Leitsatz (redaktionell)
1. Hat die Versorgungsverwaltung den strittigen Rentenanspruch im Laufe des Berufungsverfahrens bescheidmäßig anerkannt, so wird die von ihr eingelegte Berufung wegen nachträglichen Wegfalls der Beschwerde unzulässig.
2. Zwar kann ein "Ausführungsbescheid" iS des SGG § 154 Abs 2 auch dann vorliegen, wenn der Bescheid keinen Vorbehalt enthält und Rente auch für die Zeit vor Erlaß des Urteils bewilligt wurde. Das gilt jedoch nicht, wenn zwei "Ausführungsbescheide" ergehen, von denen der spätere Bescheid den früheren nicht lediglich ergänzt, sondern (wie hier) den mit der Klage angefochtenen Bescheid ausdrücklich abändert und außerdem feststellt, daß eine Überzahlung nun nicht mehr bestehe. Ein solcher Bescheid trifft nicht - wie ein "Ausführungsbescheid" - eine vorläufige, sondern eine abschließende Regelung.
Normenkette
SGG § 154 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 16. Januar 1963 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Mit Bescheid vom 8. Juli 1953 wurden beim Kläger Narben an der rechten Brust, am rechten Oberarm und Rücken mit kleinen Metallsplittereinsprengungen in der rechten Oberarmmuskulatur, geringe Zwerchfellverwachsungen rechts und Zustand nach Schußfraktur der zweiten Vorderrippe rechts nach Lungendurchschuß sowie Narbe am linken Unterschenkel als Schädigungsfolgen nach dem Bayerischen Kriegsbeschädigten-Leistungsgesetz (BKBLG) und dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) anerkannt. Rente wurde nicht gewährt, da die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nur 20 vom Hundert (v. H.) betrage; der vom 1. Januar 1949 bis 30. Juni 1953 gewährte Rentenvorschuß von 780 DM wurde zurückgefordert. Auf die vom Kläger eingelegte Berufung alten Rechts, die als Klage auf das Sozialgericht (SG) überging, verurteilte das SG den Beklagten mit Urteil vom 25. Oktober 1957, dem Kläger ab 1. Oktober 1950 Rente nach einer MdE um 25 v. H. zu gewähren. Der Beklagte legte hiergegen rechtzeitig Berufung ein. Mit Benachrichtigung vom 11. Dezember 1957 führte das Versorgungsamt (VersorgA) das SG-Urteil gemäß § 154 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) unter Hinweis auf die Rückzahlungsverpflichtung im Falle der Abänderung oder Aufhebung des Urteils aus und gewährte dem Kläger vom Tag des Urteilserlasses an Versorgungsbezüge. In einem weiteren als "Ausführungsbescheid" bezeichneten Bescheid vom 30. April 1958 gewährte das VersorgA "in Ausführung des Urteils des Sozialgerichts Regensburg" und "in Abänderung des angefochtenen Bescheides vom 8.7.53" ab 1. Oktober 1950 Rente nach einer MdE um 25 v. H. wegen der anerkannten Schädigungsfolgen. Es zahlte dem Kläger unter Anrechnung des vom 1. Oktober 1950 bis 30. Juni 1953 gezahlten Vorschusses sowie der auf Grund des Ausführungsbescheides vom 11. Dezember 1957 gezahlten Beträge und der Überzahlung nach dem KBLG vom 1. Januar 1949 bis 30. September 1950 auch für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis zum Erlaß des Urteils die Rentenbezüge in Höhe von 768 DM nach. Der Bescheid enthielt keinen Hinweis auf § 154 SGG oder auf eine etwaige Rückzahlungsverpflichtung im Falle der Abänderung oder Aufhebung des vom Beklagten angefochtenen Urteils, dagegen den Vermerk: "Eine Überzahlung besteht nun nicht mehr". Mit Urteil vom 16. Januar 1963 verwarf das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Beklagten als unzulässig und ließ die Revision zu. Die im Zeitpunkt der Berufungseinlegung zulässig gewesene Berufung des Beklagten sei dadurch unzulässig geworden, daß diese mit Bescheid vom 30. April 1958 den Rentenanspruch ab 1. Oktober 1950 endgültig anerkannt habe. Er sei somit nicht mehr beschwert. Dieser Bescheid habe im Gegensatz zu der vorausgegangenen Benachrichtigung vom 11. Dezember 1957 nicht lediglich das SG-Urteil vorläufig ausgeführt, sondern in Abänderung des angefochtenen Bescheides vom 8. Juli 1953 im Sinne eines selbständigen Anerkenntnisses Rente ab 1. Oktober 1950 ohne Vorbehalt zuerkannt. Damit sei das Rechtsverhältnis abschließend geregelt worden, zumal auch eine endgültige Verrechnung und Auszahlung der Rentenbezüge bis 1950 zurück erfolgt sei. Darauf habe der Kläger trotz seines Wissens um die Berufungseinlegung vertrauen können, zumal er erst mehr als drei Jahre nach Erlaß des Verwaltungsakts vom 30. April 1958 wieder etwas von der 1957 eingelegten Berufung gehört habe.
Mit der Revision rügt der Beklagte als wesentlichen Verfahrensmangel, das LSG habe die Berufung als unzulässig verworfen, obwohl es eine Sachentscheidung hätte treffen müssen. Außerdem habe es den Begriff der Beschwer verkannt. Es komme allein darauf an, ob der Ausführungsbescheid vor oder nach Einlegung des Rechtsmittels erteilt wurde. Sei vor Erlaß des Ausführungsbescheides Berufung eingelegt worden, so sei das Recht, die Aufhebung des Urteils im Prozeß zu verfolgen, gewahrt.
Zwar habe es des zweiten Ausführungsbescheides nicht bedurft. Eine Klaglosstellung des Klägers könne darin jedoch nicht erblickt werden, weil das Rechtsmittel nicht zurückgenommen worden sei; deshalb habe der Kläger auch nicht auf eine abschließende Regelung seines Rechtsverhältnisses vertrauen können. Das VersorgA sei im übrigen nicht berechtigt, während eines anhängigen Verfahrens ein Anerkenntnis abzugeben, vielmehr sei nach § 71 Abs. 5 SGG allein das Landesversorgungsamt (LVersorgA) zur Vertretung des Beklagten berechtigt. Der Beklagte beantragt, das Urteil des Bayerischen LSG vom 16. Januar 1963 und des SG Regensburg vom 25. Oktober 1957 aufzuheben und die Klage als unbegründet abzuweisen. In der Revisionsbegründung heißt es außerdem, die Sache sei zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Es komme nicht allein darauf an, ob der Ausführungsbescheid vor oder nach Einlegung des Rechtsmittels erteilt wurde, sondern auf die besonderen Umstände des Einzelfalles. Die Entscheidung des LSG sei frei von Verfahrensfehlern.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und daher zulässig; sachlich ist sie nicht begründet.
Das LSG ist zutreffend zum Ergebnis gelangt, daß die Berufung des Beklagten infolge des vom VersorgA erlassenen Bescheides vom 30. April 1958 mangels Beschwer unzulässig geworden ist und daher zu verwerfen war (§ 158 Abs. 1 SGG).
Voraussetzung für die Zulässigkeit eines jeden Rechtsmittels ist im sozialgerichtlichen Verfahren wie in allen Gerichtsbarkeiten die Beschwer des Rechtsmittelklägers (vgl. BSG 6, 180; 9, 19); ob eine Beschwer vorliegt, ist dem rechtskraftfähigen Inhalt der vorangegangenen Entscheidung zu entnehmen (BSG 9, 19 mit weiteren Nachweisen). Eine solche Beschwer hat im Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels (vgl. Rosenberg, Lehrb. des Deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl. S. 660) vorgelegen, da der Beklagte durch das Urteil des SG vom 25. Oktober 1957 verurteilt worden ist, dem Kläger ab 1. Oktober 1950 Rente nach einer MdE um 25 v. H. zu gewähren. Die zur Zeit der Rechtsmitteleinlegung gegebene Beschwer kann nachträglich ganz oder zum Teil mit rückwirkender Kraft fortfallen, wenn das angegriffene Urteil zugunsten des Rechtsmittelklägers berichtigt wird (Rosenberg aaO S. 661), im übrigen bleiben aber bei Veränderungen während des Gerichtsverfahrens grundsätzlich die Verhältnisse zur Zeit der Rechtsmitteleinlegung maßgebend (vgl. Rosenberg aaO S. 661, 662). Etwas anderes gilt jedoch, wenn der Rechtsmittelkläger den Rechtsmittelbeklagten ganz oder zum Teil befriedigt oder sonst klaglos stellt; dann wird das bis dahin zulässige Rechtsmittel unzulässig (Rosenberg aaO S. 663). Voraussetzung ist jedoch, daß der Fortfall oder die Verringerung der Beschwer "willkürlich", d. h. aus freien Stücken erfolgt. Die Zulässigkeit des Rechtsmittels entfällt sonach in vollem Umfang, wenn der Rechtsmittelkläger freiwillig eine Prozeßlage schafft, die den Fortfall seiner Beschwer zur Folge hat, z. B. bei freiwilliger Befriedigung des Gegners (vgl. Stein/Jonas, Komm. zur ZPO, 18. Aufl., Einl. II 2 vor § 511 S. 3; Baumbach/Lauterbach, Komm. zur ZPO, 26. Aufl. § 511 a Anm. 4, § 4 - zum Beschwerdewert -; ebenso für das sozialgerichtliche Verfahren BSG in SozR SGG § 146 Da 3 Nr. 6, Da 4 Nr. 8, Da 4 Nr. 9; BSG 16, 134, 135).
Im vorliegenden Fall hat das VersorgA, ohne hierzu durch eine Änderung des Beschwerdegegenstandes (vgl. BSG in SozR SGG § 146 Da 4 Nr. 8) oder durch Umstände veranlaßt worden zu sein, die erst nach Einlegung des Rechtsmittels eingetreten sind und deren bisheriges Fehlen es ihm unmöglich gemacht hätte, die Klageforderung zu befriedigen (vgl. Rosenberg aaO S. 663), somit "freiwillig" bzw. "willkürlich" im Sinne der vorerwähnten Rechtsprechung den Kläger entsprechend dem SG-Urteil voll befriedigt. Das Urteil des SG vom 25. Oktober 1957, das nur der Beklagte angefochten hatte, lautete auf Gewährung einer Rente nach einer MdE um 25 v. H. ab 1. Oktober 1950. Diesen Urteilsausspruch hat das VersorgA mit dem Bescheid vom 30. April 1958 ohne jede Einschränkung und ohne jeden Vorbehalt hinsichtlich des schwebenden Berufungsverfahrens ausgeführt, und zwar ist dies offensichtlich bewußt, insbesondere in Kenntnis der vorausgegangenen Berufungseinlegung und des vorausgegangenen Ausführungsbescheides nach § 154 SGG geschehen; denn der Bescheid vom 30. April 1958 hat sich bei der Verrechnung der seither unter Vorbehalt gezahlten Beträge ausdrücklich auf die lediglich der Vorschrift des § 154 SGG Rechnung tragende Benachrichtigung vom 11. Dezember 1957 bezogen und den Restbetrag ohne Vorbehalt zur Auszahlung gebracht. Es liegt sonach nicht etwa ein Ausführungsbescheid nach § 154 SGG vor, der versehentlich die Rente ab 1. Oktober 1950 anstatt erst ab 25. Oktober 1957, dem Tag des SG-Urteils, bewilligt hätte. Der Umstand, daß ein Ausführungsbescheid nach § 154 SGG bereits am 11. Dezember 1957 ergangen war und sonach keine Veranlassung bestand, während des schwebenden Berufungsverfahrens den Bescheid vom 30. April 1958 zu erlassen, zumal insoweit auch nicht hätte vollstreckt werden können (vgl. § 154 Abs. 2, 199 Abs. 1 Ziff. 1 SGG) -, führt zu der Schlußfolgerung, daß damit eine "freiwillige" Befriedigung und Klaglosstellung des Klägers erfolgt ist. Der ganze Inhalt des Bescheides läßt nur den Schluß zu, daß sich das VersorgA mit dem Ergebnis des SG-Urteils zufriedengegeben hat. Es wurde nicht lediglich entgegen der Regelung des § 154 SGG die Rente für die Zeit vor Urteilserlaß, und zwar für über sieben Jahre, bewilligt, sondern im Gegensatz zur Benachrichtigung vom 11. Dezember 1957 jede Bezugnahme auf § 154 SGG und die eingelegte Berufung sowie die im Verwaltungsakt vom 11. Dezember 1957 enthaltenen Sätze "im Falle der Abänderung oder Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts erfolgt Neufeststellung der Rente. Die inzwischen erhaltenen Bezüge sind dann dem Versorgungsamt zurückzuerstatten" unterlassen. Zwar hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, daß ein Ausführungsbescheid im Sinne des § 154 SGG auch dann vorliegen kann, wenn der Bescheid keinen Vorbehalt enthält und Rente auch für die Zeit vor Erlaß des Urteils bewilligt wurde (vgl. BSG 9, 169, BSG in KOV 1962, 183 und Urteil des BSG vom 6.9.1961 - 11 RV 446/61). Die dort entschiedenen Fälle unterscheiden sich aber insofern wesentlich von dem vorliegenden, als dort kein anderer, eine vorläufige Regelung nach § 154 SGG treffender Bescheid vorausgegangen war. Gerade der Umstand, daß hier der eindeutige vorläufige Bescheid nach § 154 SGG schon am 11. Dezember 1957 ergangen war und nicht ersichtlich ist, daß er durch den Bescheid vom 30. April 1958 nur ergänzt werden sollte, andererseits ausdrücklich der Bescheid vom 8. Juli 1953 "abgeändert" wurde, zwingt zu dem Schluß, daß der spätere Bescheid vom 30. April 1958 nicht eine vorläufige, sondern eine abschließende Regelung treffen sollte. Im übrigen hat das BSG im Urteil vom 6. September 1961 ausdrücklich betont, daß der fragliche Bescheid selbst ausreichende Hinweise dafür enthalte, daß die Regelung nur Bestand haben solle, wenn das Urteil des SG rechtskräftig werde. Gerade dies ist aber hier nicht der Fall.
Im Bescheid vom 30. April 1958 ist zudem ausdrücklich vermerkt worden: "Eine Überzahlung besteht nun nicht mehr". Damit ist die im angefochtenen Bescheid vom 8. Juli 1953 ausgesprochene Rückforderung endgültig beseitigt worden. Das VersorgA hat auch berücksichtigt, daß das SG Rente erst ab 1. Oktober 1950 zugesprochen hat, obwohl dem Kläger bereits für die Zeit ab 1. Januar 1949 ein Rentenvorschuß nach dem BKBLG bewilligt worden war. Demgemäß spricht der Bescheid vom 30. April 1958 von einer "Überzahlung nach dem KBLG v. 1.1.49 - 30.9.50" und bringt diese Leistungen in Abzug, womit die Regelung des angefochtenen Bescheides vom 8. Juli 1953 zum Teil aufrechterhalten blieb. Alle diese Umstände deuten darauf hin, daß am 30. April 1958 eine abschließende Regelung getroffen worden ist.
Auch die weitere Rüge der Revision, das VersorgA sei nicht berechtigt gewesen, während eines anhängigen Verfahrens ein Anerkenntnis abzugeben, greift nicht durch. Zwar ist es richtig, daß der Beklagte im gerichtlichen Verfahren nach § 71 Abs. 5 SGG allein vom LVersorgA vertreten wird. Dies hat das LSG aber auch nicht verkannt; denn es hat nicht angenommen, daß das anhängige Verfahren durch eine Prozeßerklärung des Beklagten beendet oder erledigt worden sei. Das VersorgA war jedoch zum Erlaß des Bescheides vom 30. April 1958 berechtigt. Dieser Rentenbewilligungsbescheid ist mit dem Zugang an den Begünstigten i. S. der §§ 77 SGG, 24 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) bindend geworden (BSG 7, 8). Diese Bindung konnte der Beklagte nur dadurch beseitigen, daß er den Bescheid rechtswirksam zurücknahm (§§ 41, 42 VerwVG und BSG in SozR SGG § 77 Da 7 Nr. 20). Da dies nicht geschehen ist, hätte das LVersorgA der bindend gewordenen Regelung Rechnung tragen und sich zu einer entsprechenden Änderung seiner Rechtsmittelanträge genötigt sehen müssen. Wenn es dies nicht getan und die Berufung nicht zurückgenommen hat, so mußte das LSG die Berufung nach Wegfall der Beschwer als unzulässig verwerfen (vgl. Stein/Jonas aaO S. 3).
Nach alledem war das LSG-Urteil nicht zu beanstanden und die Revision demgemäß als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen