Entscheidungsstichwort (Thema)

Beteiligung am früheren Verfahren. BU. Verweisungsmöglichkeiten. rechtliches Gehör

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Auf diesem Recht kann der Beteiligte auch dann bestehen, wenn er an dem früheren Verfahren beteiligt war, aus denen Beweisergebnisse im anhängigen Verfahren verwertet worden sind.

 

Orientierungssatz

1. Zur Frage der Verweisbarkeit eines Waldfacharbeiters.

2. Der in SGG § 128 Abs 2 konkretisierte Grundsatz des rechtlichen Gehörs verlangt es, die Beteiligten darauf hinzuweisen, welche dieser Beweisergebnisse in das anhängige Verfahren eingeführt werden sollen, damit sie sich dazu äußern können.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 62 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 15.06.1976; Aktenzeichen L 10 J 551/75)

SG Hildesheim (Entscheidung vom 05.11.1975; Aktenzeichen S 12 J 73/75)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. Juni 1976 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der im Jahre 1920 geborene Kläger nahm im Jahre 1935 eine Beschäftigung als Waldarbeiter auf. Von 1939 bis 1945 war er Soldat. Seit 1945 arbeitete er wieder als Waldarbeiter beim Forstamt der Stadt E. Während der letzten Jahre war er tariflich als Waldfacharbeiter eingestuft.

Einen im Juni 1974 gestellten Antrag auf Versichertenrente aus der Rentenversicherung der Arbeiter lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22. Oktober 1974 ab, weil der Kläger noch nicht berufsunfähig sei. Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hildesheim mit Urteil vom 5. November 1975 den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, ab 1. August 1975 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen. Die dagegen von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen mit Urteil vom 15. Juni 1976 zurückgewiesen.

Nach den Feststellungen des LSG kann der Kläger aus gesundheitlichen Gründen als Waldarbeiter nicht mehr tätig sein. Für die Beurteilung seiner Erwerbsfähigkeit sei der Beruf des Waldfacharbeiters maßgebend. Zwar habe der Kläger keine entsprechende Berufsausbildung durchlaufen, er habe jedoch Zeit seines Lebens zunächst als Wald-, anschließend als Waldfacharbeiter gearbeitet und sei von der Stadt Einbeck jahrzehntelang als Waldfacharbeiter eingesetzt worden. Für die Frage des Rangs des bisherigen Berufs komme es nicht auf die individuell vom Versicherten erbrachte Arbeitsleistung an, sondern abstrakt betrachtet auf den von ihm ausgeübten Beruf, auf die von ihm verrichtete Berufstätigkeit als solche. Für fachfremde Beschäftigungen, die dem beruflichen Rang eines Waldfacharbeiters entsprechen, komme der Kläger nicht mehr in Betracht. Er habe während seines Erwerbslebens keine Gelegenheit gehabt, in anderen Wirtschaftsbereichen als der Forstwirtschaft Kenntnisse und Erfahrungen zu sammeln. Unter diesen Umständen schieden qualifizierte Montier- und Prüftätigkeiten in der Industrie von vornherein aus. Der Senat habe in einer Reihe von Urteilen dargelegt, welche Anforderungen an Arbeitnehmer in der Industrie gestellt würden und welche Folgen sich daraus für den Zugang zu diesen Arbeitsplätzen ergäben. Auch an diesen Verfahren sei die Beklagte beteiligt gewesen. Angesichts der Vielfalt denkbarer Beschäftigungsmöglichkeiten sei nicht auszuschließen, daß sich auch für den Kläger im Bereich des Bundesgebietes die eine oder andere Beschäftigung finden würde, die seinen fachlichen und gesundheitlichen Möglichkeiten entsprechen. Aufgrund seiner in anderen Verfahren angestellten Ermittlungen sei der Senat jedoch zu der Überzeugung gekommen, daß es sich dabei um Arbeitsplätze handele, die es nur in ganz unerheblichem Maße gebe. Zu derartigen Beschäftigungen gehörten insbesondere solche am Rande des eigentlichen Erwerbslebens. Sie seien nur in beschränkter Zahl vorhanden und in der Regel Betriebsangehörigen vorbehalten, so daß sie kaum dem für den freien Wettbewerb offenen Arbeitsmarkt zugerechnet werden könnten. Unter diesen Voraussetzungen sei der Frage der Umstellungsfähigkeit des Klägers, die sich wegen seines gradlinigen Berufsverlaufs aufdränge, nicht näher nachzugehen. Dem Rentenanspruch stehe auch nicht entgegen, daß der Kläger anscheinend noch in einem Beschäftigungsverhältnis bei der Stadt Einbeck stehe. Diese Tatsache sei auch auf im öffentlichen Dienst geltende tarifliche Vereinbarungen zurückzuführen. Arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen, die eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses ausschließen, dürften sich nicht zum Nachteil des Versicherten im Sozialrecht auswirken, zumal die tarifliche Kündigungsmöglichkeit von der Feststellung der Berufsunfähigkeit des Klägers abhängig sei. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.

Die Beklagte rügt zur Begründung ihrer Revision eine Verletzung des § 1246 Abs 1 und 2 Reichsversicherungsordnung (RVO). Dem LSG möge darin gefolgt werden können, daß eine Einsatzfähigkeit des Klägers in allen Bereichen des Berufsbildes eines Waldfacharbeiters aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar sei. Zur Begründung seiner Auffassung, daß der Kläger nicht zumutbar auf berufsfremde Beschäftigungen, insbesondere auf qualifizierte Montier- und Prüftätigkeiten in der Industrie, nicht verwiesen werden könne, verweise der erkennende Senat des LSG auf eine Reihe von früheren Entscheidungen, ohne daß diese Entscheidungen in prozessual ordnungsgemäßer Form in das Verfahren eingebracht gewesen seien. Sie (die Beklagte) hätte Gelegenheit erhalten müssen, sich zu den Ergebnissen der in jenen Verfahren erzielten Beweisergebnissen im Zusammenhang mit den im vorliegenden Verfahren zur Entscheidung stehenden Umständen zu äußern. Daraus ergebe sich eine Verletzung der §§ 62 und 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das LSG hätte genauer prüfen müssen, auf welche Vollzeitbeschäftigungen, die in Tarifverträgen erfaßt seien, der Kläger zumutbar verwiesen werden könne. Es hätte dabei zunächst Beschäftigungen heranziehen müssen, die in Wirtschaft, Verkehr, Handwerk und im öffentlichen Dienst dem bisherigen Beruf des Klägers nahestehen. Danach hätte es auch Bereiche berücksichtigen müssen, die dem bisherigen Beruf entfernter seien. Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Hildesheim vom 5. November 1975 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 22. Oktober 1974 abzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Er hält die Rügen der Beklagten nicht für begründet und macht vorsorglich geltend, daß der Sachverhalt in medizinischer Hinsicht nicht hinreichend geklärt sei. Vom urologischen Befund her müsse von einer weiteren Einschränkung des Leistungsvermögens ausgegangen werden.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen worden ist.

Mit Recht rügt die Beklagte eine Verletzung des § 128 Abs 2 SGG, wonach ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Mit dem Hinweis, der erkennende Senat des LSG habe in den Urteilen einer Reihe von Verfahren, an denen die Beklagte beteiligt gewesen sei, dargelegt, welche Anforderungen an Arbeitnehmer in der Industrie gestellt werden und welche Folgen sich daraus für den Zugang zu Arbeitsplätzen ergeben, will sich das LSG offenbar auf die Ergebnisse der in diesen Verfahren angestellten Ermittlungen berufen. Aus diesen Ergebnissen konnte es aber seine Überzeugung im anhängigen Verfahren nur dann bilden, wenn es dies den Beteiligten vorher bekanntgegeben und ihnen die Möglichkeit eröffnet hätte, sich hierzu im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Verfahrens zu äußern. Auf diesem Recht kann die Beklagte auch dann bestehen, wenn sie an den früheren Verfahren beteiligt war. Ihre Beteiligung an diesen Verfahren ist schon deshalb unerheblich, weil sie ohne einen entsprechenden Hinweis des Gerichts nicht davon auszugehen brauchte, daß das Gericht die Beweisergebnisse jener Verfahren in diesem Verfahren verwerten würde. Die Versicherungsträger sind an vielen Verfahren beteiligt, in denen Beweise mit unter Umständen unterschiedlichen Ergebnissen erhoben werden. Der in § 128 Abs 2 SGG konkretisierte Grundsatz des rechtlichen Gehörs verlangt es, die Beteiligten darauf hinzuweisen, welche dieser Beweisergebnisse in das anhängige Verfahren eingeführt werden sollen, damit sie sich dazu äußern können (vgl hierzu Urteile des erkennenden Senats vom 17. Dezember 1976 - 5 RJ 86/76, vom 22. September 1977 - 5 RJ 96/76 und vom 29. März 1978 - 5 RJ 90/76 sowie SozR Nr 70 zu § 128 SGG und SozR 1500 § 128 Nr 4). Da somit das Urteil fehlerhaft zustande gekommen ist, mußte es aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht zurückverwiesen werden.

Bei der erneuten Entscheidung wird das LSG auch zu prüfen haben, ob der Sachverhalt medizinisch noch nicht ausreichend geklärt ist, wie der Kläger meint, und dann festzustellen haben, welche Art von Arbeiten er allgemein gesehen bei den vorhandenen Gesundheitsstörungen und nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten noch verrichten kann.

Wenn auch - anders als in der Streitsache 5/12 RJ 132/75 (SozR 2200 § 1246 Nr 11) - der Kläger weder einen vorbereitenden Lehrgang für die Waldfacharbeitsprüfung absolviert, noch die Waldfacharbeiterprüfung abgelegt hat, so kann aus den Darlegungen des LSG aber doch die Feststellung entnommen werden, daß er für den Beruf des Waldfacharbeiters angelernt worden ist. Ein zum Waldfacharbeiter angelernter Arbeiter ist aber bei der Anwendung des § 1246 RVO dem Waldfacharbeiter gleichzustellen, wenn er die Arbeit eines gelernten Waldfacharbeiters vollwertig verrichtet hat und wie ein solcher entlohnt worden ist. Eine vollwertige Verrichtung der Tätigkeit als Waldfacharbeiter ist anzunehmen, wenn diese Tätigkeit mit der entsprechenden Entlohnung langjährig ausgeübt worden ist (vgl BSGE 17, 41, 43). Aus den Darlegungen des LSG ergibt sich, daß es diese Voraussetzungen als gegeben angesehen hat und damit zu Recht zu dem Ergebnis gekommen ist, beim Kläger sei als Hauptberuf vom Waldfacharbeiter auszugehen. Gegen diese Auffassung werden von der Beklagten mit der Revision auch keine Einwendungen erhoben.

Das LSG wird aber bei der erneuten Entscheidung darauf zu achten haben, inwieweit seine Rechtsansicht über die Verweisungsmöglichkeiten von Facharbeitern den vom BSG hierfür entwickelten Grundsätzen entspricht (vgl SozR 2200 § 1246 Nrn 16, 17, 21 und 23). Nach der Rechtsprechung des BSG reichen für die Feststellung der Verweisbarkeit oder auch der Nichtverweisbarkeit eines Facharbeiters allgemeine Formulierungen, die leicht zu formelhaften Begründungen werden können, nicht aus. Es müssen konkrete Feststellungen darüber getroffen werden, ob angelernte Arbeiten oder herausgehobene, ungelernte Tätigkeiten vorhanden oder nicht vorhanden sind, die unter Beachtung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers für eine Verweisung in Betracht kommen, wobei herausgehobene, ungelernte Tätigkeiten in der Regel nur anzunehmen sind, wenn sie wegen ihrer Qualität tariflich wie Tätigkeiten der übrigen Ausbildungsberufe (Angelernte) eingestuft sind (vgl hierzu auch die Ausführungen des 4. Senats des BSG im Urteil vom 19. April 1978 - 4 RJ 55/77 -).

Solange ein Beschäftigungsverhältnis mit der Stadt Einbeck bestand oder noch besteht, ist ggf die Art der ausgeübten Tätigkeiten zu ermitteln, damit auch die Frage der Verweisbarkeit auf diese Tätigkeiten geprüft werden kann. Wenn eine Verweisbarkeit auf diese Tätigkeiten nach der aufgezeigten Rechtsprechung des BSG nicht möglich ist, schließt eine Weiterzahlung des alten Lohnes aus arbeitsrechtlichen oder fürsorgerischen Gründen die Rentengewährung wegen Berufsunfähigkeit nicht aus.

Der Senat hat bereits entschieden, daß die Grundsätze, die der Große Senat des BSG zur praktischen Verschlossenheit des Arbeitsmarktes für Teilzeitarbeitskräfte entwickelt hat (SozR 2200 § 1246 Nr 13) grundsätzlich auf Vollzeittätigkeiten nicht angewendet werden können (SozR 2200 § 1246 Nr 19, so nunmehr auch Urteil des 4. Senats des BSG vom 21.9.1977 in SozR 2200 § 1246 Nr 22). Für Vollzeittätigkeiten, die von Tarifverträgen erfaßt sind, könnte allenfalls eine Ausnahme in Betracht kommen, wenn der Kläger nach seinem Gesundheitszustand zwar an sich noch zumutbare Vollzeittätigkeiten verrichten kann, aber nicht in der Lage ist, diese unter den in Betrieben in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen zu verrichten. Das gilt aber nur dann, wenn ihm der Arbeitsmarkt aus diesem Grunde verschlossen ist, nicht aber, wenn er einen Arbeitsplatz innehat, wo er die in Betracht kommenden Arbeiten unter anderen als den üblichen Arbeitsbedingungen verrichtet.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652828

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