Entscheidungsstichwort (Thema)
Internierung von Volksdeutschen in Rußland
Leitsatz (redaktionell)
Eine Internierung iS von BVG § 1 Abs 2 Buchst c liegt auch vor, wenn ein Volksdeutscher zwar schon im Jahre 1935 wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit vom russischen Sicherheitsdienst festgenommen worden ist, sich der Grund für das Festhalten mit Ausbruch des 2. Weltkrieges aber grundlegend geändert hat, indem aus der bisherigen Ausnutzungstendenz eine Vernichtungstendenz mit entsprechend schlechteren Lebensbedingungen wurde, denen er schließlich zum Opfer gefallen ist.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 2 Buchst. c Fassung: 1950-12-20
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 22. August 1957 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin beantragte im Dezember 1953, ihr Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren: Ihr im Jahre 1883 geborener Ehemann sei am 4. September 1935 in seinem damaligen Wohnort in W als Schullehrer wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit vom russischen Sicherheitsdienst verhaftet, verschleppt und zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Die letzte Nachricht von ihm habe sie im April 1941 erhalten. Das Versorgungsamt Hannover lehnte den Antrag durch Bescheid vom 6. Februar 1954 mit der Begründung ab, es handele sich nicht um eine Internierung im Sinne des § 1 Abs.2 Buchst. c BVG. Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG.) Lüneburg durch Urteil vom 31. August 1956 abgewiesen: Eine Internierung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG liege nur vor, wenn schon ihr Beginn im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg stehe; das sei aber bei der bereits im September 1935 erfolgten Inhaftierung nicht der Fall gewesen. Die Berufung der Klägerin gegen diese Entscheidung hatte Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG.) Niedersachsen in Celle hat den Beklagten mit dem angefochtenen Urteil verurteilt, der Klägerin vom 1. Dezember 1953 an Hinterbliebenenrente zu gewähren: Der Tatbestand des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG setze zwar einen ursächlichen Zusammenhang der Internierung mit einem der beiden Weltkriege voraus, dieser müsse aber nicht schon bei Beginn der Internierung bestanden haben, sondern könne auch nachträglich hergestellt werden. Das sei hier der Fall. Aus einer in dem Urteil des Bayerischen LSG. vom 16. Februar 1955 (Breithaupt 1955, S. 757) wiedergegebenen gutachtlichen Äußerung des Osteuropa-Instituts in München ergebe sich, daß sich bei der Verfolgung des Deutschtums in Rußland die Verhältnisse durch den Ausbruch des Krieges wesentlich geändert hätten. Aus der "Ausnutzungstendenz" - Ausnutzung billiger Arbeitskräfte - sei eine "Vernichtungstendenz" geworden. Bei dem Dauertatbestand der Internierung habe sich ihre "causa" mit Beginn des Krieges grundlegend geändert. Die Klägerin habe glaubhaft vorgetragen, daß ihr Ehemann im September 1935 wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit verhaftet, zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt und zur Verbüßung in ein Arbeitslager überführt worden sei. Sie habe bis April 1941 in Abständen von etwa drei Monaten regelmäßig Post bekommen. Das LSG. halte daher die Annahme für gerechtfertigt, daß der Ehemann zu Beginn des Krieges zwischen Deutschland und Rußland noch gelebt habe und erst in der Folgezeit den durch die Internierung in Zusammenhang mit dem Kriege herbeigeführten Schädigungen erlegen sei. Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses am 12. November 1957 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit einem am 2. Dezember 1957 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 22. 8. 1957 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 31. 8. 1956 zurückzuweisen.
In der am 7. Februar 1958 beim BSG. eingegangenen Revisionsbegründung rügt der Beklagte Verletzung materiellen (§ 1 BVG) und formellen (§§ 103, 128 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) Rechts: Der Grund für die Inhaftierung des verstorbenen Ehemannes der Klägerin habe in der 1935 erfolgten Verurteilung gelegen. Dieser Grund habe sich bei Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und Rußland nicht geändert. Daß der Ehemann der Klägerin seit Kriegsausbruch besonders schlechten Einwirkungen ausgesetzt gewesen und dabei ums Leben gekommen sei, sei nur eine Denkmöglichkeit neben anderen - z.B. der, daß der Ehemann noch lebe, aber keine Verbindung mit der Klägerin aufnehmen könne. Die im Gutachten des Osteuropa-Instituts aufgezeigten Verhältnisse dürfe man nicht verallgemeinern. Beim LSG. seien andere, gleichgelagerte Fälle anhängig, die das Berufungsgericht zur Aufklärung des Sachverhalts hätte heranziehen müssen. Es hätten sich überhaupt sicherlich noch weitere Zeugen ermitteln lassen, die über die Umstände bei Kriegsausbruch, insbesondere über die Verhaftung von Volksdeutschen, hätten aussagen können. Das Berufungsgericht habe den Sachverhalt somit nicht genügend aufgeklärt. Es habe ferner das Recht der freien Beweiswürdigung überschritten, weil es das Vorbringen der Klägerin als glaubhaft angesehen habe, ohne die Gründe hierfür darzulegen. Insbesondere hätte es noch weiterer Feststellungen darüber bedurft, ob im Jahre 1935 tatsächlich allein die deutsche Volkszugehörigkeit für eine Verhaftung ausgereicht habe.
Die Klägerin beantragt,
die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 22. 8. 1957 zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist daher zulässig.
Die Revision ist aber nicht begründet.
Das LSG. ist in seiner Entscheidung zu Recht davon ausgegangen, daß der Ehemann der Klägerin den Folgen einer Internierung im Ausland wegen deutscher Volkszugehörigkeit im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG erlegen ist. Mit der Auslegung dieser Vorschrift hat sich der Zehnte Senat des BSG. in seinem Urteil vom 4. Februar 1959 (10 RV 918/57) eingehend beschäftigt und u.a. ausgesprochen, daß eine Internierung im Sinne des BVG zwar nur dann vorliege, wenn ein Festhalten in Zusammenhang mit einem Kriege oder kriegerischen Ereignissen stehe. Dieser Zusammenhang brauche jedoch nicht schon bei der Festnahme vorhanden gewesen zu sein; er könne vielmehr auch später dadurch hergestellt worden sein, daß der inzwischen ausgebrochene Krieg nunmehr allein oder vorwiegend Ursache des weiteren Festhaltens geworden sei. Dabei sei allerdings regelmäßig zu fordern, daß die Änderung des Grundes aus irgendwelchen äußeren Umständen hervorgehe. Dieser Rechtsauffassung hat sich der erkennende Senat bereits in seinen Urteilen vom 9. Juni 1959 - 8 RV 853/57 und 8 RV 1265/57 - angeschlossen; er sieht keinen Anlaß, von ihr abzuweichen. Bei dieser Auslegung des Gesetzes sind, wenn man die tatsächlichen Feststellungen des LSG. zugrunde legt, die Voraussetzungen, unter denen der Klägerin nach den §§ 38 Abs. 1, 1 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Buchst. c BVG Hinterbliebenenrente zu gewähren ist, erfüllt. Denn das LSG. hat festgestellt, daß der Ehemann zwar schon im Jahre 1935 wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit vom russischen Sicherheitsdienst festgenommen worden ist, daß sich aber der Grund für das Festhalten mit Ausbruch des zweiten Weltkrieges grundlegend geändert hat, indem aus der bisherigen Ausnutzungstendenz eine Vernichtungstendenz mit entsprechend schlechteren Lebensbedingungen wurde, denen der Ehemann schließlich zum Opfer gefallen ist.
Die Revision wendet sich zwar auch gegen diese tatsächlichen Feststellungen und meint, das Berufungsgericht habe den Sachverhalt unzureichend aufgeklärt, insbesondere nicht alle Beweismöglichkeiten erschöpft und schließlich auch das Recht der freien Beweiswürdigung überschritten. Diese Rügen sind jedoch nicht begründet. Das Berufungsgericht hat die für seine Entscheidung wesentlichen Feststellungen aufgrund des Vorbringens der Klägerin und aufgrund der im Urteil des Bayerischen LSG. vom 16. Februar 1955 wiedergegebenen gutachtlichen Äußerung des Osteuropa-Instituts in M getroffen. Die Revision rügt, daß das LSG. nicht auch die Akten über andere, ähnlich gelagerte und beim LSG. anhängige Fälle beigezogen und nicht noch weitere Zeugen ermittelt hat. Diese Rüge greift jedoch nicht durch. Auch die Revision behauptet nicht, daß sich aus den genannten Akten unmittelbar etwas über das Schicksal des verstorbenen Ehemannes der Klägerin, insbesondere über die Gründe seiner Inhaftierung und deren Verlauf, hätte ergeben können. Die Beiziehung der Akten hätte es lediglich unter Umständen ermöglicht, anhand weiterer Einzelfälle Schlüsse auf die seinerzeitigen Verhältnisse und die Lage der Volksdeutschen in Rußland vor und während des Krieges im allgemeinen zu ziehen. Hierüber hat sich das Berufungsgericht aber durch das Gutachten des Osteuropa-Instituts unterrichtet, das - auf den Erkenntnissen eines mit wissenschaftlichen Methoden arbeitenden Instituts beruhend - in höherem Maße geeignet war, ein objektives Bild über die Lage der Volksdeutschen in Rußland und ihre Behandlung zu geben, als eine beschränkte und zufällig dem Gericht zur Verfügung stehende Zahl von Einzelfällen. Soweit die Revision anführt, das LSG. hätte sicherlich noch weitere Zeugen ermitteln können, ist nicht erkennbar, wie dies hätte geschehen können oder welche Umstände dem Gericht die Annahme hätte nahelegen müssen, es seien noch Zeugen vorhanden und erreichbar. Die Rüge der Revision, das LSG. habe den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt, greift daher nicht durch, denn die Pflicht zur Aufklärung und Ermittlung des Sachverhalts findet in den Möglichkeiten des Einzelfalles ihre natürliche Grenze.
Schließlich ist das LSG. bei seiner Tatsachenfeststellung auch nicht über den Rahmen des ihm zukommenden Rechts der freien Beweiswürdigung, d.h. des Rechts, nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden (§ 128 SGG), hinausgegangen. Das LSG. hätte dieses Recht unter Umständen dann überschritten, wenn die Beweiswürdigung des Gerichts in Widerspruch mit den Denkgesetzen oder Erfahrungssätzen des täglichen Lebens stehen würde. Das ist aber nicht der Fall. Soweit es sich um die Feststellung handelt, der frühere Ehemann der Klägerin sei wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit verhaftet worden, habe den Ausbruch des Krieges noch erlebt und sei später den infolge des Krieges schlechter gewordenen Verhältnissen der Internierung zum Opfer gefallen, stellt dies zwar nur eine Denkmöglichkeit neben anderen dar. Das Gericht war aber nicht gehindert, bei mehreren denkbaren Geschehensabläufen einen davon als tatsächlich geschehen anzunehmen, es sei denn, er ließe sich mit der Lebenserfahrung nicht mehr in Einklang bringen. Davon kann aber angesichts der aus dem o.a. Gutachten des Osteuropa-Instituts zu entnehmenden allgemeinen Verhältnisse keine Rede sein. Die Angriffe der Revision gehen auch insofern fehl, als sie sich dagegen richten, daß vom LSG. nicht dargelegt ist, warum es das Vorbringen der Klägerin für glaubhaft gehalten hat. Soweit das Gericht damit die subjektive Glaubhaftigkeit - die Glaubwürdigkeit - zum Ausdruck gebracht hat, wäre eine weitere Begründung dieser Überzeugung des Gerichts nur dann zu fordern, wenn bestimmte Umstände geeignet gewesen wären, die Glaubhaftigkeit zu bezweifeln. Solche Umstände hat aber auch die Revision nicht dargetan. Soweit die objektive Glaubhaftigkeit in Frage steht, ergibt sich aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe, daß das Berufungsgericht das Vorbringen der Klägerin für wahr - nicht etwa nur für "glaubwürdig" - gehalten hat, weil die in dem o.a. Gutachten aufgezeigten damaligen Verhältnisse dies nahe legten. Der Senat hat nicht verkannt, daß die Grundlage, auf der das Berufungsgericht sich seine Überzeugung gebildet hat, nicht sehr breit ist. Hierbei darf aber ebenfalls nicht verkannt werden, daß sich die Klägerin in einem echten, unverschuldeten Beweisnotstand befand. Dieser Beweisnotstand darf bei der Bemessung des Maßstabes, der für die Prüfung des Vorbringens anzulegen ist, nicht unberücksichtigt bleiben. Er berechtigt dazu, in größerem Umfange als in anderen Fällen auch Tatsachen festzustellen, die von der Klägerin nur vorgetragen sind, sofern die Klägerin glaubwürdig und die Tatsachen glaubhaft erscheinen und nicht im Widerspruch mit Denkgesetzen und Erfahrungssätzen - im vorliegenden Falle mit den Erkenntnissen über die allgemeine Lage der Volksdeutschen in Rußland vor und während des Krieges - stehen.
Da die in Bezug auf die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts vorgebrachten Revisionsgründe somit nicht durchgreifen, ist auch der erkennende Senat als Revisionsgericht an diese tatsächlichen Feststellungen, die das LSG. seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat und die - wie oben aufgezeigt wurde - die Voraussetzungen der §§ 38 Abs. 1, 1 BVG erfüllen, gebunden (§ 163 SGG).
Die Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen