Entscheidungsstichwort (Thema)
Klärung von Unfallfolgen durch Operation
Leitsatz (redaktionell)
Bezüglich der Anwendung der Kausalitätsnorm muß der Frage Bedeutung beigemessen werden, ob ein Arzt möglicherweise zu einer Operation deswegen veranlaßt worden ist, weil er es für klärungsbedürftig hielt, ob und in welchem Umfang Unfallfolgen vorhanden sind.
Normenkette
RVO § 555 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. September 1975 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die nach einer Operation aufgetretenen Gesundheitsstörungen des Klägers Folgen zweier Arbeitsunfälle sind.
Der Kläger hat als Hauer am 22. Oktober 1971 und am 15. März 1972 Arbeitsunfälle erlitten. Am 20. April 1972 wurde eine operative Revision des Oberbauchs mit Entfernung des Schwertfortsatzes durchgeführt. Danach entstand ein Oberbauchnarbenbruch, der am 15. Februar 1974 zu einer Bruchoperation führte. Der Kläger, der seit dem 1. Oktober 1974 wieder als Hauer tätig ist, beantragte mit Schreiben vom 1. Juli 1972 wegen der bestehenden Oberbauchbeschwerden eine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Beklagte lehnte nach Anhörung verschiedener Ärzte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 15. August 1973 ab, weil zwischen den Beschwerden des Klägers und den Unfällen kein ursächlicher Zusammenhang bestehe.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 16. Januar 1974 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Beweiserhebung die Berufung des Klägers mit Urteil vom 18. September 1975 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, es könne nicht festgestellt werden, daß die Operation vom 20. April 1972 und der Oberbauchnarbenbruch in ursächlichem Zusammenhang mit den Unfallereignissen gestanden hätten. Der heutige Gesundheitszustand des Klägers sei weder unmittelbar noch mittelbar Folge der Unfallereignisse. Es lasse sich nicht feststellen, daß der Kläger bei den Unfällen Körperschäden erlitten habe, die am 20. April 1972 noch vorhanden gewesen seien und es erforderlich gemacht hätten, die Bauchwand operativ zu eröffnen. Es sei zwar durchaus möglich, daß der Kläger aufgrund der Unfälle schmerzhafte Beschwerden gehabt habe, zu deren Klärung und eventuellen Behebung die Operation notwendig gewesen sei. Andererseits hätten sich aber objektive Verletzungszeichen niemals feststellen lassen. Es sei nicht unwahrscheinlich, daß den Schmerzangaben des Klägers, die zur Operation am 20. April 1972 geführt hätten, andere Ursachen zugrunde gelegen hätten als die Unfallereignisse. Es fehle sowohl an einem streng unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang wie auch an anderen Anhaltspunkten dafür, daß die schmerzhaften Beschwerden des Klägers mit Wahrscheinlichkeit auf die Unfallereignisse zurückgeführt werden könnten.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er trägt vor, die jetzigen Beschwerden seien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die durch die Arbeitsunfälle bedingte Operation zurückzuführen, denn andere Ursachen seien nicht zu erkennen. Erst im Jahre 1973 hätten die für die Beklagte tätigen Ärzte den ursächlichen Zusammenhang in Frage gestellt. Es komme aber nicht auf die nach Jahren vorgenommene theoretische Prüfung des Für und Wider durch andere Ärzte an, sondern auf die Entscheidung, die der operierende Arzt damals getroffen habe. Da eine andere Ursache als die Folgen der Arbeitsunfälle für die Folgen der Operation ausscheide, müßten die Folgen der Operation auf die Arbeitsunfälle zurückgeführt werden.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils nach dem Schlußantrag erster Instanz zu erkennen.
Der in der ersten Instanz gestellte Antrag lautete: Unter Aufhebung des Bescheides vom 15. August 1973 festzustellen, daß die Resektion des prozessus ensiformis und der Oberbauchnarbenbruch, der sich später entwickelt hat, und seine Folgen ursächlich auf die Arbeitsunfälle vom 22. Oktober 1971 und 15. März 1972 zurückzuführen sind.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält es für fraglich, ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gegeben sind. Jedenfalls sei die Revision unbegründet. Das angefochtene Urteil sei im Ergebnis und auch in der Begründung richtig.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers, die form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden ist, ist auch statthaft und damit zulässig. Der Senat brauchte nicht zu prüfen, ob die Voraussetzung des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG für die Zulassung der Revision vorliegt, denn nach § 160 Abs. 3 ist er an die Zulassung der Revision durch das LSG gebunden (vgl. hierzu Urteil vom 18. Mai 1976 - 9 RV 216/75 -).
Die danach zulässige Revision des Klägers ist auch insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen wird. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.
Das Berufungsgericht hat die Kausalitätsnorm nicht richtig erkannt und angewandt, wenn es mit Rücksicht auf das nachträglich festgestellte Fehlen objektiver Verletzungsfolgen der Frage keine Bedeutung beigemessen hat, ob Dr. E die Operation vom 20. April 1972 durchgeführt hat, um festzustellen, ob und in welchem Umfang Unfallfolgen vorhanden sind. Die Unfälle vom 22. Oktober 1971 und 15. März 1972 können zwar - wie das LSG richtig erkannt hat - nicht unmittelbar für die Operation und ihre Folgen ursächlich gewesen sein. Entscheidende Ursachen für die Operation waren vielmehr der Entschluß des operierenden Arztes und die Zustimmung des Patienten. Das schließt jedoch die Ursächlichkeit der Unfälle nicht aus, wenn diese für den Entschluß des Arztes zur Operation bestimmend waren (vgl. BSG in SozR Nr. 59 zu § 1 BVG). Das gilt auch dann, wenn sich nach und insbesondere durch die Operation herausgestellt hat, daß keinerlei Unfallfolgen vorhanden waren. Das Fehlen objektiver Unfallfolgen schließt es nicht aus, daß der Entschluß des Arztes zur Operation maßgeblich durch den Unfall und seine möglichen Folgen herbeigeführt worden ist. Ist ein Unfall seiner Art nach geeignet, die vom Patienten geklagten Beschwerden hervorzurufen, und entschließt sich der Arzt zur Operation, weil er es für klärungsbedürftig hält, ob und in welchem Umfang die geklagten Beschwerden auf den Unfall zurückzuführen sind, so kann man die rechtliche Relevanz des Unfalls für die Operation und ihre Folgen nicht verneinen. Das gilt selbst dann, wenn neben der Klärungsbedürftigkeit der Unfallfolgen andere Gründe den Entschluß des Arztes zur Operation mit beeinflußt haben. Anders könnte es nur sein, wenn diese anderen Gründe so stark im Vordergrund stehen, daß die Klärungsbedürftigkeit der Unfallfolgen demgegenüber ganz in den Hintergrund tritt und unwesentlich ist. Der ursächliche Zusammenhang ist auch dann zu verneinen, wenn die Klärung der Unfallfolgen den Arzt in seinem Entschluß zur Operation nicht bestimmt hat, sondern lediglich ein Nebenprodukt der ohnehin notwendigen Operation ist.
Das LSG wird nunmehr festzustellen haben, ob der Entschluß des Arztes zur Operation durch die Klärungsbedürftigkeit der Unfallfolgen allein oder doch erheblich mitbestimmt worden ist. Da der erkennende Senat diese Feststellung nicht treffen kann, hat er das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen