Leitsatz (amtlich)
Zur Abgrenzung der Verweisung eines zur Gruppe der Facharbeiter gehörenden Versicherten auf gehobene ungelernte Tätigkeiten (Fortführung von BSG 1977-03-30 5 RJ 98/76).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 05.08.1976; Aktenzeichen L 10 461/76) |
SG Oldenburg (Entscheidung vom 10.03.1976; Aktenzeichen S 8b J 60/74) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 5. August 1976 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger für die Zeit vom 1. Februar 1973 bis zum 1. April 1973 das Übergangsgeld nach § 1241d Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und für die Zeit vom 25. April 1973 an die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 RVO zusteht.
Der Kläger, der zunächst als Steinbruch- und Bauarbeiter tätig gewesen war, hat die seit 1965 verrichtete Tätigkeit als Betonbauer im Jahre 1971 aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen. Nachdem der Kläger am 22. Februar 1973 einen Rentenantrag gestellt hatte, wurde in der Zeit vom 2. bis zum 24. April 1973 ein Heilverfahren durchgeführt. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag des Klägers mit Bescheid vom 11. Dezember 1973 ab, weil der Kläger noch nicht berufsunfähig sei.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 10. März 1976 die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 5. August 1976 das Urteil des SG sowie den Bescheid der Beklagten geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Februar 1973 bis zum 1. April 1973 das vorgezogene Übergangsgeld und vom 25. April 1973 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen. Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei bereits seit April 1972 berufsunfähig im Sinne des § 1246 RVO, so daß ihm nach § 1290 Abs. 2 iVm § 1241d Abs. 1 RVO das Übergangsgeld bereits vom 1. Februar 1973 an und die Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 24. April 1973 an zustehe. Auszugehen sei bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit von dem Facharbeiterberuf eines Betonbauers. Der Kläger habe diesen Beruf zwar nicht erlernt; er habe ihn aber vollwertig ausgeübt und sei auch entsprechend entlohnt worden. Diese Tätigkeit könne er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verrichten. Der bei ihm bestehende Intelligenzmangel im Grenzbereich zum Schwachsinn leichten Grades, der ihn nicht gehindert habe, die Tätigkeit eines Betonbauers zu verrichten, schließe die Fähigkeit zu qualifizierten Tätigkeiten des ungelernten Bereichs (z.B. qualifizierte Prüf- und Kontrolltätigkeiten, Schalttafelwart und Apparatewärter) aus.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, das LSG sei zu Unrecht von der Facharbeitertätigkeit eines Betonbauers ausgegangen. Von den für das Berufsbild eines Betonfacharbeiters wesentlichen Merkmalen besitze der Kläger nur gewisse handwerkliche Fähigkeiten, nicht aber die erforderlichen theoretischen Kenntnisse. Ein Versicherter, der mehrere Jahre im Baugewerbe tätig gewesen sei und nur einen Teil der Tätigkeiten des Lehrberufs Betonbauer verrichtet habe, könne nicht den gleichen Berufsschutz genießen wie ein Betonbauer, der die dreijährige Lehrzeit absolviert habe. Im Falle des Klägers sei daher vom Beruf eines angelernten Betonbauers auszugehen, der auch auf ungelernte Arbeiten verwiesen werden könne. Selbst wenn man aber die Ansicht des LSG billige, daß es auf die Ausbildung nicht ankomme, habe das Berufungsgericht weitere Feststellungen darüber treffen müssen, welche Tätigkeiten der Kläger im Baugewerbe verrichtet habe.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, die Revision sei unzulässig, soweit sie das Übergangsgeld betreffe. Insoweit fehle die Revisionsbegründung, die sich lediglich mit der Rente wegen Berufsunfähigkeit auseinandersetze. Im übrigen sei die Revision aber unbegründet, denn das angefochtene Urteil sei im Ergebnis und in der Begründung richtig.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Sie ist zwar - entgegen der Ansicht des Klägers - im vollen Umfang, also auch insoweit zulässig, als sie sich gegen die Verurteilung zur Zahlung des Übergangsgeldes für die Zeit vom 1. Februar 1973 bis zum 1. April 1973 richtet. Die Revisionsbegründung beschränkt sich nicht auf die Rente wegen Berufsunfähigkeit. Sie rügt ganz allgemein die Verletzung des § 1246 RVO und verneint damit auch die Voraussetzungen des § 1241d Abs. 1 RVO für das Übergangsgeld. Die danach zulässige Revision der Beklagten ist aber unbegründet, denn das LSG hat die Beklagte mit Recht zur Zahlung des Übergangsgeldes für die Zeit vom 1. Februar 1973 bis zum 1. April 1973 und zur Zahlung der Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 25. April 1973 an verurteilt. Die Zwischenzeit vom 2. bis 24. April 1973, in welcher der Kläger während des Heilverfahrens offenbar Übergangsgeld bezogen hat, ist nicht Gegenstand des Verfahrens.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger bereits seit April 1972 berufsunfähig ist. Ihm steht daher nach § 1241d Abs. 1 Satz 2 RVO iVm § 1290 Abs. 2 RVO das Übergangsgeld anstelle der Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vor Beginn des Heilverfahrens zu. Für die Zeit nach Abschluß des Heilverfahrens hat er einen Anspruch auf die Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 RVO.
Ausgangspunkt für die Prüfung der Berufsunfähigkeit ist die Tätigkeit eines Betonbauers, die der Kläger von 1965 bis 1971 verrichtet hat. Von dieser Tätigkeit hat der Kläger sich nicht gelöst, denn er hat sie aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen. Die Tätigkeit eines Betonbauers gehört zur Gruppe der Berufe, die durch den Leitberuf des Facharbeiters charakterisiert wird, denn es handelt sich um einen anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungsdauer von mehr als zwei Jahren. Zwar hat der Kläger die vorgeschriebene Ausbildung nicht durchlaufen, sondern die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten durch praktische Arbeit erworben. Nach den unangegriffenen und für den Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Feststellungen des LSG hat der Kläger die Facharbeitertätigkeit eines Betonbauers vollwertig verrichtet und ist auch entsprechend entlohnt worden. Das genügt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), um bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit von der Facharbeitertätigkeit auszugehen (vgl. insbesondere BSGE 17, 41). Soweit die Beklagte geltend macht, der Kläger habe nur einen Teil der Tätigkeiten des Lehrberufs Betonbauer verrichtet, stehen dem die Feststellungen des LSG entgegen, die von der Beklagten nicht mit einer form- und fristgerechten Verfahrensrüge angegriffen worden sind. Das LSG ist davon ausgegangen, daß der Kläger die von ihm in Übereinstimmung mit der Bescheinigung der Firma Hermann M vom 3. August 1976 geschilderten Tätigkeiten ausgeübt hat. Danach hat er Beton fachgerecht eingebaut, Beton verdichtet, mit einem Rüttelgerät mit Latten auf Lehren abgezogen, abgerieben und geglättet, Decken-, Balken- und Stützenschalungen zugerichtet, aufgestellt und abgebunden, Decken-, Stützen- und Balkenbewehrungen nach Zeichnung geschnitten, gebogen und in den Schalungen verlegt. Das sind aber nicht nur Teilbereiche der Tätigkeit eines Betonbauers, sondern die wesentlichen Arbeitsverrichtungen, die in diesem Beruf erforderlich sind. Hat der Kläger aber die Facharbeitertätigkeit eines Betonbauers längere Zeit nicht nur in Teilbereichen vollwertig verrichtet und ist er entsprechend entlohnt worden, so kommt es entgegen der Ansicht der Beklagten nicht darauf an, ob der vorhandene Intelligenzmangel den Erwerb der theoretischen Kenntnisse in der üblichen Lehre verhindert hätte. Es genügt, daß der Kläger die Fähigkeit zur Verrichtung der Facharbeitertätigkeit durch langjährige Verrichtung erworben hat.
Geht man danach mit dem LSG von der Facharbeitertätigkeit eines Betonbauers aus, so sind nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats nur solche Tätigkeiten im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO zumutbar, die entweder zur Gruppe der anerkannten oder sonstigen Ausbildungsberufe gehören oder aber wegen der ihnen anhaftenden Qualitätsmerkmale tariflich wie diese bewertet werden (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 30. März 1977 - 5 RJ 98/76 -). Nach den Feststellungen des LSG kann der Kläger lediglich noch solche ungelernten Tätigkeiten verrichten, die keine starke Aufmerksamkeit oder Konzentrationsfähigkeit sowie technische Sensibilität erfordern. Damit hat das LSG hinreichend deutlich festgestellt, daß der Kläger nur solche ungelernten Tätigkeiten verrichten kann, die tariflich weder wie ein anerkannter noch wie ein sonstiger Ausbildungsberuf bewertet werden. Zwar ist das LSG mit der früheren Rechtsprechung des BSG - insbesondere des erkennenden Senats (vgl. z.B. BSGE 38, 153) - davon ausgegangen, daß ein Facharbeiter auf solche Tätigkeiten eines ungelernten Arbeiters verwiesen werden könne, die sich aus dem Kreis der sonstigen einfachen Arbeiten deutlich herausheben. Der erkennende Senat hat mit seinem Urteil vom 30. März 1977 (5 RJ 98/76) die frühere Rechtsprechung nicht aufgegeben, sondern sie aus Gründen der Praktikabilität lediglich fortgeführt und konkretisiert. Nach der früheren Rechtsprechung war offen geblieben, wie sehr sich eine ungelernte Tätigkeit aus dem Kreis der übrigen ungelernten Arbeiten herausheben muß, um für einen Facharbeiter als zumutbar zu erscheinen. Mit dem Urteil vom 30. März 1977 hat der Senat lediglich klargestellt, daß nicht das bloße Vorhandensein irgendwelcher Qualitätsmerkmale im geringen Grade genügt, um eine ungelernte Tätigkeit für einen Facharbeiter als zumutbar erscheinen zu lassen, sondern daß die Qualitätsmerkmale in einem solchen Maße vorhanden sein müssen, daß die Tätigkeit mindestens wie ein sonstiger Ausbildungsberuf (angelernte Arbeit) tariflich bewertet wird. Von dieser - ihm noch unbekannten - Rechtsprechung ist das LSG zwar nicht ausgegangen; seine Feststellungen reichen gleichwohl zur abschließenden Entscheidung aus. Da der Kläger einerseits nur die nicht mehr verwertbaren Kenntnisse und Fähigkeiten für den Beruf eines Betonbauers hat, andererseits aber wegen des Intelligenzmangels solche Tätigkeiten nicht verrichten kann, die starke Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit oder technische Sensibilität erfordern, scheiden für ihn alle Ausbildungsberufe und auch alle ungelernten Tätigkeiten aus, die wegen der ihnen anhaftenden Qualitätsmerkmale mindestens wie sonstige Ausbildungsberufe tariflich bewertet werden. Dem steht der Vortrag der Beklagten nicht entgegen, der Kläger müsse noch in der Lage sein, mit Verantwortung verbundene ungelernte Arbeiten zu verrichten, wenn man davon ausgehe, daß der Intelligenzmangel ihn nicht gehindert habe, die Tätigkeit eines Facharbeiters zu verrichten. Insoweit ist die auf die medizinischen Gutachten gestützte Beweiswürdigung des LSG nicht zu beanstanden, daß der Kläger wegen des Intelligenzmangels auf geistigem Gebiet liegende Arbeiten, die mit starker Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit sowie technischer Sensibilität verbunden sind, nicht ausführen kann, daß aber andererseits die Fähigkeit, auch körperlich schwere Arbeiten zu verrichten und die optimale Ausnutzung seiner praktisch-manuellen Fähigkeiten es ihm ermöglicht habe, trotz des Intelligenzmangels die Position eines Facharbeiters auszufüllen.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen