Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit einer Schneiderin
Orientierungssatz
Für Versicherte, die einen Facharbeiterberuf ausgeübt haben, ist die Grenze der Zumutbarkeit der Verweisungstätigkeit konkret zu ermitteln und nicht abstrakt fixierbar (vgl BSG 1962-07-05 5 RKn 18/61 = BSGE 17, 191, 195). Das Gericht muß im einzelnen prüfen, ob es Tätigkeiten gibt, die für den Versicherten nach seinem körperlichen und geistigen Leistungsvermögen, ferner nach seinen beruflichen Kenntnissen und Fähigkeiten in Frage kommen und ihm auch ihrer sozialen Einstufung nach subjektiv zugemutet werden können. Dabei darf sich das Tatsachengericht nicht darauf beschränken, solche Verweisungstätigkeiten lediglich nach allgemeinen Merkmalen zu benennen. Es muß vielmehr mindestens eine Tätigkeit so konkret bezeichnen, daß ihre Anforderungen in gesundheitlicher und beruflicher Hinsicht eindeutig feststellbar sind und zu dem vorhandenen Leistungsvermögen des Versicherten in Beziehung gesetzt werden können.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 22.11.1977; Aktenzeichen L 5 J 15/77) |
SG Schleswig (Entscheidung vom 25.08.1976; Aktenzeichen S 6 J 361/74) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22. November 1977 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die im Jahr 1919 geborene Klägerin ist gelernte Wäscheschneiderin und arbeitete, nachdem ihr die bis Ende 1962 entrichteten Beiträge erstattet worden waren, von Februar 1963 bis Ende 1972 mit Unterbrechungen als Herren-, Wäsche- und Uniformschneiderin. Wegen Krankheit ist sie seit Mai 1974 nur noch in der Lage, leichte Arbeiten im Wechsel zwischen Sitzen, Gehen und Stehen ohne besondere Belastung der Wirbelsäule und bei Schutz vor Nässe und Kälte vollschichtig zu verrichten. Ihren Antrag auf Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit dem Bescheid vom 19. November 1974 ab, weil die Klägerin noch nicht berufsunfähig sei.
Das Sozialgericht (SG) Schleswig hat mit Urteil vom 25. August 1976 die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 22. November 1977 die Berufung der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen und dazu ausgeführt: Die Klägerin müsse sich als gelernte Schneiderin auch auf angelernte und nach Vertrauen und Verantwortung sowie tariflicher Zuordnung aus dem allgemeinen Arbeitsfeld herausgehobene ungelernte Tätigkeiten verweisen lassen; dort finde sie einen offenen Arbeitsmarkt, da für vollschichtig einsatzfähige Versicherte mit einem ähnlichen Leistungsvermögen geeignete Arbeitsplätze in hinreichender Anzahl vorhanden seien.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision trägt die Klägerin vor: Das LSG habe die §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unrichtig angewendet und sei von dem Urteil des erkennenden Senats vom 26. April 1977 - 4 RJ 93/76 - abgewichen. Es hätte mindestens einige der für sie, die Klägerin, in Frage kommenden Tätigkeiten im einzelnen prüfen und konkret bezeichnen müssen.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22. November 1977 und des Sozialgerichts Schleswig vom 25. August 1976 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. November 1974 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 1. Juni 1974 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.
Sie führt aus: Das LSG habe § 1246 RVO zutreffend angewendet. Fehler des angefochtenen Urteils könnten sich nur noch in dem Verfahrensbereich befinden, die Klägerin habe jedoch keinen Verfahrensfehler gerügt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen werden muß. Die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts genügen nicht für eine abschließende Entscheidung.
Ob die Klägerin berufsunfähig ist und einen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit hat, hängt nach § 1246 Abs 2 RVO zunächst davon ab, ob ihre Erwerbsfähigkeit in dem erlernten und lange Zeit hindurch ausgeübten Beruf als Schneiderin auf weniger als die Hälfte derjenigen einer gesunden Vergleichsperson herabgesunken ist. Dazu hat das Berufungsgericht sich nicht geäußert, dem Zusammenhang der Entscheidungsgründe ist jedoch zu entnehmen, daß es die Klägerin für nicht mehr fähig hält, als Schneiderin zu arbeiten. Sodann ist zu prüfen, ob die Klägerin auf andere Tätigkeiten, für die sie objektiv geeignet ist und die ihr subjektiv zugemutet werden können, verwiesen werden kann (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO). Die Grenze der Zumutbarkeit ist dabei konkret zu ermitteln und nicht abstrakt fixierbar (BSGE 17, 191, 195). Das Gericht muß im einzelnen prüfen, ob es Tätigkeiten gibt, die für den Versicherten nach seinem körperlichen und geistigen Leistungsvermögen, ferner nach seinen beruflichen Kenntnissen und Fähigkeiten in Frage kommen und ihm auch ihrer sozialen Einstufung nach subjektiv zugemutet werden können. Dabei darf sich das Tatsachengericht nicht darauf beschränken, solche Verweisungstätigkeiten lediglich nach allgemeinen Merkmalen zu benennen. Es muß vielmehr mindestens eine Tätigkeit so konkret bezeichnen, daß ihre Anforderungen in gesundheitlicher und beruflicher Hinsicht eindeutig feststellbar sind und zu dem vorhandenen Leistungsvermögen des Versicherten in Beziehung gesetzt werden können. Das gilt jedenfalls für Versicherte, die - wie die Klägerin als gelernte Schneiderin - bisher einen Facharbeiterberuf ausgeübt haben (vgl Urteile des erkennenden Senats vom 26. April 1977 - 4 RJ 93/76 -, DRV 77, 371 = SozSich 78, 122; 19. April 1978 - 4 RJ 55/77 - SozR 2200 § 1246 Nr 30; 31. Oktober 1978 - 4 RJ 27/77 - und vom 20. Dezember 1978 - 4 RJ 23/78 - sowie des 5. Senats vom 28. November 1978 - 5 RKn 10/77 - und 15. Februar 1979 - 5 RJ 48/78 -). Sind solche Tätigkeiten nicht konkret bezeichnet, fehlt es an den für die Beurteilung der Verweisbarkeit erforderlichen Feststellungen; das Revisionsgericht kann das Berufungsgericht nicht umfassend nachprüfen.
Die Annahme der Beklagten, das Berufungsgericht habe allenfalls einen Verfahrensfehler begangen, den das Revisionsgericht mangels einer Revisionsrüge nicht beachten dürfe, ist nicht begründet. Zwar ist das Bundessozialgericht (BSG) an die in dem Berufungsurteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden (§ 163 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Fehlen aber ausreichende Feststellungen, fehlt es insbesondere an Tatsachen, die unter das Gesetz subsumiert werden können, so muß - auch wenn insoweit keine Rüge erhoben worden ist - bei einer zugelassenen Revision das Urteil aufgehoben werden (BSG SozR Nr 6 zu § 163 SGG). So liegt der Fall hier. Die Rechtsfrage, ob die Klägerin auf eine andere als die gelernte Tätigkeit zumutbar verwiesen werden kann, kann nur beantwortet werden, wenn in tatsächlicher Hinsicht festgestellt worden ist, ob es entsprechende Tätigkeiten gibt und wie sich diese Tätigkeiten zum Ausgangsberuf der Klägerin verhalten.
Ob für eine - objektiv geeignete und subjektiv zumutbare - Tätigkeit Arbeitsplätze in ausreichendem Umfang vorhanden sind, braucht allerdings bei einer Vollzeitarbeitskraft - wie der Klägerin - in der Regel nicht geprüft zu werden (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 30).
Da der Senat die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, war die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird auch über die Kosten des Rechtsstreits entscheiden.
Fundstellen