Leitsatz (amtlich)
Auch Zahlungen von Rente aus der UV auf Grund eines angefochtenen Urteils gemäß SGG § 154 Abs 2 können für die Monate, für die sie geleistet worden sind, ein Ruhen der aus der RV gezahlten Rente bewirken (Weiterentwicklung von BSG 1965-01-28 4 RJ 49/63 = BSGE 22, 233, BSG 1969-01-30 5 RKn 8/68 = BSGE 29, 124 und BSG 1969-07-31 4 RJ 105/69 = BSGE 30, 42).
Normenkette
AVG § 55 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 4 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1278 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 4 Fassung: 1957-02-23; AVG § 56 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 5 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1279 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 5 Fassung: 1957-02-23; SGG § 154 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 19.05.1976; Aktenzeichen L 4 An 14/75) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 28.01.1975; Aktenzeichen S 7 An 331/74) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 29. Mai 1976 wird insoweit zurückgewiesen, als das Landessozialgericht das Ruhen der Hinterbliebenenrente von August 1972 bis zum 30. Juni 1974 festgestellt hat.
Im übrigen werden die Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts Lübeck vom 28. Januar 1975 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten im Rechtsstreit zu zwei Dritteln zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin erhält als Witwe des am 3. März 1967 tödlich verunglückten Versicherten Helmut F seit März 1967 Hinterbliebenenrente aus der Angestelltenversicherung. Im September 1970 verurteilte das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) die zuständige Berufsgenossenschaft (BG), der Klägerin außerdem Hinterbliebenenleistungen aus der Unfallversicherung (UV) zu gewähren. Dagegen legte die BG Revision ein; sie zahlte jedoch ab Dezember 1970 die Witwenrente aus der UV in Ausführung des LSG-Urteils. Hierauf berechnete die Beklagte ab Januar 1971 aufgrund der Ruhensvorschriften (§§ 56, 55 Abs. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -) die Hinterbliebenenrente neu; diese betrug nunmehr monatlich nur noch 306,50 DM gegenüber 636,- DM. Nachdem die BG die Zahlung mit Ablauf des Juli 1972 eingestellt hatte, weil das Bundessozialgericht (BSG) das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG in der Unfallstreitsache aufhob und den Rechtsstreit an dieses Gericht zurückverwies, setzte die Beklagte die Rente rückwirkend vom Januar 1971 an wieder in voller Höhe fest. Sie zahlte die entsprechenden Bezüge laufend ab August 1972; den Nachzahlungsbetrag (von 6.277,30 DM) behielt sie "für einen eventuell geltend zu machenden Ersatzanspruch" der BG ein. Im Dezember 1973 verurteilte das Schleswig-Holsteinische LSG die BG zum zweiten Mal, der Klägerin Witwenrente aus der UV zu gewähren; dieses Urteil wurde rechtskräftig. Nunmehr zahlte die BG im Juni 1974 - rückwirkend seit dem 3. März 1967 unter Anrechnung bereits geleisteter Beträge - die Witwenrente aus der UV an die Klägerin aus. Die Beklagte stellte darauf wiederum das teilweise Ruhen der Hinterbliebenenrente aus der Angestelltenversicherung ab Januar 1971 fest und rechnete die von August 1972 bis zum 30. Juni 1974 überzahlten Beträge von 9.510,50 DM gegen die laufenden Bezüge der Klägerin auf (Bescheid vom 4. Juli 1974).
Hiergegen wandte sich die Klägerin mit der Begründung, vor Ablauf des Juni 1974 dürfe die Hinterbliebenenrente noch nicht ruhen, weil die Rente aus der UV in diesem Monat ihr zum ersten Mal ausgezahlt worden sei; zuvor habe die BG nur (zeitweise) eine "vorläufige Urteilsrente" geleistet.
Das Sozialgericht (SG) gab der Klage statt (Urteil vom 28. Januar 1975); das LSG wies die - zugelassene - Berufung der Beklagten zurück (Urteil vom 19. Mai 1976). Zur Begründung hat es ausgeführt: Nach den §§ 55, 56 AVG solle das Einkommen des Berechtigten aus Renten nicht höher sein als sein früheres Arbeitseinkommen; entsprechendes gelte für seine Witwe. Diese Regelung greife aber erst durch, wenn der Berechtigte (die Witwe) über beide Renten verfügen könne, d.h., wenn die Rente aus der UV tatsächlich ausgezahlt werde. Dies sei hier erstmalig im Juni 1974 geschehen. Die aufgrund des LSG-Urteils gemäß § 154 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von der BG gewährten Leistungen seien mit der "Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung" nicht gleichzusetzen, auch nicht im Sinne von (anrechenbaren) Vorschüssen. Bei der Auslegung des Begriffs der "erstmaligen Auszahlung" in § 55 Abs. 4 AVG könne nicht allein auf den tatsächlichen Vorgang der Zahlung abgestellt werden; vielmehr müsse für den Berechtigten eine konkrete Rechtslage für den dauernden Empfang der Unfallversicherungsleistungen bestehen; hieran fehle es bei einer "Urteilsrente".
Mit der - zugelassenen - Revision beantragt die Beklagte,
die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Zur Begründung rügt sie eine Verletzung des § 55 Abs. 4 AVG. Das LSG habe den Begriff der erstmaligen Auszahlung der Witwenrente verkannt. Seine Auslegung führe zu einem mit dem Gesetz nicht zu vereinbarenden Ergebnis, vor allem in Fällen, in denen der Unfallversicherungsträger aufgrund eines Berufungsurteils Rente zahle und dieses Urteil im Revisionsverfahren bestätigt werde; dort sei der Berechtigte ab Empfang der "Urteilsrente" gewiß nicht schutzbedürftig.
Die Klägerin hat keinen Antrag gestellt; sie ist wie die Beklagte mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist zum Teil begründet.
Der Klägerin steht die volle Hinterbliebenenrente aus der Angestelltenversicherung während des streitigen Zeitraums nur für die Zeiten zu, in denen die BG vor ihrem Bescheid vom 26. April 1974 (d.h. vor der Ausführung dieses Bescheides) noch keine Witwenrente aus der UV gezahlt hat, mithin vom August 1972 bis Juni 1974. Für die Zeit vom Januar 1971 bis Juli 1972 war die Beklagte berechtigt, das (teilweise) Ruhen der Hinterbliebenenrente festzustellen und diese Bezüge entsprechend zu kürzen, weil die Klägerin von dem Unfallversicherungsträger damals schon eine Witwenrente ausgezahlt erhielt.
Dieses Ergebnis folgt aus § 56 Abs. 1 und 5 iVm § 55 Abs. 4 AVG. Nach § 56 Abs. 1 hat die Witwenrente aus der Angestelltenversicherung in dem dort bestimmten Teil zu ruhen, wenn sie mit einer Witwenrente aus der gesetzlichen UV zusammentrifft. Das war an sich - rückschauend betrachtet - seit dem 3. März 1967 der Fall. Denn die Renten treffen nicht erst zusammen, wenn sie durch Bescheid festgestellt sind, sondern schon dann, wenn die entsprechenden materiellen Ansprüche bestehen (BSGE 33, 234, 236; Urteil des Senats vom selben Tage in der Sache 11 RA 52/76). Dennoch ruht hier aufgrund des § 55 Abs. 4 AVG die Versichertenrente nicht für diese gesamte Zeit.
Mit der Regelung des § 56 Abs. 1 (bzw. § 55 Abs. 1) AVG kommt der Wille des Gesetzgebers zur Begrenzung der Versicherungsleistungen zum Ausdruck. Die Einkünfte aus der Sozialversicherung sollen nicht das Nettoeinkommen übersteigen - bei Hinterbliebenenleistungen sechs Zehntel hiervon -, das der Versicherte bei voller Arbeitsleistung erzielen würde (BSGE 22, 233, 234 mit weiteren Nachweisen; 33, 236). Dieser Grundsatz wird durch § 55 Abs. 4 AVG durchbrochen. Er läßt die unverkürzte Gewährung der Versichertenrente aus der Angestelltenversicherung bis zum Ende des Monats zu, in dem die Verletztenrente aus der UV zum ersten Male ausgezahlt wird. Damit nimmt der Gesetzgeber einen sozialpolitisch an sich unerwünschten Zustand bis dahin bewußt in Kauf (SozR Nr. 3 zu § 75 RKG). Wie der 5. Senat des BSG zutreffend dargelegt hat (BSGE 27, 253, 255), beschränkt die Vorschrift dabei praktisch die rückwirkende Anrechnung der Unfallrente "mit dem Ergebnis, daß der Rentenberechtigte, dem eine Unfallrente für längere Zeit rückwirkend bewilligt wird, insgesamt mehr erhält als ihm an sich zustehen würde; ihm wird das nachgezahlt, was er bisher aus der UV zu wenig, er darf aber behalten, was er bisher aus der Rentenversicherung zuviel erhalten hat. Dieses Ergebnis rechtfertigt sich nur unter dem Gesichtspunkt, daß das Vertrauen in den ungeschmälerten Besitz der bereits gezahlten Versichertenrente geschützt werden soll". Aus diesen Gründen hat die Rechtsprechung des BSG (SozR 2200 § 1278 Nr. 1) die Vorschrift des Abs. 4 als eine zugunsten des Versicherten getroffene Ausnahmeregelung bezeichnet, die eng auszulegen ist.
Hiervon ausgehend steht dem Schutzzweck der Ausnahmevorschrift nicht entgegen, auch die hier streitigen Zahlungen des Unfallversicherungsträgers dem Grunde nach unter § 55 Abs. 4 AVG zu bringen. Der Unfallversicherungsträger hat damit eine Witwenrente aus der UV an die Klägerin ausgezahlt; er hat dies deshalb getan, weil seine Revision gemäß §§ 165, 154 Abs. 2 SGG für Zeiten nach Erlaß des von ihm angefochtenen Urteils keinen Aufschub bewirkt hat. Auch in einem solchen Fall sind dem Berechtigten bereits nebeneinander für dieselbe Zeit dem Unterhalt dienende Mittel aus der UV und der Rentenversicherung zugeflossen. Für Vorschüsse auf eine UV-Rente sowie für das anstelle der später zugebilligten Verletztenrente zunächst gezahlte Verletztengeld aus der UV hat das BSG in vergleichbarem Sinne entschieden (BSGE 22, 233, 235; 29, 124, 125; 30, 42, 44; 33, 234, 238; SozR RVO § 1278 Nr. 7). Dabei wurde hervorgehoben, daß es auf die effektive Leistung aus der UV und auf eine wirtschaftliche Betrachtungsweise ankommt (SozR Nr. 14 zu § 1278 RVO); es sei gleichgültig, ob die Leistung bereits "verbindlich zugesprochen" worden sei (BSGE 22, 233, 234). Für die gemäß § 154 Abs. 2 SGG gezahlte Rente kann nichts anderes gelten. Wenn (schon) die Gewährung eines Vorschusses auf die Verletztenrente der Zahlung dieser Rente für § 55 Abs. 4 AVG gleichsteht (so BSGE 22, 233 für die Parallelvorschrift des § 1278 Abs. 4 RVO), obwohl ein Vorschuß - nach damaliger Auffassung (vgl. jetzt § 42 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch) - widerruflich nur in Erwartung einer bestehenden (noch nicht fälligen oder noch nicht geklärten) Schuld bewirkt wird (BSGE aaO), dann ist nicht einzusehen, inwiefern die Gewährung der den vollen Anspruch umfassenden UV-Rente nach einem angefochtenen Gerichtsurteil von § 55 Abs. 4 AVG nicht erfaßt werden soll. Daß die gerichtliche Entscheidung vom Unfallversicherungsträger angefochten ist, seine Verpflichtung mithin zunächst noch in der Schwebe bleibt, ist nicht entscheidend; eine "konkrete Rechtslage für den dauernden Empfang der Leistungen" setzt § 55 Abs. 4 AVG entgegen der Auffassung des LSG nicht voraus. Nach dieser Vorschrift kommt es nur darauf an, wann die Leistung aus der UV bzw. eine auf sie anrechenbare Leistung zum ersten Mal tatsächlich gezahlt wird.
Die erstmalige Auszahlung der (vollen) Witwenrente aus der UV aufgrund von § 154 Abs. 2 SGG ist hier im Januar 1971 erfolgt; die Zahlungen wurden bis zum Revisionsurteil geleistet, danach für die Zukunft eingestellt, für die Vergangenheit der Klägerin aber vorerst belassen. Damit bezog die Klägerin bis Ablauf Juli 1972 diese Rente neben der Hinterbliebenenrente aus der Angestelltenversicherung; die letztere hat demnach im entsprechenden Teil zu ruhen. Insoweit ist die Revision der Beklagten von Erfolg.
Dagegen war die Revision zurückzuweisen, soweit sie die anschließende Zeit bis zum 30. Juni 1974 betrifft. Während dieses Zeitraums ist der Klägerin eine Witwenrente aus der UV nicht zugeflossen, weil die BG die Zahlung der Urteilsrente wegen der Aufhebung des LSG-Urteils durch das BSG eingestellt hatte. Dies kann bei der zeitlichen Abgrenzung des Ruhens der Versichertenrente nicht unbeachtet bleiben. Vielmehr sind auch insoweit die bei Gewährung von Vorschüssen entwickelten Grundsätze anzuwenden. In diesen Fällen werden für die Zeiten vor der endgültigen Festsetzung der Verletztenrente für den Ruhensumfang der Versichertenrente nur tatsächlich erfolgte Leistungen berücksichtigt (BSGE 22, 233, 235; 29, 124, 125). Das muß auch bei Leistungen gelten, die im Hinblick auf § 154 Abs. 2 SGG gezahlt worden sind. Ein anderes Ergebnis wäre mit dem Zweck des Gesetzes nicht zu vereinbaren. Es käme sonst nachträglich zu einer Korrektur der in der Vergangenheit bezogenen Versichertenrente mit der Folge von - gerade nicht erwünschten - Erstattungsansprüchen (BSGE 22, 233, 235).
Der Umstand, daß die Beklagte den (ersten) Bescheid über die Feststellung des Ruhens vom 18. Januar 1971 durch den Bescheid vom 9. Oktober 1972 aufgehoben hat, berührt das insgesamt gefundene Ergebnis nicht. Auf die bindende Wirkung (§ 77 SGG) dieser für sie günstigen Entscheidung kann sich die Klägerin nicht berufen. Der betreffende Bescheid bezog sich nur auf den damaligen Sachverhalt, wie er sich durch die von der BG vorgenommene Aufhebung des Ausführungsbescheides infolge des BSG-Urteils in der UV-Streitsache ergeben hatte. Hieraus hat die Beklagte die - rechtlich zutreffende - Folgerung gezogen, daß die Hinterbliebenenrente nicht mehr teilweise ruhte. So wenig die Beklagte gehindert war, mit Bescheid vom 18. Januar 1971 eine Neufeststellung der gleichfalls bindend festgestellt gewesenen Witwenrente vorzunehmen, nachdem die BG die Urteilsrente zahlte (siehe hierzu BSGE 33, 234, 235), so wenig kann sie bei der später veränderten Sachlage an der - interimistischen - Entscheidung vom 9. Oktober 1972 festgehalten werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1650147 |
BSGE, 127 |