Leitsatz (amtlich)
Eine Waise ist nicht iS von RVO § 1267 Abs 1 S 2 außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn sie tatsächlich bedarfsdeckende Einkünfte erzielt, auch wenn der Arbeitsplatz mit Rücksicht auf ihre Gebrechen ungewöhnlich gestaltet ist.
Leitsatz (redaktionell)
RVO § 1267 Abs 1 S 2 knüpft, indem er Unterhaltsbedürftigkeit fordert, an den Begriff der Unterhaltsberechtigung iS der allgemeinen Vorschriften des Zivilrechts an (BGB § 1602 Abs 1). Der Senat hat daher keine Bedenken, die in diesem Zusammenhang von der zivilrechtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Auslegung des RVO § 1267 Abs 1 S 2 heranzuziehen.
Normenkette
RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1977-06-27; BGB § 1602 Abs. 1
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 20.02.1978; Aktenzeichen L 3 J 127/76) |
SG Itzehoe (Entscheidung vom 23.04.1976; Aktenzeichen S 4 J 136/75) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. Februar 1978 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Strittig ist die "verlängerte" (Halb-)Waisenrente wegen Gebrechlichkeit.
Der am 12. Mai 1954 geborene Kläger, Stiefsohn des im November 1972 gestorbenen Versicherten, leidet an einer auf Störungen des Skelettwachstums zurückzuführenden Fehlhaltung der Wirbelsäule; außerdem besteht eine Minderbegabung. Nach dem Besuch der Sonderschule arbeitete er ein halbes Jahr an einer Tankstelle, dann von Februar 1971 bis Februar 1973 als Packer in einer Fabrik; diese Stellung gab er wegen des niedrigen Arbeitsverdienstes von monatlich 540,- DM brutto auf. Einer anschließend begonnenen Feinmechanikerlehre war er nicht gewachsen. Seit März 1973 ist er als Helfer bei einer Maschinenbaufirma mit einem monatlichen Bruttoarbeitseinkommen von etwa 1.500,- DM beschäftigt.
Den Antrag auf Waisenrente lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 18. Februar 1975). Das Sozialgericht (SG) Itzehoe hat die Beklagte zur Gewährung der Waisenrente verpflichtet; der Kläger sei außerstande, sich selbst zu unterhalten, da er nicht auf einem normalen Arbeitsplatz bedarfsdeckende Einkünfte erzielen könne (Urteil vom 23. April 1976). Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil aufgehoben, die Klage abgewiesen und im Urteil vom 20. Februar 1978 ausgeführt: Der Kläger sei zwar gebrechlich, weil er wegen eines Wirbelsäulenleidens nur leichte Tätigkeiten im Wechselrhythmus unter Schutz vor Zugluft, Nässe und Kälte vollschichtig verrichten könne und im Hinblick auf seine geistige Verfassung lediglich einfachen Arbeiten gewachsen sei, wobei er der Rücksichtnahme seines Arbeitgebers bedürfe und intensiver beaufsichtigt und angeleitet werden müsse; dennoch sei er nicht iS von § 1267 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) außerstande, sich selbst zu unterhalten.
Diese Vorschrift diene dem Ausgleich entgangener Unterhaltsansprüche; deshalb könnten zu ihrer Auslegung unterhaltsrechtliche Gesichtspunkte mit herangezogen werden. Zwar dürften aus sozialrechtlichen Gründen dem Gebrechlichen keine unter Gefährdung der ihm verbliebenen Gesundheit erarbeiteten Einkünfte zugerechnet werden; diese Voraussetzung sei aber beim Kläger hinsichtlich seiner bisherigen Beschäftigungen erfüllt. Er habe damit bedarfsdeckende Einkünfte erzielen können. Wenn dies dank der Fürsorge Dritter und der besonderen Rücksichtnahme des Arbeitgebers geschehe, so könne das nicht zur Gewährung der Waisenrente führen.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision bekämpft der Kläger die Ansicht des Berufungsgerichts, ihm sei die ausgeübte Tätigkeit gesundheitlich zumutbar. Das LSG habe sich bei seiner Urteilsfindung dem von ihm gehörten Sachverständigen Professor Dr. E angeschlossen, der sich indessen im Gegensatz zu den meisten Vorgutachtern befinde. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts komme es auch darauf an, unter welchen Umständen (Mithilfe Dritter) er seine Arbeit verrichten könne.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. Februar 1978 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 23. April 1976 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß dem Kläger kein Anspruch auf "verlängerte" Waisenrente (hier: Halbwaisenrente nach dem Stiefvater) zusteht.
Nach § 1267 Satz 2 RVO - jetzt Abs 1 Satz 2, nachdem ein neuer Abs 2 durch das 20. Rentenanpassungsgesetz (RAG) vom 27. Juni 1977, BGBl I 1040, mit Wirkung vom 1. Juli 1977 angefügt worden ist, Art 2 § 1 Nr 16 dieses Gesetzes - wird Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus ua für ein Kind gewährt, das infolge geistiger oder körperlicher Gebrechen außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Das LSG ist mit Recht davon ausgegangen, daß sowohl die Wirbelsäulenfehlhaltung als auch die - nach der Ansicht eines medizinischen Sachverständigen wahrscheinlich auf der Grundlage einer frühkindlichen Hirnschädigung entstandene - Minderbegabung des Klägers Gebrechen im Sinne dieser Vorschrift sind. Gleichwohl ist der Kläger, wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, nicht außerstande, sich selbst zu unterhalten. Entsprechend der allgemeinen Zweckbestimmung der Waisenrente, den durch Wegfall eines Unterhaltsverpflichteten typischerweise eingetretenen Verlust finanziell ausgleichen zu helfen (zur Unterhaltsersatzfunktion vgl auch Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 18. Juni 1975 - 1 BvL 4/74 - und die dort zitierte weitere Rechtsprechung, abgedr. in SozR 2400 § 44 Nr 1 S 3), verlangt das Gesetz bei Gebrechlichkeit der Waise (anders als im Falle der Schul- oder Berufsausbildung, in dem es vorbehaltlich der Grenzwerte des neuen Abs 2 unterstellt, die Waise sei unterhaltsbedürftig) ausdrücklich die Feststellung des Unvermögens, sich selbst zu unterhalten, als (weitere) Voraussetzung für die Anwendung der Vorschrift. Hierbei knüpft das Gesetz, indem es Unterhaltsbedürftigkeit fordert, an den Begriff der Unterhaltsberechtigung iS der allgemeinen Vorschriften des Zivilrechts an (§ 1602 Abs 1 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -). Der Senat hat daher keine Bedenken, die in diesem Zusammenhang von der zivilrechtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze (vgl zB Palandt, BGB, 38. Aufl Anm 2 zu § 1602, Anm 2 zu § 1603) zur Auslegung des § 1267 Abs 1 Satz 2 RVO heranzuziehen (vgl auch VV zum BVG idF vom 25. April 1975, BAnZ Nr 83 vom 6. Mai 1975, Nr 1 zu § 45 BVG iVm Nr 18 zu § 33b BVG, wonach ein Kind ua dann außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen angemessenen Lebensunterhalt nicht durch Einkünfte aus seinem Vermögen oder aus einer gegenwärtigen oder früheren Erwerbstätigkeit bestreiten kann; aA anscheinend Zweng-Scheerer, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 2. Aufl, RVO § 1262 Anm V 3 B, der trotz völlig verschiedenen Wortlauts den Begriff der Unterhaltsunfähigkeit dem der Erwerbsunfähigkeit in etwa gleichsetzt).
Der Kläger kann allerdings mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen Arbeitseinkommen nur unter Bedingungen erzielen, die nicht schlechthin als üblich anzusehen sind. Er bedarf wegen seiner verminderten Zielstrebigkeit, Stetigkeit und Konzentrationsfähigkeit intensiverer und häufigerer Beaufsichtigung und Anleitung als ein normal begabter Arbeitnehmer. Wenn er aber, wie insoweit von der Revision nicht bestritten wird, tatsächlich entsprechende Arbeitsmöglichkeiten hat und sie auch weiterhin nutzen kann, so muß er sich die mit dieser Tätigkeit erzielten und erzielbaren Einkünfte auch im Rahmen des § 1267 RVO anrechnen lassen.
Zwar hat im Zusammenhang mit den Vorschriften über die Rentengewährung wegen verminderter Leistungsfähigkeit (§§ 1246, 1247 RVO) die Rechtsprechung den Standpunkt vertreten, eine vom Regelfall abweichende günstige Arbeitsgelegenheit müsse außer Betracht bleiben, auch wenn der Versicherte einen solchen ungewöhnlich gestalteten Arbeitsplatz innehabe (SozR Nr 24 zu § 1246 RVO; dem folgend SozR 2200 § 1247 Nr 12). Abgesehen davon, daß es nicht unzweifelhaft ist, ob diese Rechtsprechung im Hinblick auf das Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975 (BGBl I 1061) noch uneingeschränkt aufrechterhalten werden kann oder ob beispielsweise ein in einer Behindertenwerkstatt Beschäftigter auf diese Tätigkeit verweisbar ist (vgl ferner Urteil des Senats in SozR 2200 § 1246 Nr 26 zur Frage der Berufsunfähigkeit eines in der Sonderwerkstatt für leistungsgeminderte Arbeitnehmer gegen tariflich gesicherten Facharbeiterlohn beschäftigten ehemaligen Autoschlossers), muß jedenfalls für die in § 1267 Abs 1 Satz 2 RVO sowie in § 1602 Abs 1 BGB in gleicher Weise umschriebenen Voraussetzungen der Unterhaltsbedürftigkeit unberücksichtigt bleiben, ob die konkret bestehende Arbeitsmöglichkeit vom Üblichen abweicht (ähnlich LSG Baden-Württemberg in Breithaupt 1972, 488). Etwas anderes mag zu gelten haben, wenn und soweit dem gezahlten Lohn oder Gehalt die tatsächliche Arbeitsleistung nicht entspricht und das insoweit "vergönnungsweise" erhaltene Arbeitseinkommen auch nicht auf öffentlich-rechtlichen Zuschüssen beruht, so daß es als die freiwillige Zuwendung eines Dritten zu werten ist; für eine derartige Fallgestaltung bietet indessen der vorliegende Sachverhalt keinen Anhalt, wie sich im übrigen auch aus der Aussage des Zeugen H, auf die das Urteil des LSG ausdrücklich Bezug nimmt, ergibt.
Daß der Kläger durch seine Lohnarbeit seinen notwendigen ("bedarfsdeckenden") Unterhalt verdient hat und auch weiterhin erzielt, hat das LSG von der Revision unangefochten und daher für den Senat bindend (§ 163 SGG) festgestellt.
Allerdings müßte das Arbeitseinkommen des Klägers außer Ansatz bleiben, wenn es "auf Kosten der Gesundheit" erzielt würde, sei es, daß der Kläger die Arbeitsleistung nur unter unzumutbaren Schmerzen und Beschwerden erbringt oder daß die ausgeübte berufliche Tätigkeit zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes führt. Ob dieser sozialversicherungsrechtliche Grundsatz zur zivilrechtlichen Beurteilung in gewissem Widerspruch steht, wie das LSG anscheinend meint, oder aber von dem das gesamte Unterhaltsrecht beherrschenden Grundsatz der Zumutbarkeit mit erfaßt wird (zum eherechtlichen Unterhaltsanspruch vgl Urteil des 1. Senats des Bundessozialgerichts - BSG - vom 14. Dezember 1978 - 1 RA 5/78 -), mag dahinstehen. Jedenfalls hat das LSG unter Würdigung der Gutachten und Aussagen der im Laufe des Verfahrens gehörten medizinischen Sachverständigen die Überzeugung gewonnen, daß der Kläger seine berufliche Tätigkeit während der Zeit, für die Waisenrente begehrt wird, nicht auf Kosten seiner Gesundheit ausgeübt hat.
Die von der Revision gegen diese Feststellung erhobenen Rügen sind unbegründet. Das Berufungsgericht hat sich innerhalb des ihm eingeräumten richterlichen Ermessens in erster Linie auf die gutachtlichen Äußerungen des von ihm gehörten Chirurgen Professor Dr. E stützen dürfen, zumal der Untersuchung und Beurteilung durch diesen Arzt die Vernehmung des Zeugen H mit der Beschreibung der Tätigkeiten, die der Kläger seit 1973 verrichtet, vorausgegangen war. Darüber hinaus hat sich das LSG mit dem vom Vorgutachter Professor Dr. D geäußerten Verdacht auseinandergesetzt, der Kläger neige dazu, sich zu überfordern; klinische Anzeichen einer Überforderung sind indessen trotz fünfjähriger Tätigkeit in ein- und demselben Betrieb nicht feststellbar gewesen. Auch soweit die Revision meint, Professor Dr. E befinde sich "im Gegensatz zu den meisten Vorgutachtern", und darauf hinweist, der im Termin vor dem SG gehörte Sachverständige Dr. S habe den Kläger aus nervenärztlicher Sicht nur für fähig gehalten, einfache Arbeiten für sechs bis acht Stunden täglich zu leisten, kann ein Verstoß des LSG gegen § 128 Abs 1 SGG nicht festgestellt werden. Zum einen hat das LSG ausgeführt, nur Dr. S habe nervenärztlicherseits eine (gewisse) zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens bejaht, andererseits läßt die - nicht näher belegte - Behauptung der Revision, Professor Dr. E weiche mit seinen gutachtlichen Äußerungen von den meisten Vorgutachtern ab, unberücksichtigt, daß gerade dieser Sachverständige und der ebenfalls im Termin gehörte Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. K im Hinblick auf die inzwischen jahrelang geleistete Berufstätigkeit des Klägers gegenüber den Vorgutachtern andere und neue Erkenntnisse verwerten konnten. Im übrigen - und damit deckt sich die vom Berufungsgericht vorgenommene Würdigung des Sachverhalts - hat im Sozialversicherungsrecht die Rechtsprechung der tatsächlichen Arbeitsleistung wiederholt einen stärkeren Beweiswert als den medizinischen Befunden zuerkannt (SozR 2200 § 1247 Nr 12 und SozR Nr 24 zu § 1246 RVO, ferner BSGE 1, 82, 89 und SozR Nr 10 zu § 1254 RVO aF); ähnlich begründet im Unterhaltsrecht die tatsächliche Arbeitsleistung die Vermutung, daß auch die gesundheitliche Eignung hierzu besteht (zB das erwähnte Urteil des 1. Senats vom 14. Dezember 1978).
Nach alledem konnte die Revision des Klägers keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen