Entscheidungsstichwort (Thema)
Entziehung einer Dauerrente aus der Unfallversicherung wegen einer Änderung der Verhältnisse
Orientierungssatz
Der Versicherungsträger kann eine Unfalldauerrente gemäß RVO § 622 Abs 1 wegen einer Änderung der Verhältnisse entziehen, wenn er es aufgrund eines ärztlichen Gutachtens für erwiesen hält, daß sich der Unfallfolgenzustand - hier postcommotionelle Beschwerden - erheblich gebessert hat.
Normenkette
RVO § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 30.06.1961) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 03.11.1958) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 1961 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) erlitt der im Jahre 1902 geborene Kläger am 31. Oktober 1951 als Hauer unter Tage einen Arbeitsunfall mit Schädelbruch. Nach stationärer und ambulanter Behandlung arbeitet er wieder seit dem 21. Mai 1952 auf der Zeche als Tagesarbeiter. Die Beklagte gewährte ihm nach ärztlicher Begutachtung mit Bescheid vom 20. Oktober 1952 ab 21. Mai 1952 eine vorläufige Unfallteilrente von 20 %, wobei sie davon ausging, daß der Schädelbruch noch glaubhafte Beschwerden hinterlassen habe. Durch einen Vergleich vor dem Knappschafts-Oberversicherungsamt wurde diese Rente für die Zeit bis zum 30. November 1952 auf 30 % erhöht.
In seinem Gutachten vom 8. September 1953 führte Dr. Büning aus, daß Reiz- oder Ausfallerscheinungen von Seiten des zentralen und peripheren Nervensystems ebenso wie bei der früheren Untersuchung nicht nachweisbar und eine Hirnverletzung auch jetzt nicht anzunehmen sei. Mit Rücksicht auf die Schwere des Kopftraumas erschienen jedoch gewisse geklagte Beschwerden auch jetzt noch glaubhaft. Die Annahme einer Erwerbsverminderung von 20 % sei daher für die Dauer eines Jahres weiterhin gerechtfertigt. Mit Bescheid vom 20. November 1953 wurde nunmehr die bisher gewährte vorläufige Rente als Dauerrente festgestellt, wobei wegen der Abschätzung der unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf den Bescheid vom 20. Oktober 1952 verwiesen wurde.
Bei einer Nachuntersuchung durch Dr. S am 8. November 1956 klagte der Kläger nach wie vor über Kopfschmerzen und Schwindelgefühl. Wie bei allen früheren Untersuchungen konnte ein sicherer krankhafter neurologischer Befund nicht erhoben werden; auch eine ohrenfachärztliche Zusatzuntersuchung ergab - wie früher - keinen krankhaften Befund. Dr. D nahm an, daß der Zeitraum von fünf Jahren, die seit dem Unfall vergangen seien, auch bei einer recht erheblichen Gehirnerschütterung zur völligen Rückbildung der unfallabhängigen Beschwerden ausreiche, da es sich nicht um eine contusionelle Hirnschädigung handele. Hierin sei eine wesentliche Besserung zu erblicken. Eine wirtschaftlich meßbare MdE liege jetzt nicht mehr vor; eine Nachuntersuchung erübrige sich. Mit Bescheid vom 19. November 1956 entzog nunmehr die Beklagte dem Kläger die Rente mit Ablauf des Monats Dezember 1956 unter der Begründung, die unfallabhängigen Beschwerden hätten sich nach Ablauf von fünf Jahren nach dem Unfall völlig zurückgebildet.
Das Sozialgericht (SG) hob den Bescheid auf und verurteilte die Beklagte, die Dauerrente über den 31. Dezember 1956 hinaus weiterzuzahlen. Es hatte von Dr. R ein fachneurologisch-psychiatrisches Gutachten vom 4. Oktober 1957 eingeholt, in dem der Sachverständige feststellte, daß zur Entziehungszeit keine meßbare unfallbedingte MdE mehr bestand. Eine wesentliche Besserung erblickte er darin, daß nach allgemein-ärztlicher Erfahrung selbst nach einer schweren Gehirnerschütterung die Beschwerden zwei Jahre nach dem Unfallereignis abgeklungen seien; objektiv könne keine Besserung nachgewiesen werden. Das SG war der Ansicht, eine Besserung könne in diesem Fall nur im Sinne einer Gewöhnung und Anpassung an die Verletzungsfolgen in Frage kommen; eine solche sei aber nicht festzustellen, zumal der Kläger als früherer Hauer jetzt nur noch als Tagesarbeiter mit erheblich niedrigerem Lohn tätig sei.
Das LSG hat eine Auskunft der Zechenverwaltung über die Tätigkeit des Klägers eingeholt und den Oberarzt Dr. S als Sachverständigen gehört. Mit Urteil vom 20. Juni 1961 hat es das sozialgerichtliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Zwar habe, so führt es aus, der objektiv faßbare Unfallfolgezustand beim Kläger seit der ersten Dauerrentenfeststellung keine wesentliche Änderung mehr erfahren. Auch komme eine Überprüfung unter dem Gesichtspunkt der Anpassung und Gewöhnung hier nicht in Betracht, weil eine greifbare objektive Behinderung schon damals nicht vorgelegen habe. Der Senat sehe aber durch die übereinstimmenden ärztlichen Gutachten und Befunderhebungen als gesichert an, daß sich der Unfallfolgezustand seit der ersten Dauerrentenfeststellung durch Abklingen unfallbedingter Beschwerden derart gebessert habe, daß die Rentenentziehung ab 1. Januar 1957 gerechtfertigt sei. Die geringere Arbeitsfähigkeit des Klägers sei durch seine unfallunabhängigen Leiden sowie sein Alter hinreichend erklärt. Dr. S habe als Sachverständiger bestätigt, daß die Annahme einer unfallbedingten MdE von 20 % im November 1953 noch berechtigt gewesen sei, eine Fehlbewilligung also nicht vorgelegen habe.
Gegen das am 7. August 1961 zugestellte Urteil hat der Kläger am 1. September 1961 die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und am 6. September 1961 begründet. Er rügt Verletzung des § 608 der Reichsversicherungsordnung (RVO), insbesondere der Regelung über die objektive Beweislast bei der Rentenentziehung, sowie Fehler bei der Beweiswürdigung. Nach den Grundsätzen der "objektiven Beweislast" gehe ein "non liquet" bei der Rentenentziehung zu Lasten des Versicherungsträgers. Eine objektive Besserung sei aber nicht nachgewiesen. Der Nachweis könne nicht durch einen ärztlichen Erfahrungssatz, wonach die durch eine schwere Gehirnerschütterung verursachten Beschwerden innerhalb einer bestimmten Zeit abgeklungen sein müßten, erbracht werden. Einen solchen Erfahrungsatz gebe es nämlich gar nicht, weil sich die Folgen einer schweren Gehirnerschütterung individuell ganz verschieden auswirkten. Bei Anerkennung des Erfahrungssatzes hätte aber eine Dauerrente überhaupt nicht bewilligt werden dürfen, weil hiernach das Abklingen der Folgen bereits innerhalb von zwei Jahren erfolgt wäre. Anpassung und Gewöhnung, die nach der Rechtsprechung in solchen Fällen allein die Annahme einer wesentlichen Änderung rechtfertigen könnten, kämen hier nicht in Frage.
Der Kläger rügt ferner, daß das LSG die Auskunft seiner Arbeitgeberin nicht hinreichend gewürdigt und keine Auskunft über seine derzeitigen Verdienstverhältnisse eingeholt habe.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 3. November 1958 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält die Feststellung einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse des Klägers durch das LSG für hinreichend und einwandfrei gesichert, aber auch die Voraussetzungen für die Annahme einer solchen Änderung in Gestalt der Anpassung und Gewöhnung des Klägers an die Unfallfolgen für gegeben.
Beide Parteien sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Die Revision ist zulässig, sachlich jedoch nicht begründet.
Gemäß § 608 RVO aF (§ 622 Abs. 1 nF) kann der Versicherungsträger eine neue Feststellung treffen - darunter fällt auch die Rentenentziehung -, wenn in den für die Feststellung der Entschädigung maßgebend gewesenen Verhältnissen eine wesentliche Änderung eintritt. Das LSG hat die Verteilung der "objektiven Beweislast" bei Anwendung dieser Bestimmung keineswegs verkannt. Es ist nämlich nicht, wie der Kläger wohl meint, bei der Prüfung, ob eine wesentliche Besserung in den Unfallfolgen eingetreten ist, zu einem "non liquet" gelangt, sondern hat eindeutig festgestellt, daß sich der Unfallfolgezustand seit der ersten Dauerrentenfeststellung durch das Abklingen unfallbedingter Beschwerden gebessert hat. Daß es sich bei diesen sogenannten postcommotionellen Beschwerden - im wesentlichen Kopfschmerzen und Schwindelgefühle - um solche körperlichen Beeinträchtigungen des Verletzten handelt, die für andere, auch für den ärztlichen Gutachter, nicht sicher erkennbar oder gar meßbar sind, ändert nichts an ihrer unfallrechtlichen Bedeutung. Wie ihr Vorliegen den Versicherungsträger zur Entschädigung verpflichtet, so berechtigt ihn umgekehrt ihr nachträglicher Wegfall zur Entziehung dieser Entschädigung. Insoweit kann für sie sachlich nichts anderes gelten als etwa für die Abheilung von Knochenbrüchen.
Die Feststellung des LSG, daß zum Entziehungszeitpunkt die bei der Dauerrentenbewilligung noch vorliegenden postcommotionellen Beschwerden abgeklungen waren, ist auch frei von gerügten Verfahrensmängeln. Das LSG hat nicht, wie die Revision rügt, einen ärztlichen Erfahrungssatz generell wie einen Rechtssatz angewandt, sondern seine Feststellung auf ärztliche Gutachten gestützt, die speziell den Zustand des Klägers zu dem maßgeblichen Zeitpunkt würdigen. Jede ärztliche Begutachtung beruht letztlich auf Erfahrungssätzen der medizinischen Wissenschaft; anderenfalls würde es nicht der Anhörung eines medizinischen Sachverständigen bedürfen. Es ist nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht der auf ihr Fachwissen gestützten übereinstimmenden Beurteilung der ärztlichen Sachverständigen gefolgt ist, wonach zum Entziehungszeitpunkt keine unfallbedingten Beschwerden mehr vorlagen. Es konnte daraus aber auch bedenkenfrei auf eine wesentliche Besserung im Sinne von § 608 RVO aF schließen, nachdem der Sachverständige Dr. Steinbrecher im Falle des Klägers auf Grund der Vorbefunde und der Alterungsvorgänge eine längere Rückbildungszeit als üblich angenommen und daher für den Zeitpunkt der Dauerrentenbewilligung die damalige Beurteilung durch Dr. B bestätigt hatte.
Auch die Rüge, das LSG habe die Arbeitgeberauskunft vom 24. Oktober 1960 nicht gebührend gewürdigt, greift nicht durch. Gegenüber der ärztlichen Beurteilung, daß Unfallfolgen nicht mehr vorliegen, brauchte es dieser Auskunft, wonach der Kläger für schwere Arbeiten nicht mehr eingesetzt werden kann und eine Steigerung in seiner Leistungsfähigkeit oder eine Besserung in seinem Unfallfolgezustand nicht festgestellt wurde, keine entscheidende Bedeutung beizumessen. Abgesehen davon, daß die Weiterverrichtung leichterer Arbeit noch keineswegs den Schluß auf das Fortbestehen gesundheitlicher Schäden zuläßt, wird sie im vorliegenden Falle durch die inzwischen eingetretene Alterung des Klägers sowie die von den Sachverständigen festgestellten unfallunabhängigen Leiden hinreichend erklärt, worauf das LSG in dem angefochtenen Urteil auch hinweist. Unter diesem Gesichtspunkt erübrigten sich auch Ermittlungen über den Arbeitsverdienst des Klägers.
Die Revision war hiernach zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Das Gericht konnte gemäß den §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Fundstellen