Entscheidungsstichwort (Thema)

Umwandlung einer Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit in eine Bergmannsrente. Sachaufklärungspflicht

 

Orientierungssatz

1. Nach § 86 Abs 1 S 3 RKG wird die Knappschaftsrente in eine Bergmannsrente umgewandelt, wenn der Berechtigte infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig, aber noch vermindert bergmännisch berufsfähig ist. Eine Änderung in diesem Sinne ist durch einen Vergleich der tatsächlich bestehenden Verhältnisse zZt der Bescheiderteilung mit denen im Zeitpunkt der Umwandlung zu ermitteln, wobei es allerdings unerheblich ist, welche Verhältnisse der Versicherungsträger zugrunde gelegt hat.

2. Für eine hinreichende Würdigung der Sachlage bedarf es nicht notwendig eines ausdrücklichen Eingehens auf jedes einzelne Vorbringen eines Beteiligten. Es braucht nicht bis in alle Gedankengänge hinein erkennbar zu sein, wie das Gericht das Vorbringen eines Beteiligten beurteilt, wenn noch aus dem Gesamtzusammenhang entnommen werden kann, warum einem bestimmten Umstand keine Bedeutung beigemessen worden ist (vgl BSG 1967-06-09 4 RJ 109/67 = SozR SGG § 128 Nr 79).

 

Normenkette

RKG § 86 Abs. 1 S. 3; SGG § 103; RVO § 1286 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 24.04.1969)

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 19.10.1966)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. April 1969 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten über die Berechtigung der Beklagten, die dem Kläger gewährte Rente wegen Berufsunfähigkeit in Bergmannsrente umzuwandeln.

Der am 21. November 1930 geborene Kläger war seit August 1950 im Bergbau, zuletzt 80 Monate als Hauer beschäftigt. Er erlitt am 19. November 1962 einen Arbeitsunfall, bei dem es zu einem Bruch des vorderen und hinteren Beckenringes mit Harnröhrenabriß kam. Von der Bergbau-Berufsgenossenschaft erhält er eine Teilrente in Höhe von 40 % der Vollrente. Seit dem 7. Juni 1963 ist der Kläger als Markenausgeber wieder beschäftigt. Mit Bescheid vom 3. Februar 1964 gewährte die Beklagte dem Kläger die Berufsunfähigkeitsrente vom 1. Mai 1963 an. Der Chefarzt des Knappschaftskrankenhauses R, Dr. E, stützte sich bei seiner medizinischen Beurteilung vom 29. November 1963 auf ein chirurgisches Gutachten von Prof. Dr. G vom 9. Mai 1963, der beim Kläger eine Atrophie der Gesäß- und Oberschenkelmuskulatur, eine Bewegungseinschränkung der Hüftgelenke beiderseits, eine narbige Verengung der Harnröhre, einen Zustand nach vorderem und hinterem Beckenringbruch beiderseits, links unter starker, rechts unter mäßiger Verschiebung knöchern fest verheilt, und eine Vermindrung des Kalksalzgehalts des Beckenskeletts festgestellt hatte. Den urologischen Befund hatte Dr. M vom Knappschaftskrankenhaus B in seinem Gutachten vom 6. Juli 1963 als hochgradige Harnröhrenstriktur mit narbiger Verziehung der Harnröhre und der dadurch verursachten Notwendigkeit regelmäßiger Bougierung beschrieben. Dr. E hielt deshalb den Kläger nur noch für fähig, Tätigkeiten der Lohngruppen IV und V über Tage zu verrichten. Das Ergebnis einer erneuten Untersuchung faßte Dr. E am 12. Dezember 1964 zusammen, indem er angab, die Muskulatur des Beckengürtels sei kräftiger, die Beweglichkeit beider Hüftgelenke freier geworden und die Belastungsfähigkeit des Beckengürtels habe zugenommen, so daß nunmehr Tätigkeiten der Lohngruppen II bis V unter und über Tage verrichtet werden könnten. Mit Bescheid vom 13. Januar 1965 wandelte daraufhin die Beklagte die Berufsunfähigkeitsrente mit Wirkung vom 1. März 1965 in Bergmannsrente um. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg.

In dem vom Sozialgericht (SG) eingeholten Gutachten verneinte Dr. Sch, Dozent für Chirurgie und Urologie, eine wesentliche Besserung im Gesundheitszustand des Klägers seit Erteilung des Bescheides vom 3. Februar 1964. Zwar sei chirurgisch insofern eine Besserung festzustellen, als sich die Atrophie der Gesäß- und Oberschenkelmuskulatur zurückgebildet habe, der für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit ausschlaggebende urologische Befund bestehe jedoch unverändert fort. Die Neigung zu Harninfektionen und die Gefahr einer aufsteigenden Nierenbeckenentzündung machten den Schutz vor Nässe, Unterkühlung und Zugluft erforderlich, so daß der Kläger nur in geschlossenen Räumen arbeiten könne. Prof. Dr. H bestätigte in seinem fachchirurgischen Gutachten die von Dr. E schon am 29. November 1963 erhobenen Befunde und schloß eine wesentliche Besserung seit Februar 1964 aus. Er hielt den Kläger nach wie vor zur Verrichtung leichter bis mittelschwerer Arbeiten in geschlossenen Räumen für fähig.

Das SG hat die Beklagte verurteilt, die Rente wegen Berufsunfähigkeit über den 1. März 1965 hinaus weiterzugewähren, weil die Befunde, die zur Bewilligung der Rente geführt hätten, weiterhin fortbestünden. Mit der Berufung legte die Beklagte eine Stellungnahme Dr. E vom 2. Februar 1967 vor, wonach für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Klägers in erster Linie die Folgezustände nach dem Beckenbruch maßgebend gewesen seien. Hier sei aber eine Besserung der Belastungsfähigkeit festzustellen. Schon allein der Umstand der knöchernen Ausheilung und Gewöhnung sei ausreichend, um nach zwei Jahren eine Besserung zu unterstellen, die eintrete, sobald durch Wiederaufnahme einer Funktion die Muskulatur zunehme, die Umgewöhnung an die geänderten Verhältnisse beginne und die Brüche knöchern ausheilten.

In seinem zweiten, dem Landessozialgericht (LSG) erstatteten Gutachten mit einer Stellungnahme zu den Ausführungen Dr. E wiederholte Prof. Dr. H im wesentlichen seine Feststellungen im Verfahren vor dem SG und kam mit Dr. Sch zu dem Ergebnis, daß eine Besserung zwar eingetreten sei, die Gesichtspunkte für die Einsatzmöglichkeiten des Klägers seit Erteilung des Bescheides vom 3. Februar 1964 aber davon unberührt blieben. Der Beckengürtel werde bei Tätigkeiten der Lohngruppen IV und V nicht weniger - u. U., wie beim Wächter - sogar mehr belastet als bei denen der Lohngruppe III. Im übrigen würden die urologischen Unfallfolgen von Dr. E offensichtlich bagatellisiert. Gerade diese seien aber von besonderer Bedeutung für die Einsatzfähigkeit des Klägers.

Das LSG hat noch einen Bericht über die ambulante Behandlung in der Zeit der Arbeitsunfähigkeit des Klägers vom 29. November 1963 bis zum 1. Januar 1964 beigezogen und den Facharzt für Chirurgie, Dr. L, als Sachverständigen gehört. Dieser nahm eine wesentliche Besserung des chirurgischen Befundes in der Zeit von Mai 1963 bis Ende 1964 an, wobei die größeren Fortschritte naturgemäß in der ersten Zeit gemacht worden seien, so daß im Februar 1964 eine weitgehende Besserung schon vorhanden gewesen sei. In der Folgezeit könne der weitere Fortschritt für sich allein nicht mehr als wesentlich bezeichnet werden.

Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und ausgeführt, eine Änderung des medizinischen Befundes im Sinne einer Besserung sei in ausreichendem Umfang nicht nachzuweisen. Alle im Verfahren gehörten Sachverständigen hätten im Gegensatz zur Beklagten und Dr. E eine wesentliche Besserung im Gesundheitszustand des Klägers für den entscheidenden Zeitraum verneint. Dr. L habe dargelegt, daß das röntgenologisch durch Prof. Dr. H nachgewiesene Ausheilungsresultat im wesentlichen bereits im Gutachten von Prof. Dr. G vom 9. Mai 1963 beschrieben worden sei. Die mit der zunehmenden Bruchheilung verbundene Anpassung und Gewöhnung sei z. Zt. der Bescheiderteilung schon weitgehend eingetreten, so daß danach nur eine geringfügige Besserung festzustellen sei. Diese sei nicht geeignet, die Umwandlung der Rente zu rechtfertigen. Es bestünden erhebliche Bedenken, ob der Kläger z. Zt. der Rentenbewilligung überhaupt noch berufsunfähig gewesen sei. Für die Entscheidung sei diese Frage jedoch unerheblich, weil schon die erforderliche Änderung in den Verhältnissen nicht in ausreichendem Maße nachgewiesen sei.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte einen Verstoß gegen § 86 Abs. 1 Satz 3 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) und trägt dazu vor, auch eine geringfügige Änderung berechtige zur Umwandlung der Rente, wenn infolge dieser Änderung die Berufsunfähigkeit entfalle. Es komme entscheidend darauf an, ob in den Verhältnissen, die der Versicherungsträger der Rentengewährung zugrunde gelegt habe, eine Änderung eingetreten sei. Eine wesentliche Änderung verlange das Gesetz nicht mehr. Wenn das Berufungsgericht der Auffassung sei, die entscheidende Besserung sei bereits vor der Zuerkennung der Rente eingetreten, so übersehe es, daß u. U. auch eine nur geringfügige Besserung eine rechtserhebliche Änderung bewirken könne. Es sei durch die behandlungsbedürftige Arbeitsunfähigkeit des Klägers in der Zeit vom 29. November 1963 bis zum 1. Januar 1964 zumindest fraglich, ob der Prozeß der Anpassung und Gewöhnung im Februar 1964 beendet gewesen sei. Das LSG habe es versäumt, dies durch Anforderung entsprechender Unterlagen aufzuklären (§§ 103 Satz 1, 106 Abs. 3 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Gelsenkirchen vom 19. Oktober 1966 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig.

II

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß die Voraussetzungen für eine Umwandlung der Rente des Klägers nicht erfüllt sind. Nach § 86 Abs. 1 Satz 3 RKG wird die Knappschaftsrente in eine Bergmannsrente umgewandelt, wenn der Berechtigte infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig, aber noch vermindert bergmännisch berufsfähig ist.

Wie die Revision mit Recht ausführt, ist eine Änderung in diesem Sinne durch einen Vergleich der tatsächlich bestehenden Verhältnisse z. Zt. der Bescheiderteilung mit denen im Zeitpunkt der Umwandlung zu ermitteln, wobei es allerdings unerheblich ist, welche Verhältnisse der Versicherungsträger zugrunde gelegt hat. Das LSG hat dies nicht verkannt. Seine das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen entsprechen diesem Erfordernis. Danach ist es nicht fraglich, daß überhaupt eine Änderung eingetreten ist, es ist nur festgestellt, daß die Besserung im Gesundheitszustand des Klägers ohne wesentlichen Einfluß auf die körperliche Leistungs- und Einsatzfähigkeit geblieben ist; die im Verfahren eingeholten Gutachten rechtfertigten diesen Schluß, da der objektiv nachweisbare Befund sich kaum geändert habe und Anpassung und Gewöhnung im Zeitpunkt der Rentenbewilligung bereits weitgehend eingetreten seien. Diesem Ermittlungsergebnis liegt eine falsche Rechtsauffassung nicht zugrunde. Es ist zwar richtig - worauf die Beklagte hinweist -, daß auch eine geringfügige Änderung rechtserheblich ist, wenn dadurch die Berufsunfähigkeit beseitigt wird. Dies hat das Berufungsgericht jedoch nicht übersehen. Den Entscheidungsgründen ist nichts für die Ansicht des Gerichts zu entnehmen, § 86 Abs. 1 RKG erfordere nach seinem Tatbestand eine besonders weitgehende Änderung in den Verhältnissen des Berechtigten. Die Beklagte verkennt, daß das LSG eine rechtserhebliche Änderung im angeführten Sinne aus tatsächlichen Gründen verneint, wenn es ausführt, eine Besserung in ausreichendem Umfang sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht nachzuweisen. Damit steht auch für das Revisionsgericht bindend fest, daß der Kläger z. Zt. der Rentenumwandlung auf Grund seines Gesundheitszustandes zu anderen, körperlich schwereren Arbeiten als z. Zt. der Bewilligung nicht in der Lage war, weil die Unfallfolgen noch nicht oder nicht mehr in einem solchen Grade abgeklungen waren, der es erlaubt hätte, den Kreis der Tätigkeiten, die der Kläger noch verrichten konnte, nunmehr zu erweitern. Das LSG geht daher nicht fehl, wenn es eine wesentliche Änderung in diesem Sinne für erforderlich hält, denn eine rechtserhebliche Änderung kann nur vorliegen, wenn sich der Kreis der Verweisungstätigkeiten verändert. Fehlt es schon daran, bedarf es der Subsumtion der tatsächlichen Umstände im Zeitpunkt der Bewilligung und dem der Entziehung unter den Begriff der Berufsunfähigkeit nicht mehr, weil es schon an der erforderlichen Änderung mangelt. Die Voraussetzungen für eine Umwandlung sind auch dann nicht gegeben, wenn der Kläger z. Zt. der Rentenbewilligung schon nicht mehr berufsunfähig war.

Soweit die Beklagte die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts mit der Rüge mangelnder Sachaufklärung (§ 103 SGG) angreift, entspricht diese nicht der Vorschrift des § 164 Abs. 2 SGG. Das LSG hat über die Zeit der Arbeitsunfähigkeit des Klägers vom 29. November 1963 bis zum 1. Januar 1964 einen Befund- und Behandlungsbericht beigezogen, der dem Sachverständigen bei seiner Begutachtung vorgelegen hat. Die Beklagte hätte unter diesen Umständen besondere Veranlassung gehabt darzulegen, auf Grund welcher Umstände das LSG sich dennoch hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Ermittlungen anzustellen und - wenn Befund - und Behandlungsbericht nicht genügten - in welcher Richtung Ermittlungen im einzelnen hätten vorgenommen werden müssen. Der Hinweis, Untersuchungsbefunde aus dieser Zeit könnten die Annahme einer bereits zur Zeit der Rentenbewilligung weitgehend eingetretenen Besserung ausschließen, läßt weder erkennen, auf Grund welcher Umstände für das Gericht Anlaß bestanden haben sollte, weitere Ermittlungen anzustellen, noch in welcher Hinsicht diese unterblieben sein sollen.

Im übrigen bedarf es für eine hinreichende Würdigung der Sachlage nicht notwendig eines ausdrücklichen Eingehens auf jedes einzelne Vorbringen eines Beteiligten. Aus dem Tatbestand des angefochtenen Urteils ist jedenfalls mit genügender Deutlichkeit zu entnehmen, daß der Bericht der Überzeugungsbildung des LSG zugrunde gelegen hat. Es braucht nicht bis in alle Gedankengänge hinein erkennbar zu sein, wie das Gericht das Vorbringen eines Beteiligten beurteilt, wenn noch aus dem Gesamtzusammenhang entnommen werden kann, warum einem bestimmten Umstand keine Bedeutung beigemessen worden ist (vgl. BSG SozR SGG § 128 Nr. 79).

Wenn die Beklagte schließlich meint, die medizinische Beurteilung ihres Chefarztes sei denen der gerichtlichen Sachverständigen vorzuziehen, weil dieser u. a. den Gesundheitszustand des Klägers aus eigener Anschauung gekannt habe, so vermag dies die tatsächlichen Feststellungen nicht zu erschüttern; denn die Feststellungen sind fehlerfrei getroffen. Auch Dr. E hat seine Beurteilung vom 29. November 1963 im wesentlichen auf die durch Dr. G und Dr. M schon im Mai bzw. Juli 1963 erhobenen Befunde gestützt, so daß ihr keine größere Wirklichkeitsnähe beizumessen sein dürfte als den übrigen Gutachten. Liegen aber mehrere Gutachten vor, steht es im Ermessen des Tatsachengerichts, welchem der Gutachten es sich anschließt. Die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung sind nicht überschritten, weil das LSG sich sachlich mit der Ansicht Dr. E auseinandergesetzt und seine gegenteilige Ansicht überzeugend mit den gerichtlichen Sachverständigen begründet hat.

Die Revision war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648025

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