Leitsatz (amtlich)
1. Das Recht auf Anfechtung eines Verwaltungsaktes kann verwirkt werden. Die Verwirkung setzt auch hierbei voraus, daß neben dem Zeitablauf weitere Umstände hinzutreten, welche das späte Geltendmachen des Rechts mit der Wahrung von Treu und Glauben als nicht vereinbar erscheinen lassen.
2. VwZG § 9 Abs 2 hindert den Ablauf der Rechtsmittel- und Rechtsmittelbegründungsfrist, beläßt es aber im übrigen bei dem sich aus Abs 1 dieser Vorschrift ergebenden Grundsatz. Ein nicht formgerecht zugestellter Bescheid über eine Rentenherabsetzung (RVO § 623 Abs 2) gilt demnach in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem ihn der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat.
Normenkette
RVO § 623 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30; VwZG § 9 Abs. 1-2; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. Dezember 1969 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der am 29. Januar 1935 geborene Kläger erlitt im April 1950 einen Arbeitsunfall. Die Beklagte gewährte ihm wegen der Unfallfolgen Rente zuletzt nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 25 v. H. Sie entzog ihm mit Bescheid vom 9. Januar 1953 die Rente. Der Bescheid War an den Vater des Klägers adressiert und enthielt an Schluß folgenden Stempelaufdruck: "Lederindustrie-Berufsgenossenschaft Sektion VI, Rentenausschuß, Vertreter der Unternehmer: gez. Dr. E. J; Vertreter der Versicherten: gez. W. W".
Unter dem 13. Februar 1967 schrieb der Kläger an die Beklagte, er habe in Erfahrung gebracht, daß bei einem gleichen Fall, Verlust des rechten Daumens bis zum Grundgelenk, Rente nach einer MdE um 20 % gewährt werde. Er bäte, ihm auch eine entsprechende Rente zu zahlen.
Mit Schreiben vom 9. März 1967 machte der Bevollmächtigte des Klägers geltend, der Bescheid vom 9. Januar 1953 sei nicht bindend geworden, da er lediglich unterstempelt, nicht aber unterschrieben sei. Vorsorglich erkläre er, daß sein Schreiben als Berufung gegen den Bescheid vom 9. Januar 1953 aufzufassen sei.
Die Beklagte erwiderte am 12. April 1967, eine handschriftliche Unterzeichnung des Bescheides sei nicht erforderlich. Die Klagefrist sei abgelaufen.
Der Kläger hat am 8. Mai 1967 Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und ausgeführt: Die Schreiben der Beklagten vom 12. April und 4. September 1967 seien als Verwaltungsakte anzusehen, mit denen die Beklagte sinngemäß eine Neufeststellung der Leistungen abgelehnt habe. Die Klage sei aber nicht begründet. Die Rente sei zu Recht entzogen worden. Die Unfallfolge habe sich nicht verschlimmert.
Der Kläger hat Berufung eingelegt.
Im Berufungsverfahren hat die Beklagte vorsorglich die Einrede der Verjährung erhoben.
Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. März 1963 für die Folgen des Unfalls vom 3. April 1950 Rente nach einer MdE um 25 v. H. zu bewilligen. Das LSG hat zur Begründung u. a. ausgeführt: Es gehe davon aus, daß der Bescheid der Beklagten vom 9. Januar 1953 durch das zuständige Organ der Beklagten ordnungsgemäß beschlossen worden sei. Feststellungen hierüber seien nicht möglich, da die Akten der Beklagten vernichtet seien. Es unterstelle des weiteren, daß die Urschrift des Bescheides vom 9. Januar 1953 gemäß § 1589 RVO ordnungsgemäß von den Mitgliedern des Rentenausschusses unterschrieben sei. Für den von der Beklagten ordnungsgemäß beschlossenen Verwaltungsakt sei jedoch gem. § 1569 a RVO eine förmliche Feststellung vorgeschrieben, und nach § 1583 RVO sei von der zur Feststellung berufenen Stelle ein schriftlicher Bescheid zu erteilen. Schriftform bedeute in diesem Falle, daß nicht nur der Beschluß über die getroffene Entscheidung, sondern auch der Bescheid, der an den Kläger zuzustellen sei, von den Mitgliedern des Rentenausschusses zu unterschreiben sei, falls die damalige Satzung der Beklagten keine Befugnis darüber enthalten habe, daß der Geschäftsführer der Beklagten befugt gewesen sei, die Bescheide des Rentenausschusses auszufertigen. Der Senat lasse dahingestellt, ob die Beklagte in ihrer damaligen Satzung von der Möglichkeit Gebrauch gemacht habe; denn das Schriftstück, das der Kläger bzw. sein Vater erhalten habe, stelle zweifelsfrei keine Ausfertigung dar. Es fehlten in diesem Schriftstück die Bezeichnung als Ausfertigung, der Ausfertigungsvermerk und die Unterschriften der Mitglieder des Rentenausschusses. Diese Unterschriften seien nicht durch einen Namensstempel hinzugefügt worden. Es seien durch Stempel lediglich die Namen der Mitglieder des Rentenausschusses angegeben. Der Beschluß der Beklagten über die Erteilung des Bescheides zur Entziehung der Rente sei dem Kläger bzw. seinem gesetzlichen Vertreter daher nicht formgemäß und demgemäß trotz der Übermittlung der unbeglaubigten Abschrift nicht wirksam bekanntgegeben. Der Bescheid sei dem Kläger daher entgegen der Vorschrift des § 1583 RVO noch nicht "erteilt" worden. Zu der gleichen Rechtsfolge, daß eine wirksame Rentenentziehung nicht vorliege, führe auch, daß die Beklagte dem Kläger den Beschluß über die Rentenentziehung vom 9. Januar 1953 nicht wirksam zugestellt habe. Für die beabsichtigte Rentenentziehung sei gem. § 610 RVO aF ausdrücklich die Zustellung vorgeschrieben gewesen. Das Schriftstück, das der Kläger bzw. sein gesetzlicher Vertreter erhalten habe, sei keine Bescheid-Urschrift; denn auf dem Schriftstück fehle jede Unterschrift. Aus dem gleichen Grunde sei das Schreiben keine Ausfertigung und keine beglaubigte Abschrift. Der Bescheid sei daher nicht ordnungsgemäß zugestellt. Da die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat jedoch die Einrede der Verjährung erhoben habe, sei hinsichtlich der vom Kläger für die Vergangenheit erhobenen Ansprüche § 29 Abs. 3 RVO zu beachten.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie führt aus: In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg hätten die Bescheide, die den Verletzten und den Hinterbliebenen zugesandt wurden, keinen Ausfertigungsvermerk enthalten und seien auch sonst nicht handschriftlich oder durch Faksimilestempel unterzeichnet worden. Das aus dem Bescheid an den Vater des Klägers ersichtliche Verfahren sei vielmehr damals üblich gewesen. Es sei offensichtlich von keiner Seite, insbesondere nicht von Dienstaufsichtsbehörden der beteiligten Berufsgenossenschaften, beanstandet worden. Das Klagerecht sei zudem nach 14 Jahren verwirkt.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung bzw. entsprechender Abänderung des angefochtenen Urteils nach den Anträgen in der Vorinstanz, insbesondere im Ergebnis auf Klageabweisung,
hilfsweise aber auf Zurückverweisung an die Vorinstanz zu erkennen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er führt aus, die Beklagte habe auch ihm selbst keine Ausfertigung des Bescheides vom 9. Januar 1953 übersandt. Eine Zustellung an ihn wäre damals auch unwirksam gewesen, weil er noch minderjährig gewesen sei.
Mit Bescheid vom 25. März 1970 hat die Beklagte die dem Kläger "wegen des Arbeitsunfalls vom 3. April 1950 vom LSG Baden-Württemberg zugesprochene Dauerrente von 25 v. H. der Vollrente mit Ablauf des auf die Zustellung dieses Bescheides folgenden Monats entzogen".
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind erfüllt.
Die zulässige Revision ist insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Die Klage richtet sich, wovon das Berufungsgericht zutreffend ausgegangen ist, gegen den Bescheid vom 9. Januar 1953 und damit gegen die Entziehung der Rente und nicht, wie das SG gemeint hat, gegen einen Verwaltungsakt der Beklagten über die Wiedergewährung der entzogenen Rente. Ob der Bescheid vom 9. Januar 1953 vorschriftsmäßig ausgefertigt war, ist für die Beurteilung der Frage, ob ein Verwaltungsakt vorliegt, rechtlich unerheblich; denn auch eine nicht vorschriftsmäßig ausgefertigte Regelung ist kein nichtiger, sondern ein nur gegebenenfalls wegen Rechtswidrigkeit anfechtbarer Verwaltungsakt (vgl. zur Nichtigkeit von Verwaltungsakten u. a. BSG 24, 162, 165 ff).
Der Bescheid vom 25. März 1970 ist nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens (s. § 171 Abs. 2 SGG).
Der Bescheid der Beklagten vom 9. Januar 1953 ist nach Ablauf der Monatsfrist nicht bindend geworden.
Die formgerechte Zustellung des Bescheides vom 9. Januar 1953 ist, nicht nachweisbar.
Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) vom 3. Juli 1952 (BGBl I 379) besteht die Zustellung in der Übergabe eines Schriftstücks in Urschrift oder Ausfertigung oder beglaubigter Abschrift oder in dem Vorlegen der Urschrift. An dieser Voraussetzung fehlt es hier. Der Bescheid vom 9. Januar 1953 ist nicht in Urschrift übergeben worden. Die Vorlage der Urschrift ist nicht nachgewiesen. Der dem Vater des Klägers übersandte Bescheid ist auch weder beglaubigt noch ausgefertigt. Ob dem Kläger selbst ebenfalls ein Bescheid zugesandt worden ist und ob der Bescheid anders als die dem Vater des Klägers übersandte Durchschrift und entgegen der Auskunft der die für den Kläger zuständige Sektion damals betreuenden Süddeutschen Edel- und Unedelmetall-BG vom 15. Mai 1970 ausgefertigt oder beglaubigt war, kann dahinstehen. Nach § 7 Abs. 1 VwZG ist bei Geschäftsunfähigen oder beschränkt Geschäftsfähigen an den gesetzlichen Vertreter zuzustellen. Schon vor dem Inkrafttreten des SGG konnten allerdings Minderjährige, die - wie der Kläger im Zeitpunkt der Erteilung des Bescheides vom 9. Januar 1953 - das 16. Lebensjahr vollendet hatten, selbständig den Antrag auf Leistungen aus der Unfallversicherung für sich stellen und verfolgen (s. § 1546 Abs. 1 Satz 2 RVO idF vor Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes - UVNG - vom 30.4.1963 - BGBl I 241 - RVO aF). Es bedarf keiner Entscheidung, ob dieser allgemeinen Vorschrift gegenüber § 7 Abs. 1 VwZG als speziellere Vorschrift vorrangig war (vgl. zu § 71 Abs. 1 SGG Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-7. Aufl., S. 236 m). Auch nach § 1546 Abs. 1 Satz 2 RVO aF waren Handlungen des Versicherungsträgers dem Minderjährigen gegenüber nur vorzunehmen, wenn er das Verfahren betrieb (vgl. Brackmann aaO S. 234 i zu § 1613 Abs. 6 RVO). Die Beklagte hat dem Kläger die Rente jedoch von Amts wegen entzogen, so daß eine wirksame Zustellung bis zu einer Verfolgung der erst dadurch in Streit geratenen Leistung durch den Kläger selbst an den gesetzlichen Vertreter zu erfolgen hatte.
Die nicht nachweisbare formgerechte Zustellung hat die Berufungsfrist und später nach Inkrafttreten des SGG die Klagefrist nicht in Lauf gesetzt (s. § 9 Abs. 2 VwZG).
Der Beklagte macht in der Revisionsinstanz geltend, der Kläger habe sein Klagerecht verwirkt. Die Verwirkung ist eine Rechtsfolge, die unabhängig davon eintritt, ob der Gegner des von ihr Betroffenen sich im Einzelfall darauf beruft (s. u. a. BGH RzW 1967, 89; Zeiss, Die arglistige Prozeßpartei, 1967, S. 136). Sie ist auch in der Revisionsinstanz zu beachten, wenn die Tatsachen dazu in der Tatsacheninstanz festgestellt sind (vgl. Nastelski in BGB - RGRK, 11. Aufl., 1960, § 242 Anm. 223). Rechtsprechung und Schrifttum sind nunmehr überwiegend der Auffassung, daß auch das Anfechtungs- bzw. Klagerecht verwirkt werden kann (s. u. a. BVerfG NJW 1972, 675; BVerwG 5, 261, 262; 7, 54, 56; BVerwG VerwRechtspr. 13, 838, 839; BVerwG DVBl 1956, 520, Bayer. VerwBl 1959, 154 und 1971, 24; BFH BStBl 1958 III S. 352, 353; BGHZ 43, 289, 292; 48, 351, 354; BGH RzW 1967, 89 und 1970, 76 = MDR 1970, 138; BAG 11, 353, 354 = AP Nr. 1 zu § 242 BGB - Prozeßverwirkung - mit krit. Anm. v. Bötticher; BAG BB 1962, 181; Bayer. VerfGH DöV 1962, 61, 62; OLG Koblenz RzW 1962, 328; OLG Düsseldorf RzW 1963, 33; Eyermann/Fröhler, VwGO, 5. Aufl., 1971, § 58 Rdn. 13; Köhler, Kommentar zur VwGO, 2. Aufl., 1964, vor § 124, Einf. C, S. 572; Ziemer/Birkholz, FGO, 2. Aufl., 1970, § 47 Rdn. 20; Stein/Jonas/Pohle, Kommentar zur ZPO, 19. Aufl., § 567 Anm. IV 3; Wieczorek, ZPO, § 256 Anm. C; Knopp in Soergel/Siebert, BGB, 10. Aufl., 1967, § 242 Rdn. 329; Weber in Staudinger, Kommentar zum BGB, 11. Aufl., 1961, § 242 Anm. D 746; Palandt/Heinrichs, BGB, 31. Aufl., 1972, § 242 Anm. 9 f; Zeiss aaO S. 142 ff.; Stich DVBl 1956, 325; Küper JuS 1972, 127, 128; aA OVG Rheinland-Pfalz AS Bd 4 S. 3, 6 und 76, 79; Baumgärtl ZZP Bd. 75 (1962) S. 385; Bötticher aaO; Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, 1970, S. 188 ff. und NJW 1972, 1025). Die Voraussetzungen einer Verwirkung des Klagerechts des Klägers sind jedoch nicht gegeben. Die Verwirkung ist ein Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung. Sie unterscheidet sich von der Verjährung dadurch, daß der bloße Zeitablauf nicht genügt, um die Ausübung des Rechts als unzulässig anzusehen. Zu dem Ablauf einer längeren Zeitspanne müssen besondere Umstände hinzutreten, welche die späte Geltendmachung des Rechts mit der Wahrung von Treu und Glauben als nicht vereinbar und dem Rechtspartner gegenüber wegen des illoyalen Verhaltens des Berechtigten nicht als zumutbar erscheinen lassen. Auch für die Verwirkung des Anfechtungs- bzw. Klagerechts setzen Rechtsprechung und Schrifttum voraus, daß neben dem Zeitablauf weitere Umstände hinzutreten, die mit ihm die Verwirkung begründen (vgl. insbesondere z. B. BVerfG aaO; BSG Urteil vom 23.11.1971 - 3 RK 8/70; BGHZ 43, 289, 293; BFH aaO; BVerwG Bayer. VerwBl 1959, 154, 155; BVerwG VerwRechtspr. 13, 838, 839; OVG Koblenz aaO; Ziemer/Birkholz aaO).
Außer dem Zeitablauf sind hier jedoch keine Umstände ersichtlich, welche die Klage gegen den nicht formgerecht zugestellten Bescheid der Beklagten vom 9. Januar 1953 als mit der Wahrung von Treu und Glauben nicht vereinbar und dem Rechtspartner gegenüber wegen des illoyalen Verhaltens des Berechtigten nicht als zumutbar erscheinen lassen. Es sind hier insbesondere keine Anhaltspunkte ersichtlich, daß dem bei Zugang des angefochtenen Bescheides durch keine rechtskundige Person vertretenen Kläger oder dessen Vater die fehlerhafte Zustellung des Bescheides bekannt gewesen ist und sie nur zunächst die Fehlerhaftigkeit nicht geltend gemacht haben, um z. B. später eine prozessual günstigere Stellung zu erlangen. Der Kläger hat vielmehr nach Kenntnis des allein in den Verantwortungsbereich der Beklagten fallenden Zustellungsmangels durch seinen Bevollmächtigten im Jahr 1967 unverzüglich Klage erhoben. Vor Kenntnis des Zustellungsmangels hat er aufgrund der im Bescheid enthaltenen Rechtsmittelbelehrung nach Ablauf eines Monats nach Zugang des Bescheides die Klageerhebung als aussichtslos ansehen müssen. Der Kläger hat sein Klagerecht somit nicht verwirkt.
Das LSG hat jedoch nicht geprüft, ob die Beklagte dem Kläger mit Recht die vorläufige Rente entzogen und incidenter die Gewährung einer Dauerrente abgelehnt hat.
Auch hier kann dahinstehen, ob der Bescheid vom 9. Januar 1953 ohne Verfahrens- und Formvorschriften zustande gekommen ist. Ein Verwaltungsakt, der nicht nichtig ist, darf nicht allein deshalb aufgehoben werden, weil er unter Verletzung von Verfahrens- und Formvorschriften zustande gekommen ist, wenn er nur sonst richtig ist; die Gerichte dürfen sich in diesen Fällen nicht darauf beschränken, allein die formelle Seite des angefochtenen Verwaltungsakts nachzuprüfen (vgl. BSG 24, 134, 137 f.; 26, 177, 179; BSG Urt. v. 25.8.1971 - 2 RU 235/68).
Eine materielle Prüfung des Bescheids vom 9. Januar 1953 erübrigt sich auch nicht, weil der Bescheid, wie bereits dargelegt, nicht formgerecht zugestellt worden ist. Nach § 610 RVO aF wird ein Bescheid, der die Rente herabsetzt oder entzieht, allerdings mit Ablauf des auf die "Zustellung" folgenden Monats wirksam. Es kann dahinstehen, ob diese Vorschrift hier nach Inkrafttreten des UVNG noch anwendbar ist, weil nicht nur der Arbeitsunfall sich vor Inkrafttreten dieses Gesetzes ereignet hat, sondern auch der Bescheid über die Entziehung der Rente vor diesem Zeitpunkt ergangen ist. § 623 Abs. 2 RVO enthält eine entsprechende Vorschrift.
Läßt sich die formgerechte Zustellung eines Schriftstücks nicht nachweisen oder ist das Schriftstück unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so gilt es als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat (§ 9 Abs. 1 VwZG). Eine Heilung der nichtformgerechten Zustellung als Voraussetzung der Rentenentziehung ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil mit der Zustellung des Bescheides vom 9. Januar 1953 die Berufungsfrist bzw. nach Inkrafttreten des SGG die Klagefrist zu laufen begonnen hat. Nach § 9 Abs. 2 VwZG ist Abs. 1 dieser Vorschrift nicht anzuwenden, wenn mit der Zustellung eine Frist für die Erhebung der Klage, eine Berufungs-, Revisions- oder Rechtsmittelbegründungsfrist beginnt. Diese Ausnahmevorschrift hat ihren Grund darin, daß die Zustellung den Zeitpunkt des Fristbeginns genau festlegen soll, damit insoweit keine Ungewißheit besteht (vgl. u. a. OVG Berlin DVBl 1961, 212; BGHZ 17, 348, 354, zu § 187 ZPO). Über diese Einschränkung des § 9 Abs. 1 VwZG hinaus besteht jedoch kein Anlaß, daß die vom Gesetz an eine Zustellung geknüpfte Wirkung an Mängeln des Zustellungsakts scheitert, wenn feststeht, daß der Empfangsberechtigte das Schriftstück nachweislich erhalten hat. Die Ausnahmevorschrift des § 9 Abs. 2 VwZG hindert deshalb nur den Ablauf von Rechtsmittel- und Rechtsmittelbegründungsfristen, beläßt es im übrigen aber bei dem sich aus § 9 Abs. 1 VwZG ergebenden Grundsatz, daß bei einer nicht formgerechten Zustellung das Schriftstück in dem Zeitpunkt als zugestellt gilt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat (vgl. u. a. BSG Urteil vom 22.6.1972 - 12 RJ 234/71; BVerwG 25, 1, 3; BFH, BStBl 1959 III 181, 183 und 203 sowie 204; Bayer. ObLG, NJW 1968, 513, 514; OVG Berlin, DVBl 1961, 212; Schunck/De Clerck, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl, 1967, § 56 Anm. 3 d; Ziemer/Birkholz, FGO, 2. Aufl., 1970, § 53 Rdn. 32 a; Kohlrust/Eimert, Das Zustellungsverfahren nach dem Verwaltungszustellungsgesetz, 1967, § 9 Anm. 3, und dieselben in DStR 1968, 567; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl., § 63 Anm. zu § 9 VwZG; zu § 187 ZPO ebenso BGHZ 17, 348, 353; a. A. u. a. Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, Band 2, § 9 VwZG Anm. 2).
Der Bescheid vom 9. Januar 1953 gilt somit hinsichtlich der Entziehung der vorläufigen Rente und der Ablehnung einer Dauerrente als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem ihn der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat. Sofern die sonstigen Voraussetzungen der Rentenentziehung und der Versagung der Dauerrente vorgelegen haben, ist die Entziehung der Rente mit Ablauf des auf den Tag des Zugangs folgenden Monats wirksam geworden. Das LSG hat jedoch von seiner rechtlichen Beurteilung aus keine tatsächlichen Feststellungen darüber getroffen, wann der Bescheid dem Vater des Klägers nachweislich zugegangen ist und ob dem Kläger zu Recht die vorläufige Rente entzogen und die Dauerrente versagt worden ist. Der Rechtsstreit ist daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Diesem bleibt die Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 1670055 |
BSGE, 211 |
NJW 1972, 2103 |