkeit des Ansprucherhebenden abhängen. Der Mindestbedarf, der allein zur Bestreitung des notwendigen Lebensbedarfs zeitlich und örtlich als erforderlich angesehen wird, ist den Sozialhilfesätzen für Leistungen an Personen ohne zusätzliche individuelle Besonderheiten zu entnehmen. Er setzt sich aus den Regelsätzen und den Leistungen für Unterkunft zusammen. Der Mehrbedarf nach § 23 BSHG ist nicht zu berücksichtigen (§ 22 BSHG, §§ 1, 3 Regelsatzverordnung; vgl. das Urteil vom 25. Juni 1975 - 4 RJ 209/74 - SozR 2200 § 1265 Nr. 5).
Der so errechnete notwendige Mindestbedarf ist der Betrag, der zur Bestreitung des Lebensunterhalts als unbedingt erforderlich angesehen wird. An ihm wird bei der Prüfung der Voraussetzungen der dritten Alternative des § 1265 Satz 1 RVO gemessen, ob die Unterhaltsleistungen des Versicherten etwa 25 v. H. dieses Mindestbedarfs erreichen. Bei der Feststellung des Mindestbedarfs spielt es keine Rolle, welche Einkünfte der geschiedene Hinterbliebene hat und aus welchen Mitteln er seinen Lebensbedarf deckt. Diese Frage tritt bei der Prüfung der ersten Alternative des § 1265 Satz 1 RVO auf, wenn festzustellen ist, ob der geschiedene Hinterbliebene unterhaltsbedürftig war (§ 58 Ehegesetz - EheG -); dann sind zunächst die Mittel, aus denen er seinen Lebensunterhalt bestritten hat, zu berücksichtigen und erst, wenn sie nicht ausreichen, kann seine Unterhaltsbedürftigkeit bejaht werden. Diese Unterschiede sind bei der Prüfung der ersten und der dritten Alternative des Satzes 1 des § 1265 RVO auseinanderzuhalten.
Ohne Gesetzesverletzung hat das LSG bei der Feststellung des Mindestbedarfs als Unterkunftsbedarf den Betrag von 54,- DM angesetzt. Der Auffassung der Klägerin, es sei der Mietbetrag von 79,- DM dem Regelsatz hinzuzurechnen, kann nicht gefolgt werden. Zwar ist es richtig, daß Einkünfte des geschiedenen Hinterbliebenen von dem Betrag des Mindestbedarfs nicht abgezogen werden können. Im vorliegenden Fall ist die Sach- und Rechtslage jedoch anders. Während der zur Errechnung des Mindestbedarfs heranzuziehende Regelsatz ein örtlich und zeitlich fest bestimmter Betrag ist, ist der Unterkunftsbedarf, der zur Feststellung des Mindestbedarfs dem Regelsatz hinzuzurechnen ist, ein jeweils am Unterkunftsbedarf im Einzelfall orientierter Betrag. Dies ergibt sich aus der Regelsatzverordnung zum BSHG. § 3 der Regelsatzverordnung bestimmt, daß laufende Leistungen für die Unterkunft in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen gewährt werden; soweit die Aufwendungen für die Unterkunft den im Einzelfall angemessenen Umfang übersteigen, sind sie (Hinweis auf § 11 Abs. 1 BSHG) solange anzuerkennen, als es nicht möglich oder zuzumuten ist, die Aufwendungen durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise zu senken. Da nach der Rechtsprechung des BSG bei Anwendung der dritten Alternative des § 1265 Satz 1 RVO die Sozialhilfesätze heranzuziehen sind und der Unterkunftsbedarf im Sozialhilferecht konkret bestimmt wird, ist es folgerichtig, daß Einkünfte, die unmittelbar mit der Unterkunft zusammenhängen (z. B. bei Untervermietung) und wie hier für den Mieter wirtschaftlich eine Mietermäßigung bedeuten, bei der Feststellung des dem Regelsatz hinzuzurechnenden Unterkunftsbedarfs berücksichtigt und von der Nominalmiete abgezogen werden (vgl. auch das Urteil vom 20. Januar 1976 - 5 RJ 91/75). Das LSG hat demgemäß zu Recht nicht einen Unterkunftsbedarf von 79,- DM, sondern einen solchen von 54,- DM unter Berücksichtigung der Einnahme für das Abstellen von Möbeln in einem Zimmer angesetzt. Der notwendige Mindestbedarf beträgt somit 160,- DM + 54,- DM = 214,- DM. Die vom Versicherten geleisteten Zahlungen von monatlich etwa 56,50 DM überschreiten 25 v. H. des Mindestbedarfs von 53,50 DM.
Bei dieser Sach- und Rechtslage kam es auf die Ausführungen des LSG zur ersten und zweiten Alternative des Satzes 1 des § 1265 RVO nicht an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen