Entscheidungsstichwort (Thema)
Auswanderung. Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis
Orientierungssatz
1. Bei Auswanderungen vor dem 1.10.1953 ist die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis als wesentliche Ursache für das Verlassen des Vertreibungsgebietes zu vermuten, es sei denn, es bestünden ausnahmsweise eindeutige Anhaltspunkte dafür, daß das Vertreibungsgebiet maßgeblich aus anderen Gründen verlassen wurde (vgl BSG vom 1983-09-22 4 RJ 31/82).
2. In diesem Zusammenhang ist eine Erklärung des Versicherten im Entschädigungsverfahren (hier: erhoben) als aktiver Gegner des im Vertreibungsgebiet herrschenden politischen Systems eine Verfolgung befürchtet, als nicht ausreichend zur Widerlegung der Vermutung zu sehen.
Normenkette
WGSVG § 20 Fassung: 1977-06-27
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 06.07.1983; Aktenzeichen L 8 J 132/82) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 28.04.1982; Aktenzeichen S 8 J 87/81) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Vormerkung der vom Kläger vom 1. September 1936 bis 31. Mai 1947 in der Tschechoslowakei zurückgelegten Versicherungszeiten.
Der Kläger wurde am 1. Oktober 1920 in der Slowakei geboren. Als Jude war er nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Er ist als Verfolgter iS des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt. Im Juni 1947 wanderte er nach Israel aus. Als Grund für die Auswanderung gab er im Entschädigungsverfahren an, er sei Gegner des seinerzeit in der Tschechoslowakei herrschenden politischen Regimes gewesen und hätte deshalb als zionistischer Aktivist mit weiteren Verfolgungen rechnen müssen.
Seinen am 7. August 1979 gestellten Antrag auf Anerkennung der in der Tschechoslowakei zurückgelegten Versicherungszeiten lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 6. März 1981 ab. Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Düsseldorf (SG) durch Urteil vom 28. April 1982 abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte zur Vormerkung der zwischen dem 1. September 1936 und dem 31. Mai 1947 zurückgelegten Versicherungszeiten verurteilt mit der Begründung, der Kläger sei nach § 20 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (WGSVG) einem anerkannten Vertriebenen gleichzustellen, weil er im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört habe und ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dieser Zugehörigkeit und der Ausreise aus dem Vertreibungsgebiet unwiderleglich zu vermuten sei.
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision. Sie trägt vor, bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhanges zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und der Auswanderung könne nicht von einer unwiderleglichen sondern allenfalls von einer allgemeinen, widerlegbaren Vermutung ausgegangen werden. Eine zu Gunsten des Klägers bestehende Vermutung sei durch seine Angaben im Entschädigungsverfahren über den Grund seiner Auswanderung widerlegt. Ersichtlich seien nur vertreibungsfremde Gründe für die Auswanderung vom Kläger genannt worden. Andere Gründe seien nicht erkennbar.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. Juli 1983 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28. April 1982 zurückzuweisen, hilfsweise den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist darauf hin, daß im Zeitpunkt der Auswanderung die Tschechoslowakei noch nicht kommunistisch beherrscht gewesen sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Mit Recht hat das LSG die Anrechenbarkeit der vom Kläger zurückgelegten Versicherungszeiten bejaht, weil der Kläger nach § 20 WGSVG einem anerkannten Vertriebenen gleichzustellen ist, und die Beklagte zur Vormerkung dieser Zeiten verurteilt.
Die Besonderheit des vorliegenden Rechtsstreites liegt darin, daß nicht über die Auswirkungen von Versicherungszeiten auf einen geltend gemachten Rentenanspruch zu entscheiden ist, sondern lediglich über die Anerkennung von Versicherungszeiten zum Zwecke der Erstellung eines Versicherungsverlaufes. Dieser dient in der Regel lediglich als Nachweisgrundlage und muß deshalb keine Entscheidung über die Anrechenbarkeit der vorzumerkenden Zeiten auf einen Rentenanspruch enthalten (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 13. April 1983 - 4 RJ 24/82). Die Zurücklegung dieser Zeiten ist im vorliegenden Falle unstreitig; der Rechtsstreit bezieht sich ausschließlich auf die rechtliche Eigenschaft dieser Zeiten als Versicherungszeiten und die damit verbundenen versicherungsrechtlichen Auswirkungen. Mit seinem Antrag auf Anrechnung dieser Zeiten begehrte der Kläger von der Beklagten nicht nur die Feststellung, daß er diese Zeiten zurückgelegt hat, sondern auch eine Entscheidung über ihre Eigenschaft als Versicherungszeiten im Sinne des Fremdrentengesetzes (FRG) und der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Der Kläger ist durch die Entscheidung der Beklagten, daß die von ihm zurückgelegten Zeiten keine Versicherungszeiten sind, beschwert. Ob und inwieweit diese Zeiten als Versicherungszeiten anrechenbar sind, hängt von tatsächlichen Voraussetzungen - z.B. Zugehörigkeit des Klägers zum deutschen Sprach- und Kulturkreis, Ursache für die Auswanderung - ab, die vom Kläger nachgewiesen bzw glaubhaft gemacht werden müssen. Insoweit schafft der Versicherungsverlauf die entsprechende Nachweisgrundlage, die ihm weitere Dispositionen (zB die Nachentrichtung von Beiträgen) ermöglicht. Im übrigen hat die Beklagte im angefochtenen Bescheid über die Anrechenbarkeit entschieden und der Kläger hat ein berechtigtes Interesse daran, insoweit keine Bindungswirkung nach § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eintreten zu lassen.
Zutreffend hat das LSG die Zugehörigkeit des Klägers zum deutschen Sprach- und Kulturkreis festgestellt. Diese Feststellung ist von der Beklagten nicht angegriffen worden, sie ist demgemäß der Entscheidung zugrundezulegen. Das LSG geht allerdings von einer unwiderleglichen Vermutung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und der Auswanderung aus (vgl BSG Urteil vom 16. Februar 1982 - 12 RK 56/80 = SozR 5070 § 20 WGSVG Nr 4 S 15), die Beklagte hingegen will insoweit nur eine allgemeine Vermutung gelten lassen. Indessen bedarf diese Frage hier keiner abschließenden Entscheidung. Auch die von der Beklagten akzeptierte allgemeine Vermutung führt nach den vom LSG getroffenen, nicht angegriffenen Feststellungen bereits zu dem vom LSG gefundenen versicherungsrechtlichen Ergebnis. Die Beklagte wendet zwar ein, daß der Kläger nach seinen Angaben im Entschädigungsverfahren die Tschechoslowakei aus politischen Gründen verlassen habe, weitere Gegengründe führt sie jedoch nicht ins Feld. Der erkennende Senat hat jedoch bereits im Urteil vom 22. September 1983 - 4 RJ 31/82 - entschieden, daß bei Auswanderungen vor dem 1. Oktober 1953 die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis als wesentliche Ursache für das Verlassen des Vertreibungsgebietes zu vermuten ist, es sei denn, es bestünden ausnahmsweise eindeutige Anhaltspunkte dafür, daß das Vertreibungsgebiet maßgeblich aus anderen Gründen verlassen wurde. Hierzu hat der Senat weiter ausgeführt, daß nach der Lebenserfahrung eine ganze Reihe gewichtiger Gründe zusammenkommen muß, ehe der schwerwiegende Entschluß einer Auswanderung gefaßt wird. In diesem Zusammenhang hat der Senat eine Erklärung des Versicherten im Entschädigungsverfahren als nicht ausreichend zur Widerlegung der Vermutung angesehen. Bei Anwendung dieser vom erkennenden Senat festgelegten Grundsätze und unter Beachtung des Zeitpunktes der Auswanderung (Juni 1947) sind keine Gründe vorgetragen oder ersichtlich, die auf eine Abweichung von der allgemeinen Vermutung hindeuten. Hiernach besteht keine Notwendigkeit zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts. Wenn der Versicherte als aktiver Gegner des im Vertreibungsgebiet herrschenden politischen Systems eine Verfolgung befürchtete, so schließt dies keineswegs aus, daß er auch wegen seiner Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis, die zu der Zeit dem dortigen System mindestens gleichermaßen suspekt erschien, eine Verfolgung hätte befürchten müssen oder können. Seine damalige Erklärung entkräftet mithin die allgemeine Vermutung nicht.
Nach alldem war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen