Leitsatz (amtlich)
1. Die nach AVG § 68 Abs 2 wiederaufgelebte Witwenrente ist dem Unterhaltsanspruch der "Witwe" aus der zweiten Ehe gegenüber subsidiär.
2. Bei der Anrechnung des Unterhaltsanspruchs auf die wiederaufgelebte Witwenrente darf der Versicherungsträger eine Unterhaltsvereinbarung nicht beachten, wenn darin die Höhe des Unterhaltsanspruchs von der Höhe der wiederaufgelebten Witwenrente abhängig gemacht und damit die gesetzliche Rangfolge der beiden Ansprüche umgekehrt wurde. Der Versicherungsträger muß vielmehr den Unterhaltsanspruch in der ohne diese Umkehrung bestehenden Höhe anrechnen.
Normenkette
EheG § 58 Fassung: 1946-02-20, § 72 Fassung: 1946-02-20; AVG § 68 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1291 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 16. Juli 1961 wird aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 8. Juni 1960 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, in welcher Höhe der Klägerin eine nach § 68 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) wiederaufgelebte Witwenrente zu gewähren ist, wenn sie aus der zweiten Ehe einen Unterhaltsanspruch erworben und darüber einen Vergleich geschlossen hat.
Die Klägerin bezog seit 1950 Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes. Die Rente fiel mit ihrer Wiederverheiratung im Jahre 1952 weg. Die zweite Ehe der Klägerin mit dem Beigeladenen - B - wurde aus dessen Alleinschuld durch Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg am 5. September 1958 geschieden. Am Tage der Scheidung schlossen die Klägerin und der Beigeladene einen gerichtlichen Vergleich; hierin verpflichtete sich der Beigeladene u. a., an die Klägerin nach Rechtskraft der Scheidung einen Unterhaltsbetrag von 70,- DM, wie in dem Urteil des Landgerichts Hamburg vom 12. Juni 1958 bestimmt, zu zahlen (Ziff. 1); der Unterhaltsbetrag sollte sich vom Zeitpunkt der Bewilligung der von der Klägerin unverzüglich nach Rechtskraft des Urteils zu beantragenden Witwenrente an um denjenigen Betrag vermindern, um den ihr Gesamtrenteneinkommen zusammen mit der Unterhaltsleistung des Beigeladenen den Gesamtbetrag von 210,- DM übersteigen würde (Ziff. 2).
Die Klägerin bezieht seit 1955 eine Rente aus ihrer eigenen Angestelltenversicherung, sie beträgt vom 1. Januar 1957 an monatlich 92,70 DM. Auf ihren Antrag erkannte die Beklagte vom 1. September 1958 an den Anspruch auf die nach § 68 Abs. 2 AVG wiederaufgelebte Witwenrente an. Sie rechnete dabei auf den der Klägerin an sich zustehenden Rentenbetrag von 129,- DM monatlich den Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den Beigeladenen in Höhe von 70,- DM an, so daß an die Klägerin monatlich 59,- DM auszuzahlen waren (Bescheid vom 2.11.1959). Die Klägerin beansprucht demgegenüber die Auszahlung der vollen Witwenrente.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg wies die Klage ab (Urteil vom 8.6.1960). Auf die Berufung der Klägerin hob das Landessozialgericht (LSG) Hamburg das Urteil des SG auf. Es verurteilte die Beklagte, der Klägerin vom 1. September 1958 an die Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes in voller Höhe zu gewähren. Das LSG war der Auffassung, Ziff. 2 des Vergleichs vom 5. September 1958 sei nach § 72 des Ehegesetzes (EheG) gültig und dahin zu verstehen, daß die unter Ziff. 1 des Vergleichs festgelegte Unterhaltsverpflichtung des Beigeladenen sich nicht nur vermindern, sondern unter Umständen völlig wegfallen sollte, wenn das Gesamtrenteneinkommen der Klägerin für sich allein den Betrag von 210,- DM monatlich übersteigen würde. Die Beklagte habe den Anspruch auf Witwenrente rückwirkend vom 1. September 1958 ab anerkannt. Das Einkommen der Klägerin habe somit im Zeitpunkt der Scheidung insgesamt 221,70 DM betragen (129,- DM Witwenrente + 92,70 DM Ruhegeld). Dieses Einkommen habe den Betrag von 210,- DM überstiegen, so daß der Klägerin nach Rechtskraft der Scheidung kein Unterhaltsanspruch auf Grund des gerichtlichen Vergleichs zugestanden habe. Es könne deshalb auch kein Betrag angerechnet werden (Urteil vom 16.6.1961). Das LSG ließ die Revision zu.
Die Beklagte legte gegen das Urteil Revision ein mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Hamburg vom 8. Juni 1960 zurückzuweisen. Sie trug vor, § 68 Abs. 2 AVG sei unrichtig angewandt worden. Nach § 72 EheG stehe es geschiedenen Eheleuten frei, Unterhaltsvereinbarungen für die Zeit nach der Scheidung zu treffen. Eine solche Vereinbarung wirke aber nur zwischen den Parteien. Dritte würden davon nicht betroffen. Ein teilweiser Unterhaltsverzicht könne sich daher nicht zu Lasten des Versicherungsträgers auswirken. Die Vertragsfreiheit finde ihre Schranke in der Vorschrift des § 68 Abs. 2 AVG.
Die Klägerin und der Beigeladene beantragten, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Die gesetzliche Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten hat u. a. auch die Ansprüche der Witwen und der geschiedenen Ehefrauen bei Wiederheirat und bei Auflösung einer zweiten Ehe wesentlich geändert. Ihre Renten aus erster Ehe fallen zwar bei Wiederheirat, wie bisher, weg; aber sie werden nicht nur mit dem fünffachen statt bisher mit dem dreifachen Jahresbetrag der Rente abgefunden (§ 81 AVG), sondern der Anspruch auf die Rente nach dem ersten Ehemann lebt wieder auf, wenn die zweite Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der wiederverheirateten früheren Witwe aufgelöst oder für nichtig erklärt wird (§ 68 Abs. 2 AVG). Diese Vorschriften sollen den Entschluß zur Wiederheirat erleichtern, einmal durch die "Starthilfe" der Abfindung und zum zweiten dadurch, daß die Versorgung aus der zweiten Ehe nicht schlechter werden kann als die aus der ersten Ehe (vgl. Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, Drucks. Nr. 2437 zu §§ 1295, 1305 der Reichsversicherungsordnung - RVO -; BSG 14, 238; Jantz/Zweng, Anm. II 3 zu § 1291 RVO; Roßmann in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1959 S. 2). Ähnliche Vorschriften finden sich auch in anderen Gesetzen (§ 44 Abs. 5 des Bundesversorgungsgesetzes; § 164 des Bundesbeamtengesetzes - BBG - und § 23 des Bundesentschädigungsgesetzes).
Es ist nun umstritten, ob die wiederauflebende Rente bei der Ermittlung des Unterhaltsanspruchs gegen den zweiten Ehemann als eigenes Einkommen der geschiedenen Frau anzurechnen ist (vgl. Naber in Die Sozialversicherung 1959, 328; Barth in Die Sozialversicherung 1960, 137, 139; Engel in Die Sozialversicherung 1961, 325; Stötzner in Die Sozialgerichtsbarkeit 1962, 107; Heinze in Die Sozialgerichtsbarkeit 1962, 359; 1963, 7; Elsholz-Theile Nr. 75, Anm. 4 d zu §§ 1291 RVO, 68 AVG und 83 RKnG; ferner Herholz in Recht im Amt 1954, 345; 1955, 6). Das ist nach Ansicht des Senats nicht der Fall, weil sonst der Mindestversorgungsanspruch in der Höhe der Versorgung aus der ersten Ehe nicht mehr gewährleistet wäre. Denn die genannten Gesetze schreiben - wie auch § 68 Abs. 2 AVG - vor, daß Versorgungs- und Unterhaltsansprüche aus der zweiten Ehe auf die wiederauflebenden Renten und Versorgungsansprüche aus der ersten Ehe anzurechnen sind. Daraus ergibt sich, daß jene Ansprüche unabhängig von der wiederauflebenden Rente entstehen und bestehen. Es wäre nämlich mit dem Wortlaut und dem Sinn jener Vorschriften nicht vereinbar, wenn die wiederauflebende Witwenrente als "eigenes Einkommen" der geschiedenen Ehefrau ihren Unterhaltsanspruch gegen den zweiten Ehemann minderte und dann aber selbst wieder um den "anzurechnenden" rechtlichen Unterhaltsanspruch herabgesetzt würde. Damit wäre die Mindestversorgung in Höhe der Ansprüche aus der ersten Ehe beseitigt. Der Unterhaltsanspruch gegen den geschiedenen zweiten Ehemann ist also ohne Rücksicht auf die wiederauflebende Witwenrente festzusetzen; daraus ergibt sich eine Rangfolge der Ansprüche. Die wiederauflebende Witwenrente ist den Unterhaltsansprüchen aus der zweiten Ehe gegenüber subsidiär.
Die Unterhaltsansprüche gegen den geschiedenen Ehemann lassen sich vertraglich regeln (§ 72 EheG): Sie können höher, aber auch niedriger als der sich aus dem Gesetz ergebende Anspruch festgesetzt werden. Sie können sogar durch Verzicht auf Zeit oder auf Dauer ganz aufgehoben werden. Ob solche Verträge - soweit sie nicht etwa schon nach bürgerlichem Recht ungültig sind - Einfluß auf Bestand und Höhe der wiederauflebenden Renten - und Versorgungsansprüche aus der ersten Ehe - haben, ist in Literatur und Rechtsprechung umstritten (Palandt, Komm. zum BGB 20. Aufl. § 72 EheG Anm. 3; Plog-Wiedow, Komm. zum BBG § 164 Anm. 28; Tipke in FamRZ 1954, 188; Breiter/Hahn, FamRZ 1955, 279; Hampel in FamRZ 1960, 421; Lüdtke in NJW 1955, 211; Tannen in Die Sozialversicherung 1960, 140; LG Bonn in FamRZ 1953, 89; OLG Düsseldorf in FamRZ 1955, 293; LG Lüneburg in MDR 1956, 170; LG Bielefeld NJW 1958, 185; LG Dortmund in MDR 1958, 772). Der Umstand, daß der Unterhaltsanspruch auf die wiederauflebende Witwenrente anzurechnen ist, spricht zwar dafür, daß der zweite Ehemann durch das Wiederaufleben der Rente nach dem ersten nicht begünstigt und die Scheidung der zweiten Ehe dadurch nicht erleichtert werden soll. Daraus ließe sich schließen, daß eine Herabsetzung der aus der Auflösung der zweiten Ehe sich ergebenden Unterhaltsansprüche durch Verzicht oder Vertrag für das Wiederaufleben der Witwenrente nicht zu beachten ist. Die hiermit zusammenhängenden Fragen konnte der Senat aber offenlassen, jedenfalls soweit solche Abmachungen den Unterhaltsanspruch gegen den zweiten Ehemann ohne Rücksicht auf die Ansprüche aus der Versicherung des ersten Ehemannes regeln.
Wenn aber - wie hier unter Nr. 2 des Vergleichs - die Höhe des Unterhaltsanspruchs ausdrücklich auch von der Höhe der wiederauflebenden Witwenrente abhängig gemacht wird, also die oben gekennzeichnete gesetzliche Rangfolge insoweit in ihr Gegenteil verkehrt wird, dann kann und darf solche Vereinbarung vom Versicherungsträger nicht beachtet werden. Er muß vielmehr den Unterhaltsanspruch in der ohne diese Umkehrung bestehenden Höhe anrechnen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Vergleich zwischen den daran unmittelbar Beteiligten wirksam bleibt oder nicht.
Dagegen kann der Versicherungsträger die in Nr. 1 des Vergleichs unabhängig von der wiederauflebenden Witwenrente festgesetzte Höhe des Unterhaltsanspruchs der Anrechnung zugrunde legen, zumal diese in keinem erkennbaren Mißverhältnis zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der geschiedenen Eheleute zur Zeit der Scheidung steht, sondern durch streitiges Urteil festgesetzt worden ist. Der Versicherungsträger kann auch die Minderung des Unterhaltsanspruchs berücksichtigen, die nach Nr. 2 des Vergleichs durch eine entsprechende Erhöhung der eigenen Einkünfte der Klägerin - ohne die wiederauflebende Witwenrente - eintritt.
Hiernach erweist sich das angefochtene Urteil als rechtlich unzutreffend; es muß daher aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das im Ergebnis zutreffende Urteil des SG zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen