Leitsatz (amtlich)
NVG § 4 Abs 3 vom 1949-08-22 ist außer Kraft getreten, soweit Renten nach den Vorschriften der RVO in der Fassung des ArVNG festzustellen sind (Anschluß an BSG 1967-05-09 1 RA 295/65 = BSGE 26, 251).
NVG § 4 Abs 4 vom 1949-08-22 ist weiterhin - sinngemäß - anwendbar, so daß ein Ausgleich für einen durch die Berechnungsweise neuen Rechts nicht gedeckten Schaden möglich ist.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 3 § 2 Fassung: 1957-02-23; NVG § 4 Abs. 3 Fassung: 1949-08-22, Abs. 4 Fassung: 1949-08-22
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 10. November 1964 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, in welcher Weise die Zeit des durch politische Verfolgung verursachten Auslandsaufenthalts der Klägerin bei der Berechnung ihrer Versichertenrente zu berücksichtigen ist.
Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) war die - als Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannte - Klägerin von 1923 an in Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt. Zunächst gehörte sie der Invalidenversicherung an, später der Angestelltenversicherung. Anläßlich ihrer Heirat im Jahre 1934 wurden ihr die Beiträge aus der Angestelltenversicherung erstattet. Im September 1938 wanderte sie nach Argentinien aus; dort lebt sie heute noch.
Mit Bescheid vom 12. Juni 1963 bewilligte die Beklagte der Klägerin Rente wegen - nach 1956 eingetretener - Berufsunfähigkeit vom 1. März 1962 (Antragsmonat) an. Die Zeit der politischen Verfolgung (1. September 1938 bis 31. Dezember 1949) berücksichtigte die Beklagte als Ersatzzeit im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO), und zwar mit 592 Wochen (= 137 Monaten).
Die mit der Begründung erhobene Klage, entgegen der Auffassung der Beklagten müßten die Verfolgungszeiten - statt nur als Ersatzzeiten - nach § 4 Abs. 3 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung ( VerfolgtenG ) als Beitragszeiten - mit Beiträgen mindestens der Klasse 4 - berücksichtigt werden, hatte beim Sozialgericht und LSG Erfolg. Das LSG hat in den Entscheidungsgründen ua ausgeführt, der Gesetzgeber habe die Verfolgten so stellen wollen, als ob während der Verfolgungszeiten Beiträge zur Rentenversicherung geleistet worden wären. Deshalb sei § 4 VerfolgtenG eine über die Vorschriften der Rentenversicherung hinausgehende Sonderbestimmung des Entschädigungsrechts und als solche nicht durch das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) außer Kraft gesetzt worden. § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO sei lediglich an die Stelle des § 3 VerfolgtenG getreten. Damit sei diese Vorschrift durch Art. 3 § 2 ArVNG aufgehoben. § 4 VerfolgtenG sei dagegen weiterhin anzuwenden. Infolgedessen sei die Beklagte verpflichtet, die Verfolgungszeit von 137 Monaten bei der Klägerin wie eine Beitragszeit - mit Steigerungsbeträgen nach der 4. Beitragsklasse - zu berücksichtigen.
Die Beklagte hat die - zugelassene - Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO. Auch § 4 Abs. 1 bis 4 VerfolgtenG sei durch die Rentenneuregelungsgesetze von 1957 gegenstandslos geworden. Nach dem seit 1957 geltenden Rentenrecht gehöre eine Verfolgungszeit zu den Ersatzzeiten und sei nur wie diese zu behandeln.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für richtig; sie lehnt insbesondere die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 9. Mai 1967 - 1 RA 295/65 -, daß § 4 Abs. 3 VerfolgtenG außer Kraft getreten sei, ab.
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.
Der Beklagten ist darin zuzustimmen, daß sich der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch auf Erhöhung ihrer Rente nicht aus § 4 Abs. 3 VerfolgtenG ergibt. Diese Vorschrift ist für Versicherungsfälle nach 1956 durch das ArVNG außer Kraft gesetzt worden (Art. 3 § 2 ArVNG). Für das Recht der Angestelltenversicherung hat das BSG diese Rechtsfolge durch das bereits erwähnte Urteil vom 9. Mai 1967 ausgesprochen. Der erkennende Senat sieht keinen Anlaß, hiervon im Rahmen der Arbeiterrentenversicherung abzuweichen (vgl. auch Urteil des BSG vom 31. Mai 1967 - 12 RJ 80/66 -). Die Beibehaltung dieser Vorschrift ist auch nicht, wie das LSG angenommen hat, aus dem - dem VerfolgtenG zugrunde liegenden - Gedanken der Wiedergutmachung erlittenen Unrecht (BSG 10, 113; 13, 65, 67) erforderlich. Soweit sie nämlich während der Verfolgungszeiten einen Mindest-Arbeitsverdienst (Beiträge "mindestens nach den Sätzen der 4. Beitragsklasse") unterstellt, geht sie über die Behebung des tatsächlich eingetretenen - nämlich möglicherweise geringeren - Schadens hinaus. Eine solche Regelung gehört nicht zum Wesen des Schadensersatzes (vgl. § 249 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Der erlittene Schaden findet sein Berücksichtigung in § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG . Seine Geltendmachung bleibt unberührt, damit das Prinzip der Wiedergutmachung gewahrt. Die Frage nämlich, ob § 4 Abs.4 und 5 VerfolgtenG auch für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen nach 1956 noch - sinngemäß - anwendbar ist, eine Frage, die das BSG in seiner Entscheidung vom 9. Mai 1967 offengelassen hat, wird vom erkennenden Senat bejaht; ein Ausgleich für einen durch die Berechnungsweise neuen Rechts nicht gedeckten Schaden ist daher möglich.
Durch das VerfolgtenG soll - wie das BSG wiederholt ausgesprochen hat - die Wiedergutmachung eines durch Verfolgungsmaßnahmen verursachten Schadens in der Sozialversicherung des Verfolgten gewährleistet werden. Ihm muß es deshalb unbenommen bleiben, einen Schaden, der durch Ausfall oder Minderung des Arbeitsentgelts während der Verfolgungszeiten entstanden ist und der sich bei der Ermittlung der für ihn maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage auswirkt, geltend zu machen. Dies folgt aus § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG . Ein Schadensausgleich ist hiernach zu gewähren, wenn glaubhaft gemacht wird, daß der Verfolgte während der Verfolgungszeiten einen Arbeitsverdienst erzielt hätte, der seine Rentenbemessungsgrundlage und damit seine Rente erhöhen würde. Diese Sonderregelungen werden von der allgemeinen Bestimmung des Art. 3 § 2 ArVNG, wonach alle dem ArVNG entgegenstehenden oder gleichlautenden Vorschriften außer Kraft getreten sind, nicht erfaßt. Eine Vorschrift, durch die den Verfolgten ein Ausgleich dafür gewährt würde, daß sie infolge von Verfolgungsmaßnahmen keinen oder einen niedrigeren Verdienst erhalten haben als zu erwarten gewesen wäre, ist im ArVNG nicht enthalten. Auch sind keine Umstände ersichtlich, aus denen sich ergeben könnte, daß der Gesetzgeber mit dem Inkrafttreten des ArVNG von dem Entschädigungsprinzip, wie es das VerfolgtenG normiert hat, abweichen wollte. Die Möglichkeit, einen konkreten Verfolgungsschaden geltend zu machen, ist weder ausdrücklich ausgeschlossen noch ist eine anderweitige Regelung getroffen worden, die dem Grundgedanken der Absätze 4 und 5 des § 4 VerfolgtenG Rechnung trägt. Die Entziehung der Möglichkeit, Wiedergutmachung zu erlangen, hätte - nach der Meinung des Senats - der ausdrücklichen Erwähnung im Gesetz bedurft. Insbesondere § 4 Abs. 5 VerfolgtenG erfaßt einen Sachverhalt, der im ArVNG unberücksichtigt geblieben ist, nämlich das Eingehen eines anderen - ungünstigeren - Arbeitsverhältnisses; in § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO sind nur Freiheitsentziehung, Arbeitslosigkeit und Auslandsaufenthalt erwähnt. Allerdings ist eine wörtliche Anwendung der Absätze 4 und 5 des § 4 VerfolgtenG nicht mehr möglich, einmal deshalb nicht, weil hier auf den außer Kraft getretenen Abs. 3 des § 4 VerfolgtenG Bezug genommen wird, zum anderen nicht, weil diese Vorschriften auf das vor 1957 in Kraft gewesene Rentenrecht, wonach sich die Höhe einer Rente wesentlich nach den Steigerungsbeträgen richtete, abgestellt sind und ihr Wortlaut nicht mehr zum System, insbesondere nicht mehr zur Rentenformel des ArVNG paßt. Diese Sondervorschriften müssen vielmehr sinngemäß angewandt, d.h. der Rechtslage, wie sie sich auf Grund des ArVNG ergibt, angepaßt werden. Es müssen also die Arbeitsentgelte, die der Verfolgte während der Verfolgungszeit - glaubhafterweise - verdient haben würde, mitberücksichtigt werden, falls dies zu einer für ihn günstigeren Rentenbemessungsgrundlage führt. Es bedarf der Übernahme der im VerfolgtenG enthaltenen Grundgedanken in das neue Rentenrecht, wenn der Versicherte glaubhaft macht, daß er während der Verfolgungszeit einen Arbeitsverdienst erzielt hätte, bei dessen Zugrundelegung sich eine höhere Rente ergibt.
Das LSG durfte deshalb seine Entscheidung nicht auf § 4 Abs. 3 VerfolgtenG stützen, wie es dies offensichtlich getan hat, obschon in den Entscheidungsgründen auf § 4 VerfolgtenG insgesamt verwiesen worden ist. Gleichwohl hätte das LSG unter Umständen zum gleichen oder einem ähnlichen Ergebnis kommen können; es hätte nämlich prüfen müssen ob der Anspruch der Klägerin auf eine höhere Rente aus § 4 Abs. 4 VerfolgtenG begründet ist. Sein Urteil, das den Anspruch der Klägerin in Anwendung des § 4 Abs. 3 VerfolgtenG bejaht, muß aufgehoben werden. Der erkennende Senat vermag aber nicht in der Sache selbst zu entscheiden. Das Urteil des LSG enthält keine Feststellungen, die es erlauben, schon jetzt über den Rentenanspruch unter sinnentsprechender Berücksichtigung des § 4 Abs. 4 VerfolgtenG - Abs.5 aaO kommt nach den bisherigen Feststellungen wohl nicht in Betracht - zu befinden. Der Klägerin muß Gelegenheit geboten werden, dafür Tatsachen vorzutragen und glaubhaft zu machen. Der Rechtsstreit ist daher nach § 170 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes an das LSG zurückzuverweisen.
Bei der neuen Entscheidung wird das LSG auch zu beachten haben, daß im Laufe des Verfahrens vor dem BSG ein Rentenbescheid von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte erlassen worden ist.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen