Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. Mai 1998 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt für die Zeit vom 1. April 1995 bis 30. Juni 1996 anteiliges Pflegegeld für Wochenend- und Ferientage, an denen er nicht – wie gewöhnlich – in einer Behinderteneinrichtung, sondern bei seiner Mutter gewohnt hat und von ihr gepflegt worden ist.
Der Kläger ist im Jahre 1967 geboren; er leidet an einer geistigen Behinderung, die sich auch in körperlichen und seelischen Unruhephasen äußert. Seit Oktober 1994 lebt der Kläger in einer Behinderteneinrichtung mit einem arbeitstherapeutischen Angebot von etwa fünf Stunden werktäglich; die Kosten werden von dem beigeladenen Sozialhilfeträger aufgebracht. Etwa jedes zweite Wochenende sowie etwa 42 Ferientage pro Jahr verbringt der Kläger bei seiner Mutter, die ihn dann auch pflegt; an den Wochenenden holt sie ihn jeweils am Freitagnachmittag ab und bringt ihn am Sonntagnachmittag oder -abend zurück.
Für die Zeit ab 1. April 1995 beantragte der Kläger anteiliges Pflegegeld für die bei seiner Mutter verbrachten Wochenend- und Ferientage. Durch Bescheid vom 31. Juli 1995 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Mit Schreiben vom 27. Oktober 1995 wiederholte der Kläger sein Begehren. Durch Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 1996 wurde dieses wiederum abgelehnt. Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 5. Dezember 1996). Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte durch Bescheid vom 23. Februar 1998 für die häusliche Pflege bei der Mutter anteiliges Pflegegeld der Pflegestufe II ab 1. Juli 1996 in Höhe von DM 240 (DM 800 durch 30 mal 9) monatlich bewilligt und dabei 102 Tage jährlich (gerundet neun Tage monatlich) Anwesenheit und Pflege bei der Mutter zugrunde gelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers – nach Vernehmung einer Mitarbeiterin der Behinderteneinrichtung als Zeugin – zurückgewiesen (Urteil vom 26. Mai 1998). Das LSG ist davon ausgegangen, daß der Bescheid vom 31. Juli 1995 bindend geworden, am 27. Oktober 1995 ein neuer Antrag gestellt und dieser durch den Bescheid vom 23. Januar 1996 abgelehnt worden ist; eines Vorverfahrens habe es wegen der eindeutig ablehnenden Haltung der Beklagten nicht bedurft. In der Sache erfüllten weder der Aufenthalt in der Behinderteneinrichtung noch derjenige bei der Mutter den Begriff der häuslichen Pflege. Das Heim sei kein Haushalt. Bei der Pflege durch die Mutter fehle es an der erforderlichen Intensität; sie ergänze nur die Heimpflege.
Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts, insbesondere sei er in seinem Anspruch auf Gleichbehandlung (Art 3 Grundgesetz) und auf möglichst weitgehende Verwirklichung seiner sozialen Rechte (§ 2 Abs 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch) verletzt. Nach § 2 Abs 1 und 2 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) sollten die Pflegebedürftigen ein selbstbestimmtes sowie möglichst selbständiges Leben führen und dazu zwischen verschiedenen Einrichtungen sowie Diensten wählen können. Daher müsse auch die Kombination von Pflege in einer Einrichtung der Behindertenhilfe und häuslicher Pflege (mit anteiligem Pflegegeld) möglich sein; dabei sei Haushalt iS von § 36 SGB XI auch derjenige seiner Mutter. Die häusliche Pflege entlaste die Behinderteneinrichtung, und zwar auch bei einer Pflegeleistung von weniger als 14 Stunden wöchentlich; diese Pflege sei nicht nur geringfügig, kurzfristig oder gelegentlich.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. Mai 1998 und des Sozialgerichts Aurich vom 5. Dezember 1996 sowie den Bescheid vom 31. Juli 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. Januar 1996 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm auch für die Zeit vom 1. April 1995 bis 30. Juni 1996 Pflegegeld nach Pflegestufe II zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet. Der Kläger hat auch für die Zeit vom 1. April 1995 bis 30. Juni 1996 Anspruch auf (anteiliges) Pflegegeld nach Pflegestufe II für die Pflege durch seine Mutter an Wochenend- und Ferientagen. Es fehlt aber noch an Feststellungen, an wievielen Tagen der Kläger in dem genannten Zeitraum bei seiner Mutter wohnte und von ihr gepflegt wurde.
1. Die Klage ist zulässig. Entgegen der Auffassung des LSG fehlt es nicht an dem nach § 78 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erforderlichen Vorverfahren. Zutreffend ist allerdings, daß zum Zeitpunkt des Schreibens des Klägers vom 27. Oktober 1995 der Bescheid vom 31. Juli 1995 bereits bindend geworden war. Das hinderte den Widerspruchsausschuß der Beklagten aber nicht, das Schreiben als Widerspruch auszulegen und trotz Verspätung sachlich zu bescheiden, womit auch für das Gericht eine Sachprüfung möglich geworden ist (vgl BSGE 49, 85, 87 = SozR 1500 § 84 Nr 3; BSG SozR 1500 § 87 Nr 5).
2. Die Klage ist auch begründet. Das von der Beklagten ab 1. Juli 1996 gewährte anteilige Pflegegeld stand dem Kläger auch schon vor der Gesetzesänderung zu. Nach § 36 Abs 1 Satz 1 SGB XI in der bis zum 24. Juni 1996 geltenden Fassung (aF) durch das Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG) vom 26. Mai 1994 (BGBl I, 1014) erhalten Pflegebedürftige, die in ihrem oder einem anderen Haushalt, in den sie aufgenommen worden sind, gepflegt werden, Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung als Sachleistung. Nach § 37 Abs 1 Satz 1 SGB XI aF können sie statt dessen ein Pflegegeld beantragen. Der Anspruch setzt nach Satz 2 voraus, daß der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld und dessen Umfang entsprechend die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson in geeigneter Weise selbst sicherstellt. Diese Voraussetzungen lagen beim Kläger vor: Der Kläger wurde an den – vom LSG anzahlmäßig noch zu ermittelnden – Tagen von seiner Mutter als Pflegeperson in geeigneter Weise sowie hinreichendem Umfang gepflegt und dazu in deren Haushalt aufgenommen. Dabei handelte es sich zwar nicht um den eigenen Haushalt des Klägers, wohl aber um einen anderen Haushalt iS von § 36 Abs 1 Satz 1 SGB XI aF. Dem steht nicht entgegen, daß der Kläger dort nur an einigen Tagen im Monat und während der Ferien gepflegt wurde. Der Kläger war im Haushalt der Mutter „aufgenommen”, weil er nicht jeweils nur für einige Tage zu Besuch weilte, sondern ein planmäßiger und regelmäßiger Wechsel des Aufenthalts zwischen Behindertenheim und Wohnung der Mutter stattfand, so daß der Kläger zwei gewöhnliche Aufenthaltsorte hatte. Wenn auch der Aufenthalt im Behindertenheim zeitlich überwog, kann die Aufenthaltsdauer bei der Mutter nicht als unerheblich außer Betracht gelassen werden. Die Beklagte hat für spätere Zeiträume 102 Tage jährlich errechnet, dh mehr als ein Viertel des Jahres. Im streitigen Zeitraum lagen die Verhältnisse grundsätzlich ebenso. Im Kindergeldrecht hat der 14. Senat des Bundessozialgerichts für den Begriff der Haushaltsaufnahme iS von § 2 Abs 1 Nr 1 Bundeskindergeldgesetz nur einen „nennenswerten Betreuungsaufwand” verlangt und dazu neben der Unterbringung in einem therapeutischen Heim eine Wochenend- und Ferienbetreuung bei der Pflegemutter ausreichen lassen (Urteil vom 19. November 1997, 14/10 RKg 18/96 – nicht veröffentlicht –). Dies muß auch hier genügen.
Der Auffassung des LSG, das ein höheres Maß an Pflege gefordert und dieses aus verschiedenen gesetzlichen Vorschriften abgeleitet hat, kann nicht gefolgt werden. Wenn § 14 Abs 1 SGB XI eine Pflegebedürftigkeit von mindestens sechs Monaten Dauer verlangt, so liegt diese Voraussetzung beim Kläger unzweifelhaft vor. Über eine erforderliche Mindestpflegezeit als Voraussetzung für Pflegegeld sagt dies nichts aus. Die vom LSG zitierte Stelle aus der Begründung des Regierungsentwurfs zum PflegeVG (BT-Drucks 12/5262), daß geringfügige, gelegentliche oder nur kurzfristige Hilfeleistungen außer Betracht bleiben, bezieht sich ebenfalls nur auf das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit, nicht auf das von einer Pflegeperson zu leistende Maß an Pflege. § 19 Satz 2 SGB XI idF des 1. SGB XI-ÄndG (BGBl I, 803) – nF – verlangt ein solches Mindestmaß lediglich für die soziale Absicherung der Pflegeperson nach § 44 SGB XI. Allerdings konnte aus der ursprünglichen Fassung von § 19 und § 37 Abs 1 Satz 2 SGB XI der Schluß gezogen werden, auch für den Anspruch auf Pflegegeld sei eine wöchentliche Pflege von mindestens 14 Stunden durch eine Pflegeperson erforderlich. Denn § 37 SGB XI aF verlangte die Sicherstellung der Pflege durch eine Pflegeperson, und § 19 SGB XI aF definierte als Pflegeperson eine Person, die nicht erwerbsmäßig einen Pflegebedürftigen im Sinne des § 14 SGB XI wenigstens 14 Stunden wöchentlich pflegt. Diese Schlußfolgerung konnte aber schon deshalb nicht zutreffen, weil nach § 15 SGB XI bereits 90 Minuten täglicher Pflege, wöchentlich also 10,5 Stunden, für die Pflegestufe I ausreichen, die einen Anspruch auf Pflegegeld begründet. Durch § 37 Abs 1 Satz 2 SGB XI nF hat der Gesetzgeber rückwirkend klargestellt, daß nicht eine Pflegeperson iS von § 19 SGB XI aF und insbesondere nicht die dort genannte Mindestpflege von 14 Stunden wöchentlich durch diese Pflegeperson verlangt werden sollte (Rehberg in Hauck/Wilde, SGB XI, Stand Februar 1999, K § 37 RdNr 5).
Wenn der Pflegebedürftige nach § 38 Satz 3 SGB XI sechs Monate an seine Wahl, in welchem Umfang er die Sachleistung oder das Pflegegeld in Anspruch nimmt, gebunden bleibt, ist daraus ebensowenig für die vorliegende Frage herzuleiten wie aus der Erforderlichkeit einer mindestens zwölf Monate durchgeführten Pflege für einen Anspruch auf Verhinderungspflege beim Ausfall der Pflegeperson (§ 39 Satz 2 SGB XI), wie das LSG gemeint hat.
Die Zahlung eines anteiligen Pflegegeldes ist grundsätzlich zulässig (vgl § 37 Abs 2, § 38 Satz 2, § 41 Abs 3 Satz 2 SGB XI). Lediglich bei vollstationärer Pflege ist daneben Pflegegeld seit dem 1. Juli 1996 nach § 43 Abs 1 Satz 1 SGB XI schon begrifflich ausgeschlossen, weil diese Pflegeform erst zulässig ist, „wenn häusliche oder teilstationäre Pflege nicht möglich ist oder wegen der Besonderheit des einzelnen Falles nicht in Betracht kommt”. Die Einführung der vollstationären Pflege zum 1. Juli 1996 ist für den vorliegenden Fall ohne Bedeutung. Hier handelt es sich nicht einmal um eine vollstationäre Einrichtung iS von § 43 Abs 1 Satz 1 SGB XI, sondern um eine Einrichtung, „in der die medizinische Vorsorge oder Rehabilitation, die berufliche oder soziale Eingliederung, die schulische Ausbildung oder die Erziehung Kranker oder Behinderter im Vordergrund des Zwecks der Einrichtung steht” (§ 71 Abs 4 SGB XI nF), die Pflege also nachrangig ist. Daraus, daß für die Pflege in derartigen Einrichtungen vor dem 1. Juli 1996 überhaupt keine Leistungen der Pflegeversicherung vorgesehen waren (vgl jetzt aber § 43a SGB XI nF), kann nicht gefolgert werden, daß auch für daneben erfolgende häusliche Pflege keine Leistungen zu erbringen waren. Für einen derartigen Leistungsausschluß gäbe es keinen einleuchtenden Grund, weil es sich um verschiedene Pflegeformen handelt, die sich nicht zeitlich überlagern, sondern trennen lassen.
3. Der Höhe nach steht dem Kläger pro Tag ein Pflegegeld von DM 800: 30 = DM 26, 66 zu. Die Berechnungsweise ergibt sich aus § 37 Abs 2 SGB XI. Das LSG hat allerdings die Anzahl der vom Kläger im streitbefangenen Zeitraum (1. April 1995 bis 30. Juni 1996) bei seiner Mutter verbrachten Wochenend- und Ferientage nicht festgestellt. Diese Anzahl kann nicht den Umständen des Falles entnommen werden; insbesondere bleibt unklar, an wievielen Wochenenden der Kläger bei seiner Mutter war, ob er jeweils zwei oder drei Tage dort war, ob in dem genannten Zeitraum nur eine oder zwei Ferienzeiten lagen und wieviel Tage eine Ferienzeit genau dauerte. Diese Feststellungen sind nachzuholen. Dabei ist ein Tag (ohne weitere Bruchteilbildung) dort zu zählen, wo er – unter Berücksichtigung der 12.00-Uhr-Grenze – überwiegend verbracht wurde.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen