Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 09.11.1987)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. November 1987 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist die Höhe eines Altersruhegeldes (ARG).

Die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) gewährte der 1924 geborenen Klägerin mit dem streitigen Bescheid vom 26. Oktober 1984 (vorzeitiges) ARG ab 1. Januar 1985. Dabei rechnete sie ua die Zeit vom 5. November 1943 bis zum 30. April 1945 – wie in den Vormerkungsbescheiden vom 2. Juni 1980 und vom 15. Juni 1984 anerkannt – als (glaubhaft gemachte) Pflichtbeitragszeit an. In diesem Zeitraum war die Klägerin als Verwaltungsangestellte beim Landratsamt M. … /Sudetenland beschäftigt. Hingegen berücksichtigte die BfA entgegen dem Antrag der Klägerin für die Zeit vom 5. November 1943 bis zum 31. Dezember 1943 keine Beiträge der sog Überversicherung, weil eine Glaubhaftmachung dieser Art von Beiträgen in der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) nicht vorgesehen sei (Widerspruchsbescheid vom 2. Juli 1985).

Das Sozialgericht Düsseldorf (SG) hat die Klage durch Urteil vom 17. November 1986 abgewiesen. Das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG) hat auf die Berufung der Klägerin das vorinstanzliche Urteil geändert und die Beklagte verurteilt, beim ARG der Klägerin für die Monate November und Dezember 1943 je einen Beitrag zur Höherversicherung nach der Klasse B als glaubhaft gemacht anzurechnen (Urteil vom 9. November 1987). Das Berufungsgericht ist folgender Ansicht: Zwar habe die Klägerin die Abführung von Überversicherungsbeiträgen nicht nachgewiesen. Jedoch genüge gemäß § 10 VuVO, die nach ihrem § 1 Abs 1 Satz 2 iVm Satz 1 anwendbar sei, die Glaubhaftmachung. Es bestehe die „gute Möglichkeit” (Hinweis auf: Bundessozialgericht ≪BSG≫ in:

SozR 5070 § 3 Nr 1), daß die Überversicherungsbeiträge zusammen mit den auch von der BfA als glaubhaft abgeführt angesehenen Pflichtbeiträgen entrichtet worden seien. Es spreche nichts gegen die Glaubwürdigkeit der Angaben der Klägerin. Es sei auch nicht zu ersehen, daß für sie irgendwelche Regelungen anzuwenden gewesen oder angewendet worden wären, die sie von der Überversicherung der Angestellten des öffentlichen Dienstes ausgenommen hätten.

Zur Begründung der – vom damals zuständigen 1. Senat des BSG zugelassenen – Revision rügt die Beklagte eine fehlerhafte Anwendung der §§ 3, 6, 10 VuVO und des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie hält es für unzulässig, gesondert entrichtete Überversicherungsbeiträge glaubhaft zu machen. Falls aber die VuVO auf Überversicherungsbeiträge anwendbar sei, habe das LSG den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) verletzt. Es habe versäumt, näheren Aufschluß über die Zusatzversorgung der Klägerin durch eine weitere Rückfrage bei der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) zu gewinnen. Wegen des Vorbringens der Beklagten im einzelnen wird auf ihre Schriftsätze vom 13. Juni 1989 und vom 5. Februar 1991 Bezug genommen.

Die Beklagte beantragt,

„unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des SG Düsseldorf vom 17. November 1986 zurückzuweisen”.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Auf ihren Schriftsatz vom 8. August 1989 wird verwiesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Klägerin hat Anspruch auf höheres ARG unter Anrechnung je eines – glaubhaft gemachten – Höherversicherungsbeitrags der Klasse B für die Monate November und Dezember 1943, wie das LSG zutreffend erkannt hat.

Gemäß § 31 Abs 1 Halbsatz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) erhöht sich der Jahresbetrag des ARG um die Steigerungsbeträge nach § 38 AVG für „entrichtete Beiträge der Höherversicherung” iS von § 130 AVG (in der seit dem 1. Januar 1957 geltenden Fassung durch Art 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes ≪AnVNG≫ vom 23. Februar 1957, BGBl I S 88, Abs 1 idF durch Art 1 § 2 Nr 15 des Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 28. Juli 1969, BGBl I S 956, mit Wirkung vom 1. August 1969, Abs 3 aufgehoben mit Wirkung vom 1. Januar 1968). Nach Abs 2 aa0 kann für einen Kalendermonat nur ein Beitrag der Höherversicherung entrichtet werden, wenn für diesen Kalendermonat ein Grundbeitrag (Pflichtbeitrag oder freiwilliger Beitrag) wirksam entrichtet ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, obwohl die Klägerin im November und Dezember 1943 noch keine Höherversicherungsbeiträge neuen Rechts nach Maßgabe der vorgenannten Vorschriften entrichten konnte. Denn nach Art 2 § 15 Abs 2 Satz 1 AnVNG gelten freiwillige Beiträge, die – wie hier – in der Zeit vor dem 1. Januar 1957 „neben” Pflichtbeiträgen entrichtet worden sind, als Beiträge der Höherversicherung (neuen Rechts). Hierzu hat das Berufungsgericht – worauf zurückzukommen ist: berechtigt und verfahrensfehlerfrei – als (glaubhaft gemachte) Tatsachen für den Senat bindend (§§ 163, 164 Abs 2 Satz 3 SGG) festgestellt, die Klägerin habe im streitigen Zeitraum „neben” den im Lohnabzugsverfahren abgeführten Pflichtbeiträgen aus ihrer angestelltenversicherungspflichtigen Beschäftigung auch Beiträge zur sog Überversicherung entrichtet.

Das BSG (BSGE 31, 174 = SozR Nr 8 zu Art 2 § 15 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes ≪ArVNG≫) hat bereits geklärt, daß Beiträge, die im Jahre 1943 zum Zweck der Überversicherung (§ 170a AVG iVm § 1389 der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫, beide in der damals gültigen Fassung) in Beitragsmarken zusätzlich zu den im Lohnabzugsverfahren geleisteten Beiträgen entrichtet wurden, solche der Höherversicherung alten Rechts und damit freiwillige Beiträge waren, die nach Art 2 § 15 Abs 2 Satz 1 AnVNG als Beiträge zur Höherversicherung neuen Rechts (§§ 11, 130 AVG) gelten. Hieran ist festzuhalten.

Entgegen der Ansicht der BfA hat das LSG zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsache der Entrichtung von Überversicherungsbeiträgen zutreffend das Beweismaß der Glaubhaftmachung iS von § 10 VuVO zugrunde gelegt und sich mit diesem Überzeugungsgrad (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) begnügt (zur Rechtsnatur und zur Doppelfunktion des Beweismaßes Koussoulis, Beweismaßprobleme im Zivilprozeßrecht, in Festschrift für Karl Heinz Schwab zum 70. Geburtstag, 1990, S 277f mwN zum Meinungsstand). Die Vorschriften dieser – ua auf § 33 Abs 3 AVG gestützten – Rechtsverordnung, die nach ihrem § 9 Abs 1 ua für Zeiten vor dem 1. Januar 1950 gilt, sind gemäß § 1 Abs 1 Satz 2 iVm Satz 1 VuVO anzuwenden. Danach genügt für die Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen, zu deren Nachweis fehlende Versicherungsunterlagen dienen, daß diese Tatsachen glaubhaft gemacht sind, wenn glaubhaft gemacht ist, daß die Quittungs- oder Versicherungskarte beim Arbeitgeber oder Versicherten oder nach den Umständen des Falles auf dem Wege zum Versicherungsträger zerstört, verlorengegangen oder unbrauchbar geworden ist. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die insoweit von der Beklagten nicht angegriffen worden und für den Senat bindend (§ 163 SGG) sind, ist glaubhaft gemacht, daß die Versicherungsunterlagen der Klägerin im Mai 1945 beim Arbeitgeber verlorengegangen sind.

Hingegen stellt die Beklagte schon in Abrede, daß diese den sachlichen (thematischen) Anwendungsbereich der Rechtsverordnung festlegende Vorschrift anwendbar ist, weil die §§ 2 ff VuVO keine – ausdrückliche – Regelung für Überversicherungsbeiträge enthielten, die Systematik dieser Vorschriften ausschließlich „Grundbeiträge” erfasse und die damit einhergehende Pauschalierung im Interesse der Gleichbehandlung aller Versicherten hingenommen werden müsse. Dem ist schon im Ansatz nicht beizupflichten:

§ 1 VuVO enthält die Generalklausel, nach der in sämtlichen Fällen, in denen Versicherungsunterlagen (Quittungskarten, Versicherungskarten, Beitragskonten) aus den in ihr genannten Gründen für den Nachweis einer Rechtsposition nicht zur Verfügung stehen, zu verfahren ist, soweit die §§ 2 ff VuVO keine besondere Regelung vorsehen (so schon die amtliche Begründung zu § 1 VuVO, BR-Drucks 44/60 Begründung S 4; vgl BSG SozR Nr 3 zu § 1 VuVO; BSG SozR 5745 § 1 Nr 2). Die sog Überversicherung war – soweit sie bei der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA) durchgeführt wurde – ein Fall der Höherversicherung alten Rechts. Es handelte sich in der Zeit vom 1. Juli 1942, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Zweiten Verordnung zur Vereinfachung des Lohnabzugs (2. LAV) vom 25. April 1942 (RGBl I S 252), bis zum 31. Dezember 1943, mit dessen Ablauf die Überversicherung bei der RfA aufgehoben wurde (Erlaß des Reichsministers der Finanzen vom 10. Dezember 1943, RBBl 1943, 215), um eine arbeitsrechtliche Verpflichtung für angestelltenversicherungspflichtige Beschäftigte, zusätzlich zu ihren sozialrechtlichen Pflichtversicherungsbeiträgen aus der Sicht des Versicherungsrechts „freiwillige” Beiträge im Beitragsmarkenverfahren in bestimmter Höhe an die RfA abzuführen (dazu: Anordnung des Reichsministers der Finanzen vom 1. Juli 1942, RBBl 1942, 148; Beschluß des Leiters der RfA vom 22. Juli 1942 in Monatsschrift für Arbeiter- und Angestelltenversicherung 1943, 133). Zweck war, den Angestellten im öffentlichen Dienst eine zusätzliche Alters- und Hinterbliebenenversorgung zu verschaffen, die derjenigen für die Arbeiter im öffentlichen Dienst, deren Zusatzversorgung seit 1929 bei der Zusatzversorgungsanstalt des Reiches und der Länder (ZRL) durchgeführt wurde, gleichwertig war (spezifisch zur sog Überversicherung Zocher, Volkstümliche Zeitschrift für die gesamte Sozialversicherung 1941, 3; Dersch, Grundriß der gesetzlichen Rentenversicherung, 1952, 105; Fischer, Mitteilungen der Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken 1969, 209; jew mwN). Zum Nachweis der abgeführten Überversicherungsbeiträge diente von Juli 1942 bis Dezember 1943 die Versicherungskarte, in welche die Beitragsmarken, die unverändert blieben (Beschluß des Leiters der RfA vom 22. Juli 1942, aa0), einzukleben waren. Die Abführung dieser Überversicherungsbeiträge war also durch solche Versicherungsunterlagen nachzuweisen, bei deren in § 1 VuVO näher umschriebenen Verlust Beweiserleichterung nach § 10 VuVO eingeräumt wird. Demnach wäre nach § 1 VuVO zu verfahren, wenn – was nicht der Fall ist – die Annahme der BfA zuträfe, die §§ 2 ff VuVO enthielten keine auf Überversicherungsbeiträge anwendbaren Regelungen.

Bei diesen Überversicherungsbeiträgen handelt es sich jedoch – wie ausgeführt – um solche der Höherversicherung alten Rechts und deswegen um freiwillige Beiträge iS von §§ 3 und 6 VuVO, deren Wortlaut nicht zu entnehmen ist, er solle nur „Grundbeiträge” oder nur bestimmte Arten freiwilliger Beiträge alten Rechts erfassen. Dies folgt auch nicht aus der Systematik der Verordnung, wie insbesondere zeigt, daß in den §§ 28, 18 des Fremdrentengesetzes (FRG), dessen Bestimmungen gemäß § 11 Abs 2 VuVO im Rahmen dieser Verordnung anwendbar sind, der Ausschluß einer Versicherungszeit beim Zusammentreffen mit anderen Versicherungszeiten bzw derjenige von Beiträgen zu Zusatzversicherungen ausdrücklich vorgeschrieben ist. Im unmittelbaren Anwendungsbereich der VuVO selbst gilt dies nicht. Die Rechtsauffassung der Beklagten würde hingegen den Zweck von Art 2 § 15b Abs 2 Satz 1 AnVNG weitgehend vereiteln, freiwillige Beiträge, die „neben” Pflichtbeiträgen (oder in Ersatzzeiten) entrichtet worden sind, noch „besonders zu honorieren” (BSG SozR Nr 9 zu Art 2 § 15 ArVNG mwN). Die Anwendung der VuVO auf Überversicherungsbeiträge führt schließlich zu keiner dem Pauschalierungsprinzip widersprechenden Ungleichbehandlung. Nach § 6 Abs 1 Buchst b VuVO werden für Zeiten einer freiwilligen Versicherung, wenn die Höhe der Beiträge – wie hier – nicht nachgewiesen ist, in der Angestelltenversicherung Beiträge nach der Beitragsklasse B (II) angerechnet (für 1943: 3,60 RM monatlich). Durch diese Pauschalierung freiwilliger Beiträge werden insbesondere Versicherte nicht benachteiligt, die – ausschließlich – Pflichtbeitragszeiten in überdurchschnittlicher Beitragshöhe glaubhaft gemacht haben. Eine Benachteiligung von Pflichtversicherten, die vor dem 1. Juli 1942 ihre Überversicherungsbeiträge – wie damals üblich – in einem einheitlichen Beitrag in einer höheren Klasse abgeführt haben, ist – soweit nicht Folge der Pauschalierung in § 4 VuVO – bereits durch die Rechtsprechung des BSG (BSGE 19, 237 = SozR Nr 2 zu Art 2 § 15 ArVNG, BSG SozR Nrn 3 und 4 zu Art 2 § 15 ArVNG) abgewendet worden. Danach sind diese Beiträge mit ihrem in der Tabelle der Anlage 1 zu § 32 AVG angegebenen Prozentwerten bei der Errechnung der persönlichen Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen. Die pauschale Anrechnung der Überversicherungsbeiträge mit den Werten der Beitragsklasse B (II) stellt die Versicherten folglich im wesentlichen so, als wären sie ohne eigenes Einkommen freiwillig versichert gewesen (Amtliche Begründung zu § 6 VuVO, aa0). Dies entspricht typischerweise den Werten der Überversicherung, für die als Form der Höherversicherung alten Rechts im wesentlichen dieselben Beitragsklassen galten wie für die freiwillig Versicherten (BSGE 31, 174 = SozR Nr 8 zu Art 2 § 15 ArVNG).

Nach alledem erweist sich als zutreffend nicht nur, daß das Berufungsgericht § 1 Abs 1 Satz 2 iVm Satz 1 und § 10 VuVO angewandt, sondern auch, daß es die Höhe des Werts der Überversicherungsbeiträge nach § 6 Abs 1 Buchst b VuVO bestimmt hat. Deswegen konnte die Revision der Beklagten keinen Erfolg haben.

Von Ausführungen zu der Verfahrensrüge der Beklagten, das LSG habe seine Pflicht verletzt, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 Satz 1 Halbsatz 1 SGG), sieht der Senat gemäß § 170 Abs 3 Satz 1 SGG ab.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173703

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