Leitsatz (amtlich)
Die Frage, ob eine Wohnung die Familienwohnung (RVO § 543 Abs 1 S 2 aF) ist, kann nicht schon deshalb verneint werden, weil die Beziehungen zwischen dem Versicherten und der Wohnungsinhaberin nicht durch eine Eheschließung legalisiert waren (vergleiche auch BSG 1960-12-21 7 RKg 7/57 = BSGE 13, 265; BSG 1963-09-12 4 RJ 151/62 = BSGE 20, 26).
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 13. Februar 1962 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger beansprucht Entschädigung für die Folgen eines Verkehrsunfalls, der sich am Sonntag, dem 4. Mai 1958, kurz nach 23.00 Uhr ereignet hat, als der Kläger mit seinem Motorrad von Neukirchen nach Stiedenrode fuhr.
Über die persönlichen Verhältnisse des Klägers ergeben sich aus dem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) folgende Feststellungen:
Der 1915 geborene Kläger ist ledig; seine Eltern sind verstorben. Der elterliche Hof in R/Kr. H gehört seinem Bruder, mit dem er keine engeren persönlichen Beziehungen unterhält. Auf diesem Hof hat der Kläger seit 1952 nur noch ein Einsitzrecht in einem Zimmer. Seit Februar 1957 wohnte er in Stiedenrode /Kr. W. auf dem Hofgut seines Arbeitgebers, des F B Er war dort als landwirtschaftlicher Gehilfe mit freier Verpflegung und Unterkunft beschäftigt. Seit dem 20. April 1958 war er mit dem Wohnsitz in Rhina polizeilich gemeldet.
Bei der Unfalluntersuchung durch die Ortspolizeibehörde in Neukirchen gab der Kläger an, er sei am Samstag, den 3. Mai, mit seinem Motorrad von Stiedenrode nach Neukirchen gefahren, um Bekannte zu besuchen und habe sich hier bis zum Sonntag aufgehalten. Gegen 21.30 Uhr habe er die Rückfahrt angetreten. Er habe diesen Weg an jedem Wochenende zurückgelegt. Der Arbeitgeber des Klägers, F B teilte mit, der Kläger habe seinen ständigen Wohnsitz in Rhina gehabt und sei regelmäßig nach Arbeitsschluß nach Rhina und Neukirchen gefahren. Später, bei einer Vorsprache auf der Verwaltung der Beklagten hat der Arbeitgeber diese Angaben dahin ergänzt, daß der Kläger fast an jedem Wochenende nach Neukirchen gefahren sei.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 9. Februar 1959 die Entschädigungsansprüche mit der Begründung ab, ein landwirtschaftlicher Arbeitsunfall liege nicht vor. Der Kläger sei auf einem aus persönlichen Interessen zurückgelegten Weg zu Schaden gekommen.
Mit der hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger zunächst nur vorgetragen, er habe auf dem A.-hof Einsitzrecht gehabt und unterhalte dort ein Zimmer mit Einrichtung. Er sei auch in Rhina polizeilich gemeldet und sei am Unfalltag auf dem Hof gewesen und habe sich Kleidung geholt. Weil der Hof verpachtet sei, habe er bei Bekannten in Neukirchen gegessen. Die auf Antrag des Klägers vernommene, in Neukirchen wohnhafte Frau O hat bei der Vernehmung durch das Sozialgericht (SG) Fulda angegeben, der Kläger sei am Sonnabend und Sonntag in Neukirchen und in Rhina gewesen, und zwar in Neukirchen sowohl bei ihr als auch in seinem eigenen Hause. Sie habe ihm zeitweise Wäsche gewaschen. Sie erinnere sich, daß er am Unfalltage sehr spät gekommen sei. Sie hätten deswegen eine Auseinandersetzung gehabt, weil sie ursprünglich noch fortgehen wollten. Rechtsanwalt L der im Dezember 1959 die Vertretung des Klägers übernommen hat, hat auch zunächst nur vorgetragen, daß der Kläger auf seiner Arbeitsstätte nur ein kleines und unzulänglich ausgestattetes Zimmer gehabt habe und der Familienanschluß sich auf die Einnahme der Mahlzeiten am Tisch des Arbeitgebers beschränkt habe. Deshalb habe der Kläger regelmäßig das Wochenende benutzt, um in sein Elternhaus nach Rhina oder nach Neukirchen zu fahren, wo eine am 14. Juni 1958 verstorbene Schwester seiner Mutter gewohnt habe. Außerdem habe dort noch die mit dem Kläger befreundete Frau O gewohnt, die ihn hinsichtlich seiner Kleidung und Wäsche betreut habe. Die Gemeinde Neukirchen hat bescheinigt, daß der Kläger Eigentümer eines auf dem Grundstück der Frau O errichteten Wohnhauses gewesen sei, das jedoch im Zuge der Umlegung der Bundesstraße 27 im Dezember 1958 abgerissen worden sei.
Das SG hat die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) für den Kreis Witzenhausen beigeladen. Diese hat erklärt, daß sie sich dem Standpunkt der beklagten Berufsgenossenschaft (BG) anschließe.
Das SG hat durch Urteil vom 1. März 1961 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das SG u. a. ausgeführt, der Kläger habe weder in Rhina noch in Neukirchen eine "Familienwohnung" gehabt. Das Zimmer in Rhina sei nach dem Tod der Eltern, da er sich mit seinem Bruder nicht gut gestanden habe, nicht Mittelpunkt der Lebensverhältnisse gewesen. In Neukirchen habe er zwar in dem Haus der Schwester seiner Mutter gewohnt, das durch Erbschaft sein Eigentum geworden sei, und habe auch dieses Haus verwaltet. Dort sei gleichfalls für ihn kein Mittelpunkt des Lebens gewesen. Der Kläger habe auch keine "Familienwohnung" bei der Zeugin O gehabt, denn es sei weder vom Kläger noch von der Zeugin irgendwie näher dargetan worden, daß die Beziehungen des Klägers zur Zeugin in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht so eng gewesen seien, daß die Wohnung der Zeugin für den Kläger den Mittelpunkt des Lebens dargestellt hätte. Hierfür reiche es nicht aus, daß er bei ihr gegessen habe und sich von ihr Kleidung und Wäsche habe in Ordnung halten lassen.
Mit der gegen dieses Urteil eingelegten Berufung hat der Kläger nunmehr vorgetragen: Er unterhalte seit 1950 zu Frau O ein intimes eheähnliches Verhältnis. Die Eheschließung sei bisher unterblieben, weil der Kläger durch sein Einkommen keine genügende materielle Sicherung geben könne. Die Absicht bestehe jedoch auch heute noch. Frau O beziehe als Kriegerwitwe eine Rente, die ihren Lebensunterhalt sichere, aber bei einer Eheschließung entfallen würde. Deshalb habe der Kläger auch den elterlichen Hof übernehmen wollen, als sein Bruder den Hof verpachten mußte. Nachdem diese Möglichkeit ausgeschieden sei, sei die Eheschließung bisher weiter unterblieben. Der Kläger habe diesen Sachverhalt bisher bewußt verschwiegen, weil er Frau O nicht habe bloßstellen wollen.
Der Berichterstatter des LSG hat den Arbeitgeber des Klägers, F B um eine Äußerung zu dem tatsächlichen Vorbringen des Klägers hinsichtlich seiner Unterkunft gebeten. F B hat darauf mit einem Schreiben vom 2. Juli 1961 geantwortet, in dem u. a. folgendes ausgeführt ist: Der Kläger habe vollen Familienanschluß gehabt. Es sei nicht richtig, daß das Zimmer jeder Gemütlichkeit entbehrt habe. Der Kläger habe es von sich aus abgelehnt, den Abend im Familienkreis zu verbringen, und sei bei Bekanntenbesuchen in der Regel hinzugezogen worden. Er habe auch die Möglichkeit gehabt und ausgenutzt, seine Wäsche waschen zu lassen. Zum Wochenende sei er meistens nach Hause gefahren, jedoch sei dem Arbeitgeber nicht bekannt gewesen, daß er dies wegen der angeblich schlechten Unterbringung getan habe.
Zum Termin vor dem LSG am 13. Februar 1962 ist die beigeladene AOK nicht geladen worden. Das LSG hat in diesem Termin Frau O nochmals vernommen. Sie hat angegeben, sie werde den Kläger heiraten, sei aber nicht offiziell verlobt. In der Zeit, als sich der Unfall ereignete, sei er fast jedes Wochenende bei ihr in Neukirchen gewesen. Manchmal sei er schon freitags gekommen und Sonntagabend zurückgefahren. Sie habe ihm die gesamte Wäsche gewaschen und Strümpfe gestopft. In Rhina habe der Kläger ab und zu noch Kleider und Wäsche untergebracht und habe am Unfalltag dort von dieser Wäsche etwas geholt. In ihrer Wohnung hätten sie gemeinsam ein Zimmer eingerichtet und die Möbel gemeinsam angeschafft. Das Schlafzimmer habe sie schon gehabt und das Wohnzimmer, das etwa 2.000,- DM gekostet habe, sei im wesentlichen vom Kläger angeschafft worden. Sie habe nur 500,- DM dazugegeben. Sie hätten nicht heiraten können, weil der Kläger monatlich etwa netto 200,- DM verdient habe. Sie habe einen 16-jährigen Jungen, und man habe zu Dritt von diesem Betrag nicht leben können. Vor dem Unfall sei er längere Zeit bei ihr gewesen, weil er sich mit seinem Bruder entzweit gehabt und sie ihn aufgenommen habe. Nach dem Unfall habe sie ihn zweimal einige Wochen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus gepflegt.
Der Vertreter der Beklagten hat im Termin den Beweisantrag gestellt, den Arbeitgeber F B und den Bruder des Klägers als Zeugen dafür zu vernehmen, daß der Kläger keineswegs regelmäßig über das Wochenende von Stiedenrode abwesend gewesen sei, sondern sich häufig dort aufgehalten und wiederholt auch den elterlichen Hof besucht und bei Besuchen in Neukirchen in der Wohnung seiner Tante gewohnt habe.
Das LSG hat durch Urteil vom 13. Februar 1962 auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG Fulda vom 1. März 1961 und den Bescheid der Beklagten vom 9. Februar 1959 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Unfall vom 4. Mai 1958 als Arbeitsunfall zu entschädigen. Die Revision ist vom LSG zugelassen worden.
Zur Begründung hat das LSG u. a. ausgeführt: Eine Familienwohnung im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF müsse für längere Zeit den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse darstellen (BSG 1, 171). Es müsse kein Familienverhältnis im Sinne der familienrechtlichen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) vorliegen. Vielmehr sei ausreichend, daß der Versicherte auf Grund enger persönlicher und wirtschaftlicher Beziehungen zu einem Dritten an dessen ständigen Wohnort den tatsächlichen Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse habe (vgl. auch BSG 2, 78). Einen solchen tatsächlichen ständigen Mittelpunkt der Lebensverhältnisse habe der Kläger bei Frau O in Neukirchen gehabt. Es könne dahinstehen, ob das bei der Wohnung des weiblichen Partners eines außerehelichen Verhältnisses oder der Wohnung der Braut (verneinend OVA Lüneburg, BG 1954, 77) im Hinblick auf die relativ leichte Lösbarkeit derartiger Verhältnisse bejaht werden könne. Hier lägen schwerwiegende besondere Umstände vor. Wie sich nicht zuletzt aus der glaubhaften Aussage der Zeugin O ergebe, habe der damals 43-jährige und ledige Kläger tatsächlich auf Grund enger langdauernder persönlicher und wirtschaftlicher Beziehungen zu Frau O in deren ständiger Wohnung in Neukirchen den Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse gehabt. Zwischen ihr und dem Kläger hätten bereits seit einer Reihe von Jahren ein Verlöbnis bestanden und schon seit 1950 ein eheähnliches Verhältnis. Eine Heirat sei offenbar noch beabsichtigt, und es sei glaubhaft, daß sie nur deswegen unterblieben sei, weil Frau O in diesem Falle ihre Witwenrente verlieren würde und der Kläger ihr bei seinem geringen Einkommen nicht ausreichend Unterhalt gewähren könne, zumal da Frau O noch einen 16-jährigen Sohn besitze. Nach dem gesamten, insoweit im wesentlichen übereinstimmenden Akteninhalt sei auch ohne weitere Beweisaufnahme als erwiesen anzusehen, daß der Kläger zumindest fast jedes freie Wochenende Frau O besucht und sich hierbei in ihrer Wohnung insgesamt wesentlich länger aufgehalten habe als an jeder der anderen ihm am Wochenende zur Verfügung stehenden Unterkunftsmöglichkeiten in Stiedenrode , Rhina und Neukirchen. Auch seinen glaubhaften Äußerungen bei der Unfalluntersuchung sei zu entnehmen, daß er die Wochenendfahrt, auf der er verunglückt sei, in erster Linie unternommen habe, um "Bekannte" - d. h. Frau O zu besuchen, welche im übrigen auch mindestens den Großteil seiner Wäsche gewaschen und diese sowie seine Kleidung instand gehalten habe. Eine besonders enge persönliche Beziehung zu Frau O zeige sich auch daraus, daß sie ihn nach dem Unfall zweimal einige Wochen gepflegt habe. Im übrigen habe er, nachdem seine Eltern verstorben waren, weder zu seinem Bruder noch zu seinem Arbeitgeber engere persönliche Beziehungen unterhalten. Zu diesen persönlichen Beziehungen kämen auch noch sehr wesentliche wirtschaftliche Bindungen. Ein außergewöhnlich starkes gegenseitiges Vertrauensverhältnis ergebe sich daraus, daß der Kläger auf einem der Frau O gehörenden Grundstück ein Wohnhaus errichtet habe, was auf eine langfristige gemeinschaftliche Lebensplanung schließen lasse. Auch sei ein Wohnzimmer gemeinsam angeschafft worden. Zu keiner der "Wohnungen" in Rhina, Stiedenrode und bei seiner Tante in Neukirchen habe der Kläger auch nur annähernd so enge wirtschaftliche und persönliche Beziehungen gehabt wie zu Frau O Auch nach der Auffassung des Senats sei allerdings eine sog. Onkelehe nicht zu billigen. Bei der Auslegung des § 543 Abs. 1 RVO aF komme es jedoch allein auf die tatsächlichen Lebensumstände an. Selbst die strafrechtliche und die sozialrechtliche Bewertung eines Tatbestandes könnten voneinander abweichen, wie sich z. B. aus § 542 Abs. 2 RVO aF ergebe. Die Frage laufe letzten Endes darauf hinaus, ob dem Begriff "Familienwohnung" nicht doch ein ethischer Wert zugrunde zu legen sei, weil die innere Verbindlichkeit des Rechts auf einer Übereinstimmung mit dem Sittengebot beruhe (BGH Großer Senat NJW 1954 S. 767). Damit stelle sich die Frage, wie die Verbindung des Klägers mit Frau O ethisch zu werten sei. Abgesehen von der unterlassenen Eheschließung sei nach dem Eindruck, den der Senat aus der Vernehmung der Frau O gewonnen habe, das Verhältnis dergestalt, wie es für eine gute harmonische Ehe charakteristisch sei. Die auf Lebensdauer eingegangene Lebensgemeinschaft entbehre nicht gewisser ethischer Werte. Allein Nützlichkeitsüberlegungen hätten die Eheschließung verhindert. Wirtschaftliche Not wäre die Folge einer Eheschließung gewesen. In den Beziehungen des Klägers zu Frau O könne jedenfalls nicht ohne weiteres eine Unzucht im Sinne des Strafrechts erblickt werden. Hinzu komme, daß die an sich unerwünschten Onkelehen durch die Rechtsprechung zur Frage des Wegeunfalls praktisch nicht beeinflußt werden könnten, weit eher dagegen durch eine gesetzliche Neuregelung der Gewährung von Hinterbliebenenrenten.
Das Urteil des LSG ist dem Kläger und der Beklagten am 28. Februar 1962 zugestellt worden. Der AOK ist lediglich eine Urteilsabschrift "zur Kenntnis" übersandt worden, mit dem Bemerken, daß die Ladung zum Termin irrtümlich unterblieben sei.
Die Beklagte hat gegen das Urteil des LSG am 23. März 1962 Revision eingelegt mit dem Antrag,
das Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Fulda zurückzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Zur Begründung hat die Beklagte ausgeführt: Es möge richtig sein, daß es nicht auf das Bestehen eines familienrechtlichen Verhältnisses im Sinne des BGB ankomme. Die Grenzen der Auslegung des Begriffs der Familienwohnung seien jedoch dort erreicht, wo gegen das Sittengesetz verstoßen werde. Die Bundesrepublik bekenne sich zu bestimmten Grundsätzen als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, die Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung binden (Art. 20 Abs. 1 und 3 des Grundgesetzes - GG -). Insbesondere ständen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz des Staates (Art. 6 Abs. 1 GG). Deshalb finde die Auslegung des Begriffs der Familienwohnung dort ihre Grenze, wo ein Verstoß gegen das Sittengesetz vorliege. Der Begriff der Unzucht sei kein strafrechtlicher Begriff, sondern gelte einheitlich für alle Lebensgebiete (BGH NJW 1959 S. 1092 rechte Spalte 1. Abs. von oben). Auch der ernste Wille zur Ehe lasse eine solche Bindung noch nicht als mit dem Sittengesetz vereinbar erscheinen. Es müsse hinzukommen, daß sich der Eheschließung zwingende Hindernisse entgegenstellen, die von den Verlobten nicht zu verantworten seien und in absehbarer Zeit nicht behoben werden könnten. Hier sei die Eheschließung allein wegen der Erhaltung der Witwenrente unterblieben, ohne daß abzusehen sei, wann sich diese Umstände ändern. Deshalb könne das Verhältnis der beiden nicht die Billigung der Rechtsordnung finden. Der Besuch der Freundin sei eine private Tätigkeit.
Außerdem habe der Kläger das dem Unfall vorausgehende Wochenende gar nicht bei seiner Freundin verbracht. Er sei von Stiedenrode nach Rhina gefahren und habe sich dort am 3. und 4. Mai 1958 aufgehalten, sei dann in seinem Haus in Neukirchen gewesen und habe nur sehr spät und nur kurze Zeit seine Freundin besucht. Wenn der Kläger aber auf dem elterlichen Hof in Rhina keine Familienwohnung gehabt habe, könne auch die bei der Freundin für kurze Zeit unterbrochene Rückfahrt nicht dem Unfallversicherungsschutz unterliegen.
Außerdem rügt die Beklagte folgende Verfahrensmängel: Das LSG habe zu Unrecht ohne weitere Beweisaufnahme als erwiesen angesehen, daß der Kläger fast jedes freie Wochenende Frau O besucht und sich in ihrer Wohnung insgesamt wesentlich länger aufgehalten habe als an jeder der anderen Unterkunftsmöglichkeiten in Stiedenrode , Rhina und Neukirchen. Hierin liege ein Verstoß gegen §§ 103, 117 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - (11 RV 1280/59 vom 18. Oktober 1960 SozR SGG Nr. 59 zu § 128). Wenn das Gericht der Auskunft des Arbeitgebers Bedeutung beimaß, hätte es ihn als Zeuge hören müssen, zumal da die Auskunft nicht unter eidesstattlicher Versicherung ihrer Richtigkeit abgegeben sei (BSG 4, 60). Es bedeute eine unzulässige Vorwegnahme der Beweisergebnisse, daß das LSG entgegen dem ausdrücklichen Beweisantrag festgestellt habe, der Kläger habe sich überwiegend in der Wohnung seiner Freundin aufgehalten. Die Bekundungen des Bruders vor dem SG sprächen gegen diese Annahme. Außerdem habe das Urteil nicht erörtert, wieso der Kläger gerade am Wochenende des 3. und 4. Mai 1958 sich bei Frau O aufgehalten haben solle, obwohl durch die Aussagen dieser Zeugin in beiden Instanzen das Gegenteil feststehe. Schließlich sei unerfindlich, woher das Gericht den Eindruck gewonnen habe, daß das Verhältnis des Klägers zur Frau O dergestalt sei, wie es für eine gute harmonische Ehe charakteristisch sei. Es sei auch nicht ersichtlich, warum es sich dabei um eine auf Lebensdauer eingegangene Lebensgemeinschaft handeln solle.
Ein weiterer wesentlicher Mangel des Verfahrens liege darin, daß die beigeladene AOK nicht zum Termin geladen worden sei. Diese habe somit keine Gelegenheit gehabt, sich zu den erstmals in der Berufungsinstanz erörterten neuen Rechtsproblemen zu äußern. Es sei damit das rechtliche Gehör nicht gewährt worden.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die beigeladene AOK hat erklärt, daß sie zu den Ausführungen der Revisionsklägerin und des Revisionsbeklagten keine weiteren Anträge stellen wolle.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und somit zulässig. Sie hatte auch insofern Erfolg, als die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückverwiesen worden ist.
Die Revision wendet sich in erster Linie gegen die Auslegung des Begriffs "Familienwohnung" (§ 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF, vgl. jetzt § 550 Satz 2 RVO) durch das LSG. Diese Rügen sind nach der Auffassung des erkennenden Senats nicht begründet.
Der erkennende Senat hat bereits wiederholt, wenn auch in bezug auf anders liegende Sachverhalte, dargelegt, daß der vom Gesetzgeber gewählte Ausdruck "Familien"-Wohnung nach der Entstehungsgeschichte und dem Zweck des in § 543 Abs. 1 RVO aF eingefügten Satzes 2 nicht die Auffassung rechtfertigt, nur durch Rechtsvorschriften des bürgerlichen Rechts geregelte - und damit von der Rechtsordnung ausdrücklich anerkannte - familienrechtliche Rechtsbeziehungen seien geeignet, die Anerkennung einer Wohnung als "Familienwohnung" zu rechtfertigen (vgl. Näheres insbesondere in BSG 17, 270; 20, 110). Der Begriff der "Familienwohnung" ist vielmehr dadurch gekennzeichnet, daß sie nach der tatsächlichen Gestaltung der Verhältnisse, bei deren Prüfung insbesondere auch soziologische und psychologische Gegebenheiten zu berücksichtigen sind, für längere Dauer den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bildet und deshalb die Wohngelegenheit am Arbeitsort nur eine "Unterkunft" ist.
Bei der Auslegung des Satzes 2 des § 543 Abs. 1 RVO aF ist zu berücksichtigen, daß die Fahrten zur Familienwohnung nur ein Sonderfall der Wege nach und von der Arbeitsstätte (§ 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF) sind. Diese Wege stehen jeweils sowohl mit der versicherten Tätigkeit als auch mit dem unversicherten persönlichen Lebensbereich im ursächlichen Zusammenhang; denn einerseits müssen sie deshalb zurückgelegt werden, weil der Versicherte auf der Arbeitsstätte arbeiten muß oder auf ihr gearbeitet hat, andererseits aber werden der Ausgangspunkt der Wege zur Arbeitsstätte und das Ziel der Wege von der Arbeitsstätte im Regelfall ausschließlich durch Gründe bestimmt, die dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sind. Vor der Einfügung des § 545 a in die RVO (idF vor dem 6. Änderungsgesetz - ÄndG -) durch Artikel 2 des Zweiten Änderungsgesetzes (vom 14. Juli 1925) hatte die Rechtsprechung einen Versicherungsschutz für die Wege zur und von der Arbeit nur anerkannt, wenn nach den vorliegenden Umständen der ursächliche Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeiten ausnahmsweise eine besondere Bedeutung hatte (vgl. z. B. Schulte-Holthausen, Unfallversicherung, 4. Aufl., Anm. 1 zu § 545 a; Roewer, Zweites Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung, 2. Aufl., Anm. 3 zu Art. 2). Die Einfügung des neuen § 545 a hatte zur Folge, daß nunmehr der ursächliche Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit zumindest im Regelfall ohne weiteres für die Bejahung des Versicherungsschutzes ausreichte, so daß jedenfalls bei den unmittelbaren Wegen zwischen Arbeitsstätte und Wohnung die Lage der Wohnung als tatsächliche Gegebenheit hinzunehmen war und die Gründe für ihre Wahl keiner rechtlichen Wertung mehr bedurften. Das gilt in noch stärkerem Maße für die Fahrten zur Familienwohnung. Es ist nicht erforderlich, daß die Gründe für die besondere Gestaltung der Lebensverhältnisse mit der versicherten Arbeitstätigkeit im ursächlichen Zusammenhang stehen (vgl. z. B. BSG 2, 78). Auch wenn sie ausschließlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sind, ist eine rechtliche Wertung dieser Gründe im Regelfall entbehrlich, so daß grundsätzlich dahingestellt bleiben kann, welche Maßstäbe bei einer solchen Wertung anzulegen wären. Der vorliegende Fall bietet keine Veranlassung, die Frage zu prüfen, welche Folgerungen in einem Ausnahmefall daraus zu ziehen sein würden, wenn die Wahl eines vom Arbeitsort entfernten Mittelpunkts der Lebensverhältnisse die Begehung strafbarer Handlungen ermöglichen sollte. Der erkennende Senat stimmt mit dem LSG darin überein, daß die Frage, ob die Wohnung der Frau O in Neukirchen für den Kläger zur Zeit des Unfalls die "Familienwohnung" im Sinne des § 543 RVO aF war, nicht, wie die Revision meint, schon deshalb verneint werden kann, weil die Beziehungen zwischen dem Kläger und Frau O nicht durch eine Eheschließung legalisiert worden waren (vgl. auch zu Artikel 6 des Grundgesetzes die Urteile des 7. Senats und 4. Senats zum Begriff des "Pflegekindes" im Kindergeldrecht und in der Arbeiterrentenversicherung, BSG 13, 265, 268 und BSG 20, 26 sowie Brackmann, Handbuch der SozVers 1. - 6. Aufl. S. 690 i).
Das LSG hat die durch diese Beziehungen bedingten seelischen Bindungen mit Recht bei seinen rechtlichen Schlußfolgerungen berücksichtigt. Die Revision rügt auch zu Unrecht, daß das LSG bei seiner Überzeugungsbildung den Eindruck verwertet hat, den es bei der Vernehmung der Zeugin von deren Persönlichkeit gewonnen hatte.
Das LSG hat auch nicht verkannt, daß eine solche im Bereich des Psychischen wurzelnde Bindung für sich allein nicht ausreicht, um die Wohnung der Frau O auch für den Kläger zur "Familienwohnung" zu machen. Das LSG hat zutreffend die lange Dauer der tatsächlichen Beziehungen und die wirtschaftlichen Gesichtspunkte hervorgehoben, die für seine rechtlichen Schlußfolgerungen maßgebend waren. Insbesondere hat das LSG auch mit Recht die Feststellungen für rechtlich bedeutsam gehalten, daß der Kläger mindestens fast jedes freie Wochenende Frau O besucht und sich hierbei in ihrer Wohnung insgesamt wesentlich länger aufgehalten habe als an jeder anderen, ihm am Wochenende zur Verfügung stehenden Unterkunftsmöglichkeit in Stiedenrode , Rhina und Neukirchen.
Eine solche Feststellung ist rechtlich notwendig; denn der Kläger hatte nicht nur bei seinem Arbeitgeber Wohnung und Familienanschluß, ihm standen vielmehr, wenn er in die Gegend von Rhina und Neukirchen fuhr, dort außer der Wohnung der Frau O noch das Einsitz-Zimmer im elterlichen Hof und ein Zimmer im Haus der - nach dem Vortrag des Klägers im Schriftsatz vom 2. Februar 1960 im Zeitpunkt des Unfalls noch lebenden - Tante in Neukirchen zur Verfügung. Für die Entscheidung darüber, ob die Wohnung der Frau O tatsächlich der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Klägers gewesen ist, sind deshalb ins Einzelne gehende Feststellungen nicht nur darüber notwendig, wie häufig der Kläger an den freien Wochenenden tatsächlich von Stiedenrode abwesend war. Es muß vielmehr auch geklärt werden, in welchem Umfang der Kläger sich in seinen eigenen Zimmern in Rhina und Neukirchen aufgehalten und diese zu Wohnzwecken benutzt hat. Nur auf Grund derartiger Feststellungen ist es möglich, zu entscheiden, ob die Wohnung der Frau O für den Kläger die "Familienwohnung" oder nur das, wenn auch häufig aufgesuchte, Ziel von durch die Freundschaft zu Frau O bedingten Besuchen war.
Deshalb muß die Rüge geprüft werden, mit der die Revision die vorstehend angeführte Feststellung des LSG angreift. Die Revision rügt: Die Beklagte habe im Berufungsverfahren vorgetragen, der Kläger sei nicht regelmäßig an den freien Wochenenden von Stiedenrode abwesend gewesen und habe sich, wenn er nach Rhina und Neukirchen gefahren sei, keineswegs überwiegend bei Frau O aufgehalten. Zum Beweis hierfür habe sie ausdrücklich die Vernehmung des Arbeitgebers, des F B und des Bruders des Klägers beantragt. Unterstützend trägt die Revision vor, das Beweisergebnis spreche dafür, daß der Kläger auch an dem Wochenende des Unfalltags sich nicht bei Frau O aufgehalten, sondern sie nur vor der Rückfahrt am Spätnachmittag des Sonntags aufgesucht habe.
Diese Rüge ist begründet.
Dem LSG standen für seine Überzeugungsbildung außer der Aussage der Frau O und den Angaben des Klägers nur die verhältnismäßig kurze Niederschrift über eine Vernehmung des Bruders des Klägers vor dem SG sowie die gleichfalls kurz gehaltenen Auskünfte des F B zur Verfügung. Abgesehen davon, daß Freiherr von B die Richtigkeit der vom Berichterstatter des LSG beigezogenen Auskunft vom 2. Juli 1961 nicht an Eides Statt versichert hat (vgl. BSG 4, 60), war nicht auszuschließen, daß die Vernehmung der von der Beklagten benannten Zeugen die Richtigkeit des Sachvortrags der Beklagten bestätigen oder ein von den Angaben des Klägers und der Aussage der Frau O abweichendes oder jedenfalls vollständiges Bild der tatsächlichen Verhältnisse ergeben hätte.
Das LSG hat die gesetzlichen Grenzen des Rechts der freien richterlichen Überzeugungsbildung (§ 128 SGG) überschritten und damit zugleich seine Pflicht zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG) verletzt, indem es die von der Revision angegriffene Feststellung ohne weitere Beweiserhebung getroffen hat. Diese Feststellung ist deshalb für das Revisionsgericht nicht bindend (§ 163 SGG) und entfällt infolgedessen als Grundlage einer Revisionsentscheidung.
Da aber, wie bereits dargelegt, ohne eine solche Feststellung eine Entscheidung darüber nicht möglich ist, ob die Wohnung der Frau O die "Familienwohnung" des Klägers war, ist eine Entscheidung des Revisionsgerichts in der Sache selbst nicht möglich. Auf die insoweit begründete Revision der Beklagten hat der Senat deshalb das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Infolgedessen bedarf es keiner Prüfung, welche verfahrensrechtlichen Folgen sich daraus ergeben, daß die beigeladene AOK, wie nicht von ihr, sondern nur von der Beklagten gerügt worden ist, zu dem Termin vor dem LSG, in dem das angefochtene Urteil verkündet worden ist, versehentlich nicht geladen worden war.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen