Leitsatz (redaktionell)
1. Zur Frage, wann ein Versicherter seine Ehefrau und deren Tochter, die beide Arbeitseinkommen haben und in seinem Haushalt leben, überwiegend unterhalten hat (RVO § 1241 Abs 2 S 1).
2. Die Frage der Gewährung überwiegenden Unterhalts ist nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu beurteilen. Es kommt nur darauf an, ob und inwieweit der Versicherte einen Familienangehörigen tatsächlich unterhalten hat. Die bürgerlich-rechtliche Unterhaltsverpflichtung oder -berechtigung ist nicht entscheidend.
In einem Mehrpersonenhaushalt ist ein Familienangehöriger vom Versicherten nicht überwiegend unterhalten worden, wenn aus dem eigenem Beitrag dieses Familienangehörigen oder aus dem Beitrag eines anderen Familienangehörigen zur gemeinsamen Haushaltsführung wenigstens die Hälfte des auf diesen Familienangehörigen entfallenden Unterhaltsaufwands gedeckt ist.
Gehören zum Haushalt nur erwachsene Personen, so kann der Unterhaltsbedarf ohne Gesetzesverletzung für alle Angehörigen gleichhoch angesetzt werden. Es bedarf bei dieser Sachlage auch nicht der Berücksichtigung von Unterhalt in Form persönlicher Dienstleistungen oder Haushaltsarbeit, da etwa gleichhohe Beträge für die Beteiligung jedes Familienmitgliedes an der Haushaltsarbeit anzusetzen wären.
3. Für die Beurteilung des überwiegenden Unterhalts sind nicht die bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsverpflichtungen, sondern allein die tatsächlichen Unterhaltsleistungen entscheidend.
Bei einem Mehrpersonenhaushalt hat der Versicherte den überwiegenden Unterhalt eines Angehörigen dann nicht bestritten, wenn aus dessen eigenem Beitrag zur gemeinsamen Haushaltskasse oder aus dem Beitrag anderer Familienmitglieder wenigstens mehr als die Hälfte des auf diesen Angehörigen entfallenden Unterhaltsbedarfs gedeckt wird.
Gehören einem Haushalt nur erwachsene berufstätige Personen an, so ist grundsätzlich davon auszugehen, daß auf jedes Familienmitglied etwa gleichhohe Beträge für die persönlichen Dienstleistungen durch Haushaltsarbeit entfallen.
Normenkette
RVO § 1241 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 29. September 1964 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft die Höhe des Übergangsgeldes, das die Beklagte dem Kläger gewährt hat. Es ist zu entscheiden, ob der Kläger seine Ehefrau und deren 1946 geborene Tochter, die beide Arbeitseinkommen haben und in seinem Haushalt leben, überwiegend unterhalten und deshalb Anspruch auf ein höheres Übergangsgeld hat.
Der Kläger befand sich vom 16. Juli bis 12. August 1964 in stationärer Heilbehandlung. Sein Arbeitsentgelt betrug vorher monatlich 656,70 DM, das Einkommen der Ehefrau monatlich 244,24 DM und das Einkommen der Stieftochter monatlich 221,64 DM. Die Beklagte gewährte ein tägliches Übergangsgeld von 7,40 DM ohne Berücksichtigung von "überwiegend unterhaltenen Familienangehörigen" (Bescheid vom 22. Juni 1964).
Der Kläger ist der Auffassung, er müsse ein höheres Übergangsgeld erhalten, denn er habe seine Ehefrau und seine Stieftochter überwiegend unterhalten.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die Beklagte verurteilt, das Übergangsgeld zu erhöhen. Es hat die Berufung zugelassen (Urteil vom 29. September 1964). Es hat als entscheidend angesehen, daß der Versicherte mehr zum Unterhalt der Gesamtfamilie beigetragen habe als die Familienangehörigen; er habe mehr verdient als seine Ehefrau und seine Stieftochter zusammengenommen.
Die Beklagte hat Sprungrevision eingelegt. Sie hat beantragt, das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Beklagte rügt eine Verletzung des § 1241 Abs. 2 RVO. Sie führt im wesentlichen sinngemäß aus, es sei der Verbraucheranteil jedes Familienangehörigen festzustellen. Der Familienangehörige, der weniger als die Hälfte des Verbraucheranteils verdiene, werde von dem anderen Familienangehörigen überwiegend unterhalten. Der Verbraucheranteil des Klägers sei ein Drittel des Gesamteinkommens aller Familienangehörigen. Die Beklagte stellt folgende Berechnung auf:
|
Bruttoverdienst des Klägers |
656,70 DM monatlich |
Einkommen der Ehefrau |
244,24 DM monatlich |
Einkommen der Stieftochter |
221,64 DM monatlich |
Gesamteinkommen der Familie |
1.122,58 DM monatlich |
Verbraucheranteil jedes Familienmitgliedes |
374,19 DM monatlich |
Hälfte des Verbraucheranteils |
187,09 DM monatlich |
Die Einkünfte der Ehefrau und der Stieftochter seien höher als die Hälfte ihres Verbraucheranteils. Es seien also weder die Ehefrau noch die Stieftochter vom Kläger vor der Heilbehandlung überwiegend unterhalten worden.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er ist der Auffassung, es komme nur darauf an, ob der Arbeitsverdienst des Betreuten mehr als die Hälfte des Gesamtverdienstes sämtlicher übrigen Familienangehörigen betragen habe. Das sei hier der Fall.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Sprungrevision ist zulässig (§§ 161 Abs. 1, 150 Nr. 1 SGG) und begründet. Die Entscheidung des SG entspricht nicht dem Gesetz (§ 1241 Abs. 2 RVO). Es ist nicht rechtswidrig, daß die Beklagte das Übergangsgeld ohne Berücksichtigung von Familienangehörigen berechnet hat.
Nach § 1241 Abs. 2 Satz 1 RVO wird die Höhe des Übergangsgeldes durch übereinstimmende Beschlüsse der Organe der Träger der Rentenversicherung unter Berücksichtigung der Zahl der vom Betreuten vor Beginn der Maßnahmen überwiegend unterhaltenen Familienangehörigen festgesetzt.
Der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat in dem Beschluß vom 21. Mai 1969 (GS 2/67) die Rechtsfrage, unter welchen Voraussetzungen ein Familienangehöriger überwiegend unterhalten worden ist, für den Fall beantwortet, daß der Betreute allein dem Ehegatten Unterhalt gewährt hatte. Seine Auslegung des § 18 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) = § 1241 Abs. 2 RVO gibt aber auch Anhaltspunkte für die Anwendung der Vorschrift bei einem Betreuten, zu dessen Haushalt - wie hier - mehrere Personen gehören.
Nach Sinn und Zweck der unterschiedlichen Bemessung des Übergangsgeldes - Ausgleich von entgangenem Arbeitsverdienst - ist die Frage eines überwiegenden Unterhalts wirtschaftlich zu betrachten. Es kommt nur darauf an, ob und inwieweit der Betreute einen Familienangehörigen tatsächlich unterhalten hat. Die bürgerlich-rechtliche Unterhaltsverpflichtung oder -berechtigung (Stieftochter) ist nicht entscheidend. Nach seinem Wortsinn bedeutet "überwiegender Unterhalt", daß der Betreute einen Familienangehörigen "zu mehr als der Hälfte" unterhalten haben muß. Den Begriff "zu mehr als der Hälfte" hat der Große Senat für den Fall kinderloser, in gemeinsamem Haushalt lebender Ehegatten, die beide verdienen, dahin erläutert, daß der eine Ehegatte den anderen nicht schon dann überwiegend unterhalten hat, wenn sein Beitrag zum gemeinsamen Haushalt größer ist als die Hälfte der Summe der Beiträge beider Ehegatten; sein Beitrag muß vielmehr nach Abzug der Hälfte des gemeinsamen Unterhalts größer sein als der Beitrag des anderen Ehegatten.
Die sprachliche Auslegung des Begriffs "überwiegender Unterhalt" und die wirtschaftliche Betrachtungsweise sind nicht auf das Verhältnis zwischen Ehegatten beschränkt. Sie sind für alle Fälle anwendbar, in denen Betreuter und Familienangehörige zum gemeinschaftlichen Aufwand beitragen. Die Frage der überwiegenden Unterhaltsgewährung an den Ehegatten kann nicht nach grundsätzlich verschiedenen Methoden beantwortet werden, je nachdem ob Kinder vorhanden sind oder nicht; vgl. dazu die vom Großen Senat angeführten Beispiele des Witwers in Haushaltgemeinschaft mit einer verdienenden Tochter und der verdienenden Ehegatten mit drei Kindern. Damit ist die Auslegung des § 1241 Abs. 2 RVO bei einem Mehrpersonenhaushalt mit mehreren verdienenden Familienangehörigen in BSG 25, 157 und in dem Urteil vom 30. November 1966 - 4 RJ 137/66 - bestätigt worden. Demnach ist in einem Mehrpersonenhaushalt ein Familienangehöriger vom Betreuten nicht überwiegend unterhalten worden, wenn aus dem Beitrag dieses Familienangehörigen oder aus dem Beitrag eines anderen Familienangehörigen zur gemeinsamen Haushaltsführung wenigstens die Hälfte des auf diesen Familienangehörigen entfallenden Unterhaltsaufwands gedeckt ist (BSG 25, 157).
Der Kläger hat nichts gegen die vom SG zugrundegelegten tatsächlichen Verhältnisse - gemeinsame Haushaltsführung des Klägers, seiner Ehefrau und der Stieftochter unter Verwendung der Einkünfte aller drei Personen - vorgebracht. Daher sind diese Feststellungen für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG).
Hiernach betrug das gesamte Familieneinkommen 1.122,58 DM. Die Beklagte hat ohne Gesetzesverletzung den Unterhaltsbedarf für alle drei Familienangehörigen - erwerbstätige Erwachsene - gleichhoch angesetzt. Er betrug demnach für jeden Familienangehörigen 374,19 DM, die Hälfte davon 187,09 DM. Sowohl der Beitrag der Ehefrau, als auch der der Stieftochter ist höher als die Hälfte ihres jeweiligen Anteils am Verbrauch. Der Betreute hat daher weder die Ehefrau noch die Stieftochter überwiegend unterhalten. Er hat damit keinen Anspruch auf höheres Übergangsgeld.
Die Frage der Berücksichtigung von Unterhalt in Form persönlicher Dienstleistungen durch Haushaltarbeit brauchte hier nicht erörtert zu werden. Bei einem Haushalt mit drei erwachsenen berufstätigen Personen wären ohnehin etwa gleichhohe Beträge für die Beteiligung jedes Familienmitgliedes an der Haushaltarbeit anzusetzen. Da sich dadurch auch die Verbraucheranteile und das rechnerische Einkommen jedes Familienangehörigen gleichmäßig erhöhen würden, bliebe es dabei, daß das Einkommen der Ehefrau und das der Stieftochter je die Hälfte ihres Verbraucheranteils übersteigt.
Die Revision der Beklagten ist somit begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen