Leitsatz (amtlich)
Ein ehemaliger Berufsunteroffizier der früheren Wehrmacht kann auf Büroarbeiten, die eine kürzere betriebliche Einweisungs- und Einarbeitungszeit erfordern und sich in ihrer Bedeutung von Tätigkeiten allereinfachster Art abheben, zumutbar verwiesen werden.
Dasselbe gilt für einen Berufsmusiker, der lediglich eine praktische Ausbildung erfahren und nur in volkstümlichen Kapellen mit einem relativ niedrigen Entgelt tätig gewesen ist.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 25. April 1968 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 16. Februar 1967 zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben sich die Beteiligten nicht zu erstatten.
Gründe
I
Unter den Beteiligten ist die Gewährung einer Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit streitig, insbesondere besteht Streit darüber, auf welche Tätigkeiten der Kläger bei Prüfung der Berufsunfähigkeit verwiesen werden kann.
Der Kläger ist am 31. Oktober 1908 in Ostpreußen geboren. In der Zeit von 1924 bis 1929 wurde er von seinem Vater, der Leiter der Stadtkapelle in R in Ostpreußen war, als Musiker ausgebildet und hat dann bis 1937 in der volkstümlichen Kapelle seines Vaters gespielt. Außerdem betätigte er sich als Geigenlehrer. Gegen Ende des Jahres 1937 wurde er Berufssoldat. Bis Kriegsbeginn war er als Militärmusiker eingesetzt, während des Krieges befand er sich bei ... einem Kampftruppenteil. Nach der im Jahre 1946 erfolgten Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft fand er bis zum Jahre 1948 Aushilfstätigkeiten als Musiker. Anschließend arbeitete er mit Unterbrechungen (Arbeitslosigkeit) als Justizaushelfer, Hilfsarbeiter und Verwaltungsangestellter. Zuletzt war er von Juni 1963 bis August 1964 Lagerist in einer Autoreparaturwerkstatt.
Den bei der Beklagten am 14. Dezember 1964 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 7. April 1965 ab, weil der Kläger noch leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und im Stehen mit Unterbrechung - ohne Bücken und schweres Heben - verrichten könne.
Die gegen den Bescheid erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Lübeck mit Urteil vom 16. Februar 1967 abgewiesen. Auf die dagegen vom Kläger eingelegte Berufung hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten vom 7. April 1965 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, durch den ihm vom 1. Dezember 1964 an Rente wegen Berufsunfähigkeit gewährt wird. Auch das LSG ist der Ansicht, daß auf internistischem und chirurgischem Fachgebiet keine hochgradigen Gesundheitsstörungen vorhanden sind, die das Leistungsvermögen über das von der Beklagten angenommene Ausmaß hinaus beeinträchtigen. Zusätzlich sei jedoch zu berücksichtigen, daß beim Kläger nach einer im November 1965 erfolgten Radikaloperation des rechten Mittelohres eine hochgradige Schwerhörigkeit rechts sowie eine Schalleitungsschwerhörigkeit links vorhanden seien, die es ihm nach den überzeugenden Ausführungen eines berufskundlichen Sachverständigen unmöglich machen, die erlernten Instrumental- und Musikkenntnisse zu verwerten. Es fehle an einem Wahrnehmungsvermögen für bestimmte Tongruppen, insbesondere aber an dem unbedingt erforderlichen binauralen Hörvermögen, so daß der Kläger weder als Musiker noch als Musiklehrer beruflich tätig sein könne. Damit gebe es auf der Grundlage der Musikerausbildung ohne Umschulung keine Tätigkeit, die er ohne Inanspruchnahme des Hörvermögens allein aufgrund seiner Fachkenntnisse als Musiker ausüben könne, so daß er als Musiker berufsunfähig sei. Der Berufsschutz als Musiker sei ihm zuzubilligen. Zwar seien für die Tätigkeit des Klägers bei seinem Vater keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung glaubhaft gemacht, jedoch gelte er nach § 72 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen (G 131) für die Zeit seines Dienstes als Berufssoldat - Militärmusiker - (vom 4. Dezember 1937 bis zum 8. Mai 1945) als nachversichert, und zwar gelte diese Nachversicherung für Berufssoldaten generell als in der Angestelltenversicherung durchgeführt (§ 72 Abs. 2 Satz 2 G 131). Der Gesetzgeber habe davon ausgehen können, daß Berufssoldaten während ihrer Dienstzeit eine Fachausbildung erhielten, die sie zum Eintritt in den Verwaltungsdienst befähigen, so daß die Nachversicherung in der Angestelltenversicherung konsequent erscheine. Anders hingegen lägen die Verhältnisse beim Kläger als Musiker, der sicherlich in der Absicht Berufssoldat geworden sei, als solcher seinen erlernten Zivilberuf weiter ausüben zu können. Während bei Berufssoldaten gewöhnlich mit Beginn des Dienstverhältnisses eine Zäsur eintrete, stelle sich beim Kläger die Betrachtung der beruflichen Seite als eine Einheit dar. Er habe sich daher als Berufssoldat nicht von seinem Beruf als Musiker gelöst. Das könne auch nicht durch die nach Kriegsende verhältnismäßig kurzfristig aufgenommenen Beschäftigungen als Justizaushelfer, Hilfsarbeiter, Büroangestellter und Lagerarbeiter angenommen werden. Die Möglichkeit einer Verweisung auf Angestelltentätigkeiten bestehe nicht, weil der Kläger keine hinreichenden Verwaltungskenntnisse und keine entsprechende Ausbildung besitze. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Mit der eingelegten Revision macht die Beklagte geltend, das LSG habe dem Kläger zu Unrecht einen Berufsschutz als Musiker eingeräumt. Es sei nicht richtig, daß im vorliegenden Falle der bis zum Eintritt in das Dienstverhältnis als Berufssoldat ausgeübte Beruf als Musiker auch für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung maßgebend sei. Selbst soweit er als Soldat den ursprünglichen Beruf als Musiker bis Kriegsbeginn weiter ausgeübt habe, sei sein eigentlicher Beruf der eines Berufssoldaten gewesen. Gegenstand der Nachversicherung sei daher lediglich der Soldatenberuf. Welche besondere Tätigkeit der einzelne als Soldat ausgeübt habe, sei unerheblich. Die Höhe der Nachversicherung richte sich lediglich nach dem innegehabten Dienstgrad. Zu Recht habe das LSG festgestellt, daß für den Kläger bis zum Eintritt in das Dienstverhältnis als Berufssoldat keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet worden seien.
Selbst wenn man die Zeit vom Eintritt in die damalige Wehrmacht bis zum Kriegsbeginn (Ende 1937 bis Ende August 1939) als Musikertätigkeit berücksichtigen könnte, könne von diesem Beruf bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit nicht ausgegangen werden, weil der Kläger dann erst wieder in den Jahren von 1946 bis 1948 mit Unterbrechungen als Musiker gearbeitet habe und daher mit den für eine Musikertätigkeit entrichteten Beiträgen die Wartezeit von 60 Monaten nicht erfüllt gewesen sei, bevor er diesen Beruf endgültig aufgegeben habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 25. April 1968 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 16. Februar 1967 zurückzuweisen,
hilfsweise die Sache an das Landessozialgerichts zurückzuverweisen.
Der Kläger hat im Revisionsverfahren keine Anträge gestellt.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Wie sich aus § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und § 23 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ergibt, bestimmt für die Feststellung der Berufsunfähigkeit der "bisherige Beruf" das versicherte Risiko. Daraus ergibt sich, daß der "bisherige Beruf" nur ein pflichtversichert gewesener Beruf sein kann und daß bei mehreren versicherungspflichtig ausgeübten Berufen in der Regel nur einer als "bisheriger Beruf" heranzuziehen ist (vgl. BSG 24, 7, 11). Auch für einen Beruf, wie für die Tätigkeit des Klägers in der Kapelle seines Vaters, für den keine Beiträge entrichtet worden bzw. diese nicht nachzuweisen sind, scheidet diese Tätigkeit als "bisheriger Beruf" aus. Bei einer erfolgten Nachversicherung ist der während der Nachversicherung ausgeübte Beruf als pflichtversichert gewesener Beruf anzusehen. Der Kläger gilt gem. § 72 Abs. 1 i.V.m. § 72 Abs. 2 Satz 3 G 131 als ehemaliger Berufssoldat der früheren Wehrmacht für die Zeit von Dezember 1937 bis Mai 1945 (90 Monate) in der Rentenversicherung der Angestellten als nachversichert. Aus den für die Nachversicherung angenommenen Bruttoarbeitsverdiensten ergibt sich, daß für die ersten 23 Monate ein Mannschaftsdienstgrad, im übrigen der Dienstgrad eines Unteroffiziers zugrunde gelegt worden ist. In den Jahren 1946 bis 1948 sind etwa 20 Pflichtbeiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet worden, bei denen es sich um eine Tätigkeit als Musiker gehandelt haben kann. Bei den später in den Jahren 1959 und 1962 entrichteten 4 Beiträgen zur Angestelltenversicherung hat es sich nicht mehr um eine Tätigkeit als Musiker gehandelt. Außerdem sind für den Kläger in den Jahren von 1960 bis 1964 etwa 30 Monate Pflichtbeiträge zur Arbeiter-Rentenversicherung für Tätigkeiten beim Amtsgericht Lübeck, bei der Stadt Lüneburg, in einer Sitzmöbelfabrik und in einer Volkswagen-Vertragswerkstatt als Lagerist entrichtet worden.
Für die Entscheidung des Rechtsstreits kann es dahingestellt bleiben, welcher der vom Kläger ausgeübten Berufe, für den Beiträge entrichtet worden sind, als "bisheriger Beruf" i.S. des § 1246 Abs. 2 RVO (= § 23 Abs. 2 AVG) anzusehen ist; denn bei keiner der vom Kläger bisher ausgeübten Berufstätigkeiten, für die Beiträge entrichtet sind, liegt Berufsunfähigkeit im Sinne dieser Vorschriften vor. Das SG ist mit Recht zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger, der nach den Feststellungen des LSG noch leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und im Stehen mit Unterbrechungen - ohne Bücken und schweres Heben - verrichten kann, auf einfache Büroarbeiten, wie zB Registratur- und Karteiarbeiten, verwiesen werden kann. Einfache Büroarbeiten erfordern keine besonderen Verwaltungskenntnisse und keine besondere Ausbildung, so daß wegen des Fehlens solcher Kenntnisse und einer solchen Ausbildung eine derartige Verweisung nicht - wie das LSG meint - ausscheidet. Erforderlich ist vielmehr lediglich eine kürzere betriebliche Einweisungs- und Einarbeitungszeit.
Die Zumutbarkeit einer solchen Verweisung bedarf hinsichtlich der vom Kläger ausgeübten Tätigkeiten als Justizaushelfer, Hilfsarbeiter, Verwaltungsangestellter und Lagerist keiner weiteren Erörterung, da er insoweit uneingeschränkt auf das allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden kann, sie ist aber auch zu bejahen, wenn man als bisherigen Beruf des Klägers den des Berufssoldaten oder den eines Musikers von der Art des Klägers annimmt.
Für die Entscheidung der Frage der Zumutbarkeit i.S. des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO (= § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG) ist von Bedeutung, daß bei der Anwendung der genannten Vorschriften neben die Ausbildung als weiteres gleichwertiges Bewertungselement "der Beruf" tritt, d.h. die Bedeutung dieses Berufs unter Berücksichtigung etwaiger besonderer Anforderungen, die er an den Versicherten stellt. Für die Bewertung der Bedeutung eines Berufs stellt die tarifliche Einstufung bzw. die Möglichkeit, in diesem Beruf wirtschaftliche Werte zu erwerben, ein wichtiges Indiz dar.
Aus § 72 Abs. 1 G 131 ergibt sich, daß der Gesetzgeber für die Nachversicherung davon ausgeht, daß die Berufssoldaten der früheren Wehrmacht einen Beruf eigener Art ausgeübt haben. Für die Frage der Zumutbarkeit einer Verweisung eines Berufssoldaten bietet der bei der früheren Wehrmacht erreichte Dienstgrad einen gewissen Anhaltspunkt, zumal der Nachversicherung die bei der Wehrmacht erzielten Bruttoarbeitsverdienste zugrunde zu legen sind, wobei - soweit kein vollständiger Nachweis gelingt - auf die in Nr. 9 Abs. 5 der Verwaltungsvorschriften zu den §§ 72 bis 74 G 131 vom 5. Januar 1961 (BAnz Nr. 9) auf die nach Dienstgraden gestaffelten Durchschnittsbeträge zurückzugreifen ist. Hierbei ist bei der Nachversicherung von Mannschaften ein Durchschnittsbetrag von monatlich 100 RM und bei Unteroffizieren von monatlich 200 RM zugrunde zu legen. Ein Berufssoldat mit einem Mannschaftsdienstgrad kann zumutbar auf alle versicherungspflichtigen Tätigkeiten verwiesen werden, während für einen Unteroffizier nur diejenigen Tätigkeiten zumutbar sind, die sich in ihrer Bedeutung von Tätigkeiten allereinfachster Art abheben. Hierzu gehören aber die oben genannten einfachen Büroarbeiten.
Auch ein Musiker, der, wie der Kläger, lediglich eine praktische Ausbildung erfahren, nur in volkstümlichen Kapellen gespielt und für seine Tätigkeit nur ein relativ niedriges Entgelt erzielt hat, kann auf solche Tätigkeiten zumutbar verwiesen werden. Für die Zeit, in der der Kläger in der volkstümlichen Kapelle seines Vaters gespielt hat, sind, wie bereits ausgeführt, keine Beiträge festzustellen, so daß diese Tätigkeit bei der Frage, welche Bedeutung die Musikertätigkeit des Klägers hat, unberücksichtigt bleiben muß. Während der Zeit, in welcher der Kläger bis zum Kriegsausbruch bei der Wehrmacht als Militärmusiker tätig war, ist der Nachversicherung ein Bruttoarbeitsverdienst von 100 RM - Mannschaftsdienstgrad - zugrunde gelegt worden, den 20 in den Jahren 1946 bis 1948 erbrachten Beiträgen lag ein monatliches Durchschnittseinkommen von etwa 220 RM zugrunde. Auch während dieser Zeiten kann der ausgeübten Musikertätigkeit keine größere Bedeutung zugemessen werden. Daher kann der Kläger auch von der Musikertätigkeit als "bisherigem Beruf" ausgehen und zumutbar auf die genannten einfachen Büroarbeiten verwiesen werden.
Da nach den Feststellungen des LSG beim Kläger keine solchen gesundheitlichen Schäden bestehen, die eine ganztägige Verrichtung dieser Tätigkeiten ausschließen, und er auch wissens- und könnensmäßig in der Lage ist, diese Tätigkeiten, da sie nur eine kürzere betriebliche Einweisung und Einarbeitung erfordern, auszuführen, kann er auf sie bei der Prüfung des Vorliegens von Berufsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung verwiesen werden, so daß das Vorliegen von Berufsunfähigkeit in keinem der vom Kläger versicherungspflichtig ausgeübten Berufe bejaht werden kann.
Daher war auf die Revision der Beklagten das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen