Orientierungssatz
Bei der nach RVO § 608 aF erforderlichen Prüfung, ob in den für die Entschädigungsfeststellung maßgebend gewesenen Verhältnissen eine wesentliche Änderung eingetreten ist, kommt es darauf an, wie die Verhältnisse zur Zeit der Rentenbewilligung in Wirklichkeit - objektiv - gewesen sind. Aus diesem Grundsatz, von dem das LSG übereinstimmend mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vergleiche BSG 1963-03-01 2 RU 19/62 = SozR Nr 10 zu § 608 RVO aF; BSG 1962-10-30 2 RU 225/59 = BSGE 18, 84) ausgegangen ist, ergibt sich die Folgerung, daß die Voraussetzungen des RVO § 608 aF für eine Rentenentziehung nicht erfüllt sind, wenn sich die der Rentenbewilligung zugrunde liegende Diagnose später als irrtümlich oder die damalige Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit als überhöht erweisen; die aus solchen Umständen gewonnene Erkenntnis, daß die Rente seinerzeit überhaupt oder der Höhe nach zu Unrecht bewilligt worden war, bedeutet keine Änderung der Verhältnisse (vergleiche BSG 1957-10-03 5 RKn 28/56 = BSGE 6, 25; BSG 1958-07-17 5 RKn 34/57 = BSGE 7, 295; BSG 1958-11-21 5 RKn 30/57 = BSGE 8, 241; BSG 1959-06-11 11 RV 1188/57 = BSGE 10, 72; BSG 1963-02-21 1 RA 47/60 = SozR Nr 6 zu § 1286 RVO).
Normenkette
RVO § 608 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. März 1962 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der im Mai 1913 geborene Kläger hat zweimal ein Kopftrauma erlitten. Am 22. April 1945 trug er als Soldat durch Autounfall einen Schädelbruch davon und war sechs Tage bewußtlos. Er bezog deswegen eine Beschädigtenrente vom Versorgungsamt Dortmund, die zunächst nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v. H. bemessen, Mitte 1950 auf 50 v. H. erhöht und Anfang 1954 entzogen wurde; das Verfahren gegen den Entziehungsbescheid endete 1963 mit der Weitergewährung der Beschädigtenrente in Höhe von 40 v. H.
Seit 1947 war der Kläger bei der Post zunächst als Kraftfahrer, dann als Werkstattarbeiter in der Hauptwerkstatt für Postkraftwagen in Dortmund beschäftigt. Hier kam er am 22. Juni 1949 beim Transport mit einem Elektrokarren zu Fall, schlug mit der linken Kopfseite auf und war einige Minuten bewußtlos. Die Ärzte des Krankenhauses B. berichteten im November 1949, die vom Kläger noch angegebenen Kopfschmerzen seien sicherlich Folge des Schädelbruchs und kämen nicht von der am 22. Juni 1949 erlittenen, immerhin nur sehr leichten Gehirnerschütterung. Hierauf veranlaßte die Beklagte nichts. Erst als der Kläger am 19. September 1951 unter Hinweis auf seine ständigen starken Kopfschmerzen Unfallentschädigung beantragte, hörte die Beklagte den Nervenarzt Dr. C, Lengerich; dieser führte in seinem Gutachten vom 6. September 1951 aus, Beschwerden nach Gehirnerschütterung dauerten bei hirngesunden Menschen erfahrungsgemäß zwei bis drei Jahre, bei schon vorher Hirngeschädigten könnten die postcommotionellen Beschwerden aber wesentlich länger anhalten und durch die Folgezustände der ersten Hirnschädigung verstärkt werden. Beim Kläger, dessen im Krieg entstandene Hirnschädigung bereits eine MdE von 50 v. H. bedinge, habe die durch den Arbeitsunfall erlittene Gehirnerschütterung eine weitere MdE von 20 v. H. verursacht, so daß seine MdE mit insgesamt 60 v. H. zu bewerten sei.
Da mit allmählicher Besserung der postcommotionellen Beschwerden zu rechnen sei, empfehle sich eine erneute Untersuchung nach einem Jahr. Die Beklagte gewährte hierauf dem Kläger mit Bescheid vom 14. November 1951 eine Teilrente von 10 v. H. für die Zeit von der Anspruchsanmeldung (19. September 1951) an; als Folge des Arbeitsunfalls wurde im Bescheid die Verschlimmerung der auf die Wehrdienstbeschädigung zurückzuführenden Kopfbeschwerden anerkannt.
Mit der hiergegen eingelegten Berufung, die als Klage auf das Sozialgericht (SG) Dortmund überging, begehrte der Kläger Zuerkennung einer höheren Rente vom 1. Juli 1949 an. In der mündlichen Verhandlung am 3. Mai 1954 wurde ein Vergleich mit folgendem Wortlaut protokolliert:
"Der Vertreter der Beklagten erklärt sich bereit, dem Kläger eine Rente von 20 % ab 19.9.1951 zu zahlen. Er behält sich jedoch Widerruf dieses Vergleichsvorschlags innerhalb eines Monats vor. Der Vertreter des Klägers ist hiermit einverstanden und verzichtet auf Rentenansprüche für die Zeit vor dem 19.9.1951."
Die Beklagte teilte hierauf dem SG mit, sie stimme dem Vergleich dergestalt zu, daß dem Kläger ab 19. September 1951 eine Unfallrente von 20 v. H., statt bisher 10 v. H. gewährt werde, sofern er die Klage gegen den Bescheid vom 14. November 1951 zurücknehme. Die auf 20 v. H. erhöhte Dauerrente wurde sodann dem Kläger formlos angewiesen (Mitteilung vom 16. Juli 1954).
Anfang 1955 wurde der Kläger in der Universitäts-Nervenklinik M. einige Wochen lang beobachtet. In ihrem Gutachten vom 3. März 1955 meinten Dr. E und Dr. A, der Kläger habe beim Arbeitsunfall wahrscheinlich eine leichtere Gehirnerschütterung davongetragen; damit zusammenhängende Folgeerscheinungen ließen sich nicht mehr nachweisen, eine unfallbedingte MdE sei also nicht mehr anzunehmen; die noch bestehenden Beschwerden seien auf die Wehrdienstbeschädigung und andere unfallfremde Leiden zurückzuführen. Durch Bescheid vom 24. März 1955 entzog die Beklagte die Rente für die Zeit vom 1. Mai 1955 an.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das SG den Nervenarzt Dr. W, M., gutachtlich gehört, der den Kläger bereits Mitte 1950 in dessen Versorgungssache untersucht hatte und nunmehr auf Grund einer erneuten Untersuchung Anfang 1956 folgendes dargelegt hat: Trotz des geringen objektiven Befundes sei davon auszugehen, daß der Kläger am 22. April 1945 eine Hirnkontusion mit dauernden Folgen erlitten habe. Im Vergleich zur Untersuchung von 1950 sei jetzt keine wesentliche Befundänderung festzustellen. Die MdE wegen des Hirndauerschadens betrage - entgegen der im Entziehungsbescheid des Versorgungsamts vertretenen Auffassung - weiterhin 50 v. H. Allerdings sei es jetzt nicht mehr hinreichend wahrscheinlich, daß der Arbeitsunfall vom 22. Juni 1949 noch wesentliche Folgen hinterlassen habe; die durch diesen Unfall herbeigeführte zusätzliche Leistungsminderung sei zwar - im Hinblick auf den bereits vorher vorhandenen Hirndauerschaden - nicht wieder ausgeglichen, eine meßbare selbständige MdE für die Unfallfolgen sei aber nicht mehr anzuerkennen.
Das SG hat durch Urteil vom 11. März 1957 die Klage abgewiesen: Die zur Rentenentziehung berechtigende wesentliche Änderung der Verhältnisse sei darin zu erblicken, daß die 1951 von Dr. C angenommene vorübergehende Verschlimmerung der Wehrdienstbeschädigung durch postcommotionelle Beschwerden jetzt nicht mehr vorliege.
Im Verfahren über die Berufung des Klägers haben zunächst Prof. Dr. P und Dr. C von der Rheinischen Landesklinik für Hirnverletzte, B., im Januar 1958 gutachtlich ausgeführt, im neurologischen Befund ließen sich keine wesentlichen auf einen Hirndauerschaden hinweisenden Regelwidrigkeiten finden; beim Kläger handele es sich um eine Neurose auf konstitutionell neurasthenischer Grundlage; die Hirnerschütterung leichtesten Grades vom 22. Juni 1949 sei nicht ursächlich für die derzeitigen Beschwerden des Klägers; eine unfallbedingte MdE bestehe nicht. Dagegen hat der Nervenarzt Dr. S, Lengerich, über eine im Juni 1958 erfolgte stationäre Untersuchung des Klägers berichtet, es handele sich um Krankheitserscheinungen nach zweifachem Schädeltrauma. Schließlich haben Prof. Dr. L und Dr. R von der Städtischen Nervenklinik E. im Juni 1960 den Kläger untersucht. Sie haben sich dahin geäußert, der Arbeitsunfall habe ein bereits kontusionell geschädigtes Hirn betroffen; daher sei die Möglichkeit einzuräumen, daß die neu hinzugetretene leichte Gehirnerschütterung beim Kläger zu heftigeren und länger anhaltenden Beschwerden geführt habe, als es bei einem Hirngesunden der Fall gewesen wäre. Eine Rentengewährung über den Ablauf von zwei Jahren hinaus erscheine jedoch auch beim Kläger nicht gerechtfertigt. Die jetzt noch vom Kläger vorgetragenen Beschwerden seien teils auf die im Krieg erlittene Hirnkontusion, teils auf einen erheblichen Medikamentenmißbrauch zurückzuführen. Eine Änderung gegenüber dem von Dr. C im September 1951 erhobenen Befund sei zwar nicht festzustellen; vermutlich habe aber die leichte Gehirnerschütterung vom 22. Juni 1949 schon im Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. C keine meßbare MdE mehr verursachen können. Zur Zeit der Rentenentziehung im Mai 1955 und jetzt sei keine unfallbedingte MdE anzunehmen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 20. März 1962 unter Änderung der SG-Entscheidung den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger über den 30. April 1955 hinaus eine Unfallrente nach einer MdE von 20 v. H. zu zahlen: Für die nach § 608 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF erforderliche Prüfung, ob in den für die Entschädigungsfeststellung maßgebend gewesenen Verhältnissen eine wesentliche Änderung eingetreten sei, komme es auf die dem Abschluß des gerichtlichen Vergleichs am 3. Mai 1954 zugrunde liegenden Verhältnisses an, und zwar auf die in Wirklichkeit (objektiv) gegebenen Verhältnisse, nicht hingegen darauf, was subjektiv für die Beklagte bei der damaligen Feststellung der Dauerrente maßgebend gewesen sei (BSG 7, 8, 12). Entgegen der Ansicht der Beklagten sei daher nicht von dem Gutachten des Nervenarztes Dr. C vom 6. September 1951 auszugehen, vielmehr sei zu prüfen, ob am 3. Mai 1954 die objektive Sachlage beim Kläger noch eine unfallbedingte MdE von 20 v. H. gerechtfertigt habe. Dies sei zu verneinen. Dr. C habe zwar 1951 noch eine MdE von 20 v. H. als angemessen erachtet, gleichzeitig aber - trotz der von ihm angenommenen langsamen Rückbildung der Unfallfolgen - auf die Notwendigkeit einer Nachuntersuchung in spätestens einem Jahr hingewiesen. Die späteren Gutachten, insbesondere dasjenige des Prof. Dr. L, ergäben jedoch, daß schon im Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. C eine unfallbedingte MdE nicht mehr bestanden habe. Selbst wenn man aber, entgegen Prof. Dr. L, mit Dr. C noch für eine gewisse Zeit nach September 1951 eine unfallbedingte MdE annehme, so habe eine solche doch niemals bis zum Vergleichsabschluß bestanden. Alle Sachverständigen - auch Prof. Dr. J und Dr. K, deren Gutachten vom 23. Oktober 1953 der Entziehung der Beschädigtenrente zugrunde lag - stimmten darin überein, daß es sich bei dem Arbeitsunfall nur um eine leichte Gehirnerschütterung mit vorübergehender Verschlimmerung der Folgen der Kriegsdienstbeschädigung gehandelt habe. Damit sei erwiesen, daß - gleichgültig ob bereits 1951 oder erst 1953 der Unfallfolgenzustand behoben war - zumindest im Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses objektiv keine Unfallfolgen mehr vorlagen. Dessen habe sich auch die Beklagte bewußt sein müssen und sie sei sich auch - wie aus dem Bericht vom 8. Mai 1954 ihres Terminbevollmächtigten hervorgehe - klar darüber gewesen. Die 1955 in der Universitäts-Nervenklinik M. vorgenommene Untersuchung sei somit nichts weiter als die verspätete, schon vor Jahren erforderlich gewesene Überprüfung der unfallbedingten MdE; zur Frage der wesentlichen Änderung nehme dieses Gutachten keine Stellung; da es eine meßbare MdE für die Unfallfolgen verneine, bestätige dieses Gutachten nur die von den Sachverständigen Prof. Dr. J, Prof. Dr. P und Prof. Dr. L vertretenen Auffassungen. Da hiernach die Beklagte wegen des Fehlens einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen nach dem 3. Mai 1954 eine Neufeststellung gemäß § 608 RVO aF nicht treffen durfte, sei ihr Entziehungsbescheid rechtswidrig.
Der Entziehungsbescheid könne auch nicht deswegen Bestand haben, weil die Bewilligung der Rente von Anfang an fehlerhaft gewesen sei. Eine Aufhebung fehlerhafter Verwaltungsakte nach Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts sei in der Unfallversicherung nicht zulässig (BSG 14, 10); außerdem handele es sich hier um einen gerichtlichen Vergleich, über dessen Wirksamkeit nicht der Versicherungsträger, sondern allein das Gericht entscheiden dürfe (BSG 7, 279). Ob der Vergleich vom 3. Mai 1954 wirksam oder unwirksam sei, könne überdies nicht im anhängigen Rechtsstreit, sondern nur in dem alten, durch den Vergleich abgeschlossenen Verfahren entschieden werden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 17. Mai 1962 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 1. und 6. Juni 1962 Revision eingelegt und sie innerhalb der bis zum 17. August 1962 verlängerten Frist wie folgt begründet: Das LSG habe die Grenzen seines Beweiswürdigungsrechts überschritten, indem es aus dem neun Jahre später erstatteten Gutachten des Prof. Dr. L folgere, bereits 1951 hätten - entgegen den sorgfältigen und genau belegten Angaben des Sachverständigen Dr. C - gar keine Folgen des Arbeitsunfalls mehr vorgelegen; kein Gutachter könne neun Jahre später rückschauend eine solche Feststellung treffen.
Das LSG habe den Umfang der Bindungswirkung, die dem umstrittenen Vergleich vom 3. Mai 1954 zukomme, verkannt. Da in dem Wortlaut des Vergleichs irgendwelche Unfallfolgen nicht aufgeführt waren, sei mit dem Urteil des 5. BSG-Senats vom 21. November 1958 (SozR RVO § 1585 Nr. 5) anzunehmen, daß dieser Vergleich nicht geeignet gewesen sei, Bindungswirkungen herbeizuführen. Einen Bescheid des Rentenausschusses zur Ausführung des Vergleichs habe der Kläger nicht erhalten, sondern nur die formlose Mitteilung vom 16. Juli 1954, so daß für die Anwendung des § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kein Raum sei. Beim Zustandekommen der am 3. Mai 1954 protokollierten Erklärungen sei zu bedenken, daß die Streitsache damals schon fast drei Jahre anhängig und das SG wohl bestrebt gewesen sei, unter Vermeidung weiterer Beweiserhebung die Sache zu erledigen, wobei dem Kläger durch Zubilligung einer höheren Rente zunächst geholfen, andererseits aber der Beklagten die Möglichkeit eröffnet werden sollte, diese erhöhte Rente baldigst durch erneute ärztliche Untersuchung richtigzustellen, das Vorgehen des SG komme also praktisch dem Erlaß einer einstweiligen Verfügung gleich.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Dortmund vom 11. März 1957 zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt Zurückweisung der Revision. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist darauf hin, daß der wirksame Vergleich vom 3. Mai 1954 nicht durch Umstände beeinflußt worden sei, die der Kläger zu vertreten habe.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist statthaft und zulässig. Sie hatte auch Erfolg.
Bei der nach § 608 RVO aF erforderlichen Prüfung, ob in den für die Entschädigungsfeststellung maßgebend gewesenen Verhältnissen eine wesentliche Änderung eingetreten ist, kommt es darauf an, wie die Verhältnisse zur Zeit der Rentenbewilligung in Wirklichkeit - objektiv - gewesen sind. Aus diesem Grundsatz, von dem das LSG übereinstimmend mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. SozR RVO § 608 aF Nr. 10; BSG 18, 84) ausgegangen ist, ergibt sich die Folgerung, daß die Voraussetzungen des § 608 RVO aF für eine Rentenentziehung nicht erfüllt sind, wenn sich die der Rentenbewilligung zugrunde liegende Diagnose später als irrtümlich oder die damalige Bewertung der MdE als überhöht erweisen; die aus solchen Umständen gewonnene Erkenntnis, daß die Rente seinerzeit überhaupt oder der Höhe nach zu Unrecht bewilligt worden war, bedeutet keine Änderung der Verhältnisse (vgl. BSG 6, 25; 7, 295; 8, 241; 10, 72; SozR RVO § 1286 Nr. 6).
Unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt hat das LSG angenommen, die Beklagte könne ihren Entziehungsbescheid vom 24. März 1955 nicht auf § 608 RVO aF stützen, weil die hierfür erforderliche wesentliche Änderung der Verhältnisse nicht nachweisbar sei; bereits im Mai 1954 habe nämlich beim Kläger eine durch den Arbeitsunfall verursachte MdE von 20 v. H., welche die Rentenbewilligung durch den Vergleich vom 3. Mai 1954 gerechtfertigt hätte, objektiv nicht mehr vorgelegen. Dieser Auffassung vermag der erkennende Senat nicht beizupflichten. Dabei kann offenbleiben, ob die Angriffe der Revision gegen die Beweiswürdigung des LSG hinsichtlich der rückschauend zu beurteilenden unfallbedingten MdE auch insoweit begründet sind, als es sich um den vom LSG als maßgebend erachteten Zeitpunkt des 3. Mai 1954 handelt. Dieser Zeitpunkt durfte nämlich bei der nach § 608 RVO aF anzustellenden Prüfung, wie sich die "Verhältnisse" bezüglich der unfallbedingten MdE des Klägers entwickelt hatten, gar nicht berücksichtigt werden, weil der am 3. Mai 1954 von den Beteiligten vor dem SG vereinbarte Vergleich über die Gewährung einer Rente von 20 v. H. keinen hinreichenden Aufschluß darüber gibt, welche Verhältnisse in jenem Zeitpunkt für die Feststellung der Entschädigung maßgebend gewesen sind. Nach Meinung des Senats kommt es aber - von den Sonderfällen des Verlustes der für die frühere Rentenbewilligung maßgebenden Unterlagen abgesehen (vgl. insoweit BSG 7, 295; SozR RVO § 608 aF Nr. 10) - bei der Anwendung des § 608 RVO aF darauf an, ob die frühere Entschädigungsfeststellung, die für eine Änderung der Verhältnisse den Ausgangspunkt bildet, erkennen läßt, welche Unfallfolgen damals für die Zuerkennung und Bemessung der Rente als maßgeblich angesehen worden sind; die in dieser Vorschrift verwirklichte Bindungswirkung bedarf einer konkreten Grundlage. Mit Recht verweist die Revision in diesem Zusammenhang auf das Urteil des BSG vom 21. November 1958 (SozR RVO § 1585 Nr. 5), dessen Erwägungen nach Ansicht des erkennenden Senats auch zur Entscheidung der hier vorliegenden Frage heranzuziehen sind, ob der gerichtliche Vergleich überhaupt für die Anwendung des § 608 RVO aF in Betracht kommt. Dem Wortlaut der Sitzungsniederschrift vom 3. Mai 1954, den Akten des SG über den damaligen Rechtsstreit und schließlich auch dem Schreiben vom 16. Juli 1954, mit dem die Beklagte die Ausführung des Vergleichs dem Kläger mitteilte, sind keinerlei Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, welchen medizinischen Befund der Unfallfolgen die Beteiligten der damaligen Rentenbewilligung zugrunde legen wollten. Es mangelte somit dem Vergleich an der erforderlichen Konkretisierung der für die Rentenbewilligung maßgebenden Verhältnisse, so daß er nicht geeignet war, eine im Rahmen des § 608 RVO aF zu berücksichtigende Bindungswirkung zu entfalten. Ob die von der Revision gezogene Parallele zum Erlaß einer einstweiligen Verfügung zutrifft, kann unerörtert bleiben; nach Meinung des erkennenden Senats bestehen aber jedenfalls gewisse Ähnlichkeiten zu den im Versorgungsrecht vorgekommenen Fällen eines ohne ärztliche Nachuntersuchung ergangenen "Umanerkennungsbescheides", dem nicht die Verhältnisse zur Zeit seines Erlasses zugrunde lagen (vgl. hierzu SozR BVG § 62 Nr. 24).
Entgegen der Auffassung des LSG ist also bei der Anwendung des § 608 RVO aF hier nicht von der Entschädigungsfeststellung im Mai 1954, sondern von der vorangegangenen Rentenbewilligung auszugehen, die mit dem Bescheid vom 14. November 1951 erfolgt ist. In diesem Bescheid hat die Beklagte - unter Bezugnahme auf das Gutachten des Nervenarztes Dr. C vom 6. September 1951 - eine Verschlimmerung der bereits seit der Kriegsbeschädigung bestehenden Kopfbeschwerden als Folge des Arbeitsunfalles anerkannt. Die für die vergleichende Prüfung nach § 608 RVO aF maßgebenden Ausgangsverhältnisse sind also in dem Befund enthalten, den Dr. C im September 1951 erhoben hat.
Obwohl das LSG von seinem - unzutreffenden - rechtlichen Standpunkt aus dazu gar nicht Stellung zu nehmen brauchte, hat es doch beiläufig zum Ausdruck gebracht, daß seiner Ansicht nach schon im Zeitpunkt der Untersuchung des Klägers durch Dr. C eine unfallbedingte MdE nicht mehr bestanden habe. Die Angriffe, welche die Revision gegen diese hauptsächlich auf das Gutachten des Prof. Dr. L gestützte Annahme gerichtet hat, sind begründet. Im Laufe der Jahre sind über die Auswirkungen der beiden Kopftraumen des Klägers zahlreiche nervenärztliche Gutachten erstattet worden. Die beteiligten Sachverständigen haben hierbei außerordentlich stark voneinander abweichende Diagnosen und MdE-Schätzungen geäußert. Während Prof. Dr. P und Prof. Dr. J die Beschwerden des Klägers mit neurotischen Erscheinungen erklären wollen, haben die meisten Ärzte - außer Dr. C insbesondere noch Dr. W, Prof. Dr. S und auch Prof. Dr. L - das Vorliegen hirnorganischer Störungen angenommen. Es erscheint von vornherein nicht ganz folgerichtig, daß das LSG, welches sich im wesentlichen an das Gutachten des Prof. Dr. L anlehnt, ergänzend auch noch stellenweise die Auffassungen der Professoren Dr. P und Dr. J verwertet, also derjenigen Sachverständigen, deren Beurteilung auf einem ganz conträren Ausgangspunkt beruht. Fragwürdig ist auch - angesichts der zwischen den Sachverständigen herrschenden vielen Divergenzen - die Annahme des LSG, durch das 1960 erstattete Gutachten des Prof. Dr. L sei die Entwicklung der Unfallfolgen nicht bloß bis in die Zeit um Anfang 1954, sondern sogar bis September 1951 - also rückschauend über einen Zeitraum von neun Jahren hinweg - zweifelsfrei geklärt worden. Ausschlaggebend ist indessen, daß die Ausführungen des Prof. Dr. L folgenden - vom LSG offenbar übersehenen - inneren Widerspruch aufweisen: Dieser Sachverständige hat unmißverständlich der von den Gutachtern Dr. C und Dr. W geäußerten Erwägung beigepflichtet, bei einem schon vorher hirngeschädigten Menschen werde eine commtio nicht innerhalb des sonst erfahrungsgemäß anzunehmenden Zeitraumes von ungefähr zwei Jahren kompensiert, sondern der Rückbildungsprozeß beanspruche in diesen Fällen eine längere Zeit; die Ausführungen des Prof. Dr. L lassen ferner klar erkennen, daß nach seiner Auffassung der Kläger durch die Wehrdienstbeschädigung vom 22. April 1945 eine Hirndauerschädigung davongetragen hatte. Dann ist es aber unverständlich - im Gutachten auch in keiner Weise hinlänglich erläutert -, wie Prof. Dr. L trotzdem zu dem Ergebnis gelangen konnte, die postcommotionellen Beschwerden infolge des Arbeitsunfalles vom 22. Juni 1949 seien doch schon nur zwei Jahre später völlig abgeklungen gewesen. Dieses Ergebnis läßt sich mit den angeführten Prämissen, von denen das Gutachten ausgeht, nicht vereinbaren.
Die vom LSG vertretene Auffassung, der Entziehungsbescheid sei wegen des Fehlens einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse rechtswidrig, beruht demnach - wenn der September 1951 als der maßgebende zeitliche Ausgangspunkt zugrunde gelegt wird - auf unzureichenden Feststellungen. Auf die begründete Revision der Beklagten kann der Senat nicht in der Sache selbst entscheiden, vielmehr muß die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen