Orientierungssatz

Anwendbarkeit von § 4 Abs 3 bis 5 des Gesetzes über die Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung (NVG) nach Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungsneuregelungsgesetzes (ArVNG):

Für nach 1956 eingetretene Versicherungsfälle ist NVG § 4 Abs 3 durch ArVNG Art 3 § 2 außer Kraft gesetzt worden. Die Absätze 4 und 5 des NGV § 4 gelten jedoch sinngemäß fort, weil auf diese Weise dem Wiedergutmachungsprinzip, das im Rahmen der Rentenversicherung Verfolgten gegenüber zu beachten ist, Rechnung getragen wird (vgl BSG 1967-06-29 4 RJ 633/64).

 

Normenkette

NVG § 4 Abs. 3-5; ArVNG Art. 3 § 2

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 15.12.1964)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 15. Dezember 1964 wird aufgehoben, soweit die Beklagte verurteilt worden ist. Insoweit wird der Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, in welcher Weise die Zeit der durch politische Verfolgungsmaßnahmen bedingten Arbeitslosigkeit der Klägerin bei der Berechnung der Höhe ihrer Versichertenrente zu bewerten ist.

Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) handelt es sich dabei um die Zeit vom 1. März 1943 bis 1. Mai 1945. Zuvor gehörte die Klägerin der Invalidenversicherung an. Im November 1947 wanderte sie in die Vereinigten Staaten von Amerika aus; dort lebt sie heute noch.

Ihr im August 1961 gestellter Antrag auf Gewährung der Versichertenrente blieb zunächst ohne Erfolg. Während des Verfahrens vor dem Sozialgericht (SG) hat die Beklagte den Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Januar 1963 an anerkannt und bei Festsetzung der Höhe der Rente eine Ersatzzeit von 27 Monaten - die Zeit vom 1. März 1943 bis 1. Mai 1945 - berücksichtigt (§ 1251 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Die Klage, mit der die Klägerin die Anrechnung der Verfolgungszeit als Beitragszeit mit Beiträgen nach einem Arbeitsverdienst von insgesamt 3.077,14 RM (§ 4 Abs. 3 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten in der Sozialversicherung - VerfolgtenG -) begehrt und die Gewährung der sich danach ergebenden höheren Rente beantragt hatte, ist ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat dagegen die Beklagte entsprechend verurteilt. In den Entscheidungsgründen ist dazu ausgeführt: Der Gesetzgeber habe die Verfolgten so stellen wollen, als ob während der Verfolgungszeit Beiträge zur Rentenversicherung erbracht worden wären.

Deshalb sei § 4 VerfolgtenG eine über die Vorschriften der Rentenversicherung hinausgehende Sonderbestimmung des Entschädigungsrechts und als solche nicht durch das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) außer Kraft gesetzt worden. § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO sei lediglich an die Stelle des § 3 VerfolgtenG getreten. § 4 VerfolgtenG sei dagegen weiterhin anzuwenden. Infolgedessen sei die Beklagte verpflichtet, die Verfolgungszeit der Klägerin wie eine Beitragszeit zu behandeln.

Die Beklagte hat die - zugelassene - Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO. Auch § 4 Abs. 1 bis 4 VerfolgtenG sei durch die Rentenneuregelungsgesetze von 1957 gegenstandslos geworden. Nach dem seit 1957 geltenden Rentenrecht gehöre eine Verfolgungszeit zu den Ersatzzeiten und sei daher wie diese zu behandeln. Sie beantragt - sinngemäß -,

das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit die Beklagte zur Zahlung einer höheren Rente verurteilt worden ist, und die Berufung in vollem Umfang zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für richtig.

Die Revision führt zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils in dem angefochtenen Umfang.

Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch auf Erhöhung ihrer Rente ergibt sich nicht aus § 4 Abs. 3 VerfolgtenG . Für nach 1956 eingetretene Versicherungsfälle - wie bei der Klägerin - ist diese Vorschrift durch Art. 3 § 2 ArVNG außer Kraft gesetzt worden.

Dies hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 29. Juni 1967 - 4 RJ 633/64 - bereits ausgesprochen. Dort ist aber weiter entschieden, daß die Absätze 4 und 5 des § 4 VerfolgtenG sinngemäß fortgelten, weil auf diese Weise dem Wiedergutmachungsprinzip, das im Rahmen der Rentenversicherung Verfolgten des Nationalsozialismus gegenüber zu beachten ist, Rechnung getragen wird. Dem Verfolgten muß es unbenommen bleiben, einen Schaden, der durch Ausfall oder Minderung des Arbeitsentgelts während der Verfolgungszeiten entstanden ist und der sich bei der Ermittlung der für ihn maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage auswirkt, geltend zu machen. Die Entziehung der Möglichkeit, Wiedergutmachung, so wie sie in § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG normiert worden ist, zu beanspruchen, hätte - nach der Meinung des Senats - der ausdrücklichen Erwähnung im Gesetz bedurft. Dies ist jedoch nicht geschehen.

Eine wörtliche Anwendung der Absätze 4 und 5 des § 4 VerfolgtenG ist jedoch nicht mehr möglich, weil hier auf den außer Kraft getretenen Absatz 3 des § 4 VerfolgtenG Bezug genommen wird und weil jene Vorschriften auf das frühere Rentenrecht abgestellt sind, ihr Wortlaut also nicht mehr zum System - insbesondere der Rentenformel - des ArVNG paßt. Es hat vielmehr eine sinngemäße Anwendung zu erfolgen. Die Arbeitsentgelte, die der Verfolgte während der Verfolgungszeit - glaubhafterweise - verdient haben würde, müssen mitberücksichtigt werden, wenn dies zu einer für ihn günstigeren Rentenbemessungsgrundlage führt. Es ist demnach notwendig, die im VerfolgtenG enthaltenen Grundgedanken in das neue Rentenrecht zu übernehmen, wenn der Versicherte glaubhaft macht, daß er während der Verfolgungszeit einen Arbeitsverdienst erzielt hätte, bei dessen Zugrundelegung sich eine höhere Rente ergibt.

Das LSG durfte deshalb seine Entscheidung nicht auf § 4 Abs. 3 VerfolgtenG stützen, wie es dies - wenn auch in den Entscheidungsgründen auf § 4 VerfolgtenG insgesamt verwiesen worden ist - offensichtlich getan hat. Dennoch hätte das LSG u.U. zum gleichen oder einem ähnlichen Ergebnis gelangen können. Es hätte nämlich prüfen müssen, ob der Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer höheren Rente aus § 4 Abs. 4 VerfolgtenG begründet ist. Das angefochtene Urteil des LSG muß daher in dem angefochtenen Umfang aufgehoben werden. Der erkennende Senat vermag jedoch nicht in der Sache selbst zu entscheiden. Das Urteil des LSG enthält keine Feststellungen, die es erlauben, schon jetzt über den Rentenanspruch unter sinngemäßer Berücksichtigung des § 4 Abs. 4 VerfolgtenG - Abs. 5 aaO kommt nach den bisherigen Feststellungen wohl nicht in Betracht - zu befinden. Der Klägerin muß Gelegenheit gegeben werden, dafür Tatsachen vorzutragen und glaubhaft zu machen. Der Rechtsstreit ist daher nach § 170 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2365078

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