Leitsatz (amtlich)
1. Für Radfahrer läßt sich nach den gegenwärtigen Erfahrungsunterlagen noch kein allgemeiner Grenzwert der alkoholbedingten absoluten Fahruntüchtigkeit bestimmen (Abweichung von BSG 1962-12-18 2 RN 194/60 = BSGE 18, 179).
2. Die Frage der Fahruntüchtigkeit und ihrer Kausalität für den Unfallhergang ist auf Grund genauer Prüfung aller speziellen Umstände des Einzelfalles zu beurteilen.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09, § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. August 1964 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin ist die Witwe des am 12. November 1962 kurz nach 17 Uhr bei einem Verkehrsunfall getöteten Arbeiters K B (B.). B. befand sich auf dem Heimweg von der Arbeitsstätte, den er mit dem Fahrrad zurücklegte. Er befuhr in der R Allee in L den Radweg, der - in seiner Fahrtrichtung - auf der linken Straßenseite angelegt war. Ihm entgegen kam ein Linienomnibus. Kurz bevor Omnibus und Fahrrad einander passierten, kippte B. nach rechts auf die Fahrbahn und wurde von dem Omnibus überrollt, dessen Fahrer bei dem geringen Abstand weder bremsen noch ausweichen konnte. Das Ermittlungsverfahren gegen den Omnibusfahrer wurde mangels Verschuldens eingestellt. Im Polizeibericht wurde alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des B. - Blutalkoholgehalt 1,6 0 / 00 - als wesentliche Unfallursache angenommen; die von zwei Zeugen geschilderte Behinderung des B. durch einen anderen Radfahrer wäre von einem nüchternen Radfahrer gemeistert worden. Die Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch der Klägerin ab.
Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat die Unfallzeugen vernommen, von denen zwei ausgesagt haben, ein anderer Radfahrer sei dicht an B. vorbeigefahren. Dieser habe plötzlich den linken Arm hochgerissen und unsichere Bewegungen mit dem Lenker gemacht, wonach er sogleich nach rechts auf den Fahrdamm gestürzt sei. Das SG hat durch Urteil vom 15. Januar 1964 die Klage abgewiesen: B. sei mit 1,6 0 / 00 im Unfallzeitpunkt als Radfahrer absolut fahruntüchtig gewesen (BSG 18, 179, 183). Dafür, daß seine Trunkenheit die wesentliche Unfallursache gewesen sei, spreche nach der Lebenserfahrung der erste Anschein (BSG 12, 242, 246). ohne Belang sei, daß dem B. an der linken Hand die mittleren Finger gefehlt hätten; denn an diesen Schaden habe er sich seit langem gewöhnt und angepaßt gehabt.
Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 20. August 1964 (Breith. 1965, 32 = Blutalkohol 1965, 99) die Berufung der Klägerin zurückgewiesen: Mit seiner Rechtsprechung bei einem Radfahrer sei von einem Blutalkoholgehalt von 1,5 0 / 00 an absolute Fahruntüchtigkeit gegeben (BSG 18, 179), stehe das Bundessozialgericht (BSG) in Gegensatz zum Bundesgerichtshof - BGH - (BGHSt 19, 82). Für die Ansicht des BSG sprächen ebenso viele Argumente wie für die gegenteilige Ansicht des BGH. Da in der medizinischen Wissenschaft noch keine einhellige Meinung herrsche, bestünden Bedenken, das Vorliegen absoluter Fahruntüchtigkeit festzustellen. Damit entfalle der Beweis des ersten Anscheins dafür, daß der Alkoholgenuß den Unfall rechtlich wesentlich verursacht habe; desgleichen bleibe aber auch offen, ob andere, versicherungsrechtlich erhebliche Umstände beim Zustandekommen des Unfalls mitgewirkt hätten. Die Folgen dieser Beweislosigkeit trage die Klägerin, denn zur Begründetheit ihrer Klage müsse festgestellt sein, daß der Unfall durch die Zurücklegung des Heimwegs wesentlich mitverursacht worden sei. Da sich somit die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht nachweisen ließen, sei die Klage unbegründet. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 14. September 1964 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 23. September 1964 Revision eingelegt und sie am 22. Oktober 1964 wie folgt begründet: Mit Recht sei das LSG von BSG 18, 179 abgewichen. Der Gedankengang des LSG, bei einem bestimmten Blutalkoholgehalt entfalle der für den Versicherten sprechende prima-facie-Beweis und objektive Beweisfälligkeit gehe dann zu seinen Lasten, sei jedoch nicht zu billigen. Das LSG habe unzulässigerweise rein zivilprozessuale Begriffe herangezogen. Es habe insbesondere jedoch versäumt vor Anwendung der Grundsätze über die Beweislastverteilung alle Möglichkeiten der Sachaufklärung und Beweiswürdigung auszuschöpfen.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen die Beklagte zur Entschädigungsgewährung zu verurteilen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt
Zurückweisung der Revision.
Sie meint, der Senat sollte seine Entscheidung BSG 18, 179 aufrechterhalten, die eine einfachere und klarere Lösung darstelle, als sie mit den Gedankengängen des LSG ermöglicht werde.
II
Die Revision ist zulässig. Sie hatte auch insofern Erfolg, als die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückverwiesen werden mußte.
Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 18. Dezember 1962 (BSG 18, 179, 183) auf Grund der ihm damals vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse angenommen, ein Radfahrer sei bei einem Blutalkoholgehalt von 1,5 0 / 00 an absolut fahruntüchtig. Wenig später ist der IV. Strafsenat des BGH in seinem Urteil vom 7. August 1963 (BGHSt 19, 82, 84) zu dem Ergebnis gelangt, nach den gegenwärtigen medizinischen Erkenntnissen sei kein Alkoholgrenzwert festzustellen, von dem an ein Radfahrer stets unfähig wäre, im Verkehr sicher zu fahren. Dabei hat sich der BGH ua auch mit der ihm bereits bekannten Entscheidung des BSG auseinandergesetzt und hierzu bemerkt, die darin angeführte Lehrmeinung des gerichtsmedizinischen Sachverständigen Prof. Dr. P biete noch keine Gewähr für einen medizinisch allgemein gesicherten Grenzwert; dieser Sachverständige habe an anderer Stelle erklärt, die "Dinge seien noch im Fluß".
Das LSG hätte Anlaß gehabt, zu der mit dieser Kontroverse aufgeworfenen Rechtsfrage eindeutig Stellung zu nehmen. Dieser Aufgabe ist es jedoch nicht hinlänglich gerecht geworden, denn die Gründe des angefochtenen Urteils lassen nicht klar erkennen, welchem der beiden kontroversen Standpunkte es sich anschließt. Das LSG hat lediglich festgestellt, B. habe im Unfallzeitpunkt einen Blutalkoholgehalt von 1,6 0 / 00 aufgewiesen; anschließend wird in den Entscheidungsgründen ausgeführt, es lasse sich nicht feststellen, daß B. zur Zeit des Unfalls absolut fahruntüchtig gewesen sei. Der erkennende Senat muß zur Entscheidung des Rechtsstreits zunächst dieses vom LSG offengelassene non liquet beheben.
Seit der Entscheidung des BSG vom 18. Dezember 1962 ist die Frage, ob ein absoluter Alkoholgrenzwert für Radfahrer und sonstige nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer aufgestellt werden kann, viel erörtert worden. Insbesondere war diese Frage auch Gegenstand des umfassenden Gutachtens, das vom Bundesgesundheitsamt unter dem Titel "Alkohol bei Verkehrsstraftaten" erstattet worden ist (Herausgeber die Bundesminister der Justiz und für Verkehr, Bearbeiter Lundt und Jahn, erschienen im Kirschbaum-Verlag, 2. Aufl., 1966); zu der Kommission aus namhaften Sachverständigen, die dieses Gutachten erarbeitete, gehörte übrigens auch Prof. Dr. P auf dessen Lehrmeinung der erkennende Senat sein Urteil vom 18. Dezember 1962 maßgeblich gestützt hatte; Prof. Dr. P hat - wie im Vorwort des Gutachtens (S. 8, 9) bemerkt wird - die von der Kommission gefundenen Ergebnisse gebilligt. Diese laufen für die hier interessierende Kategorie der Radfahrer darauf hinaus, daß für sie wissenschaftliche Erfahrungen fehlen, die es ermöglichen würden, schon jetzt Grenzwerte der Blutalkoholkonzentration vorzuschlagen; der Sachverständige müsse daher seine gutachtliche Beurteilung von den Umständen des Einzelfalles abhängig machen (aaO S. 46, 47, 52, 53). Der erkennende Senat hat nicht den Eindruck, daß dieses Resultat inzwischen durch neueste Erkenntnisse - etwa in der Abhandlung von Gaisbauer (Blutalkohol 1967, 204 ff) - schon als überholt zu betrachten wäre. Unter diesen Umständen sieht sich der Senat außerstande, den Leitsatz seines Urteils vom 18. Dezember 1962 aufrechtzuerhalten; vielmehr muß er dem BGH darin beipflichten, daß sich für Radfahrer nach den gegenwärtigen Erfahrungsunterlagen noch kein allgemeiner Grenzwert der alkoholbedingten absoluten Fahruntüchtigkeit bestimmen läßt.
Daraus ergibt sich zugleich die Folgerung, daß die Frage der Fahruntüchtigkeit und ihrer Kausalität für den Unfallhergang auf Grund genauer Prüfung aller speziellen Umstände des Einzelfalles zu beurteilen ist (vgl. auch BGHSt 19, 82, 85). Eine solche Prüfung läßt das angefochtene Urteil, wie die Revision zutreffend gerügt hat, völlig vermissen. Hat das LSG bereits die Frage der Fahruntüchtigkeit unentschieden gelassen, so findet sich erst recht nicht einmal der Ansatz einer Abwägung der verschiedenen Kausalfaktoren, von denen die nicht mit dem Alkoholgenuß zusammenhängenden lediglich im Tatbestand aufgeführt, in den Entscheidungsgründen aber überhaupt nicht einzeln gewürdigt werden. Dabei weist der vorliegende Sachverhalt, wie die Revision mit Recht geltend macht, eine Reihe besonderer Eigentümlichkeiten auf, die eine sorgfältige Prüfung erfordern. So hätten sich die Tatrichter nach Lage des Falles bereits gedrängt fühlen müssen, die Beschaffenheit des Radfahrweges - unter Umständen durch Ortsbesichtigung - genauer zu klären, denn das Fahren am Rande eines solchen - unmittelbar an eine Autostraße grenzenden - Weges kann eine besondere Gefährdung darstellen, welche sich von den üblichen Straßenverkehrsverhältnissen abhebt. Im Bereich der Beweiswürdigung bedurfte es einer kritischen Auseinandersetzung mit den Angaben der Zeugen, von denen einige einen anderen Radfahrer beobachtet haben wollen, der im letzten Augenblick vor dem Unfall den Ehemann der Klägerin passierte; dies und das weiterhin geschilderte ungewöhnliche Verhalten des B. - im Zusammenhang mit dessen Handverstümmelung gewürdigt - könnte auf eine der Zurücklegung des Heimwegs zuzurechnende Unfallgefahr hindeuten, der bei Prüfung der Frage, ob der Alkoholgenuß als rechtlich allein wesentliche Ursache anzusehen ist, ausschlaggebende Bedeutung zukäme. Von einer hinlänglichen Wertung aller dieser Einzelumstände ist im angefochtenen Urteil nicht die Rede. Ihm ist nicht einmal zu entnehmen, ob nach Ansicht des LSG im Unfallzeitpunkt ein anderer Radfahrer nahe an B. vorbeigekommen ist oder nicht.
Für die Ausführungen des LSG zu den Fragen der Beweislosigkeit und der Beweislastverteilung fehlt es hiernach an der unumgänglichen Vorstufe einer erschöpfenden Prüfung aller besonderen Umstände des Einzelfalles. Schon aus diesem Grunde kann das Berufungsurteil nicht bestehen bleiben. Mangels ausreichender Feststellungen ist dem Senat eine Entscheidung in der Sache selbst nicht möglich, so daß die Sache gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes an die Vorinstanz zurückverwiesen werden muß.
Der erkennende Senat hat keinen Anlaß, seinen Standpunkt zur Frage der Beweislastverteilung (vgl. BSG 7, 249, 254; 13, 10, 12) auf Grund der Ausführungen des LSG zu überprüfen. Er hält es jedoch für angebracht, insoweit auf die Abhandlung von Krasney (BG 1967, 312 ff) hinzuweisen, die den gegenwärtigen Stand der Auffassungen wiedergibt.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 2324463 |
BSGE, 40 |
NJW 1968, 75 |
MDR 1968, 85 |