Entscheidungsstichwort (Thema)
Versorgungsanspruch nach dem HHG für gesundheitsschädigende Folgen einer während der Haft durchgeführten Operation
Leitsatz (amtlich)
Ist jemand wegen eines erheblichen, wenn auch nicht lebensbedrohlichen Krankheitszustandes operiert worden und ließ dieser Zustand nach den wohlverstandenen Eigeninteressen eine Einwilligung in die Operation erwarten, ist ein Versorgungsanspruch im allgemeinen zu verneinen.
Orientierungssatz
1. Ein Inhaftierter kann wegen der gesundheitsschädigenden Folgen einer angeordneten Operation jedenfalls dann keinen durch einen Gewahrsam iS des § 4 Abs 1 HHG begründeten Versorgungsanspruch geltend machen, wenn ein erheblicher Krankheitszustand die Operation dringend gebot, um eine ernstliche Gefährdung des Inhaftierten zu beseitigen.
2. War ein Inhaftierter aus seinem Verhältnis zur Gewahrsamsmacht zur Duldung eines operativen Eingriffs gehalten, so ist wegen der gesundheitsschädigenden Folgen der Operation ein Versorgungsanspruch nach dem Häftlingshilfegesetz zu bejahen; der Versorgungsanspruch ist auch für den Fall zu bejahen, daß die nach der Operation aufgetretenen Komplikationen durch einen ärztlichen Kunstfehler oder durch eine mangelhafte ärztliche Versorgung entstanden.
Normenkette
HHG § 1 Abs 1 Nr 1, § 4 Abs 1, § 4 Abs 2 Buchst b Fassung: 1974-08-07; BVG § 1 Abs 1 Fassung: 1950-12-20, § 1 Abs 2 Buchst f Fassung: 1974-08-07, § 10 Abs 1 Fassung: 1974-08-07
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 02.07.1979; Aktenzeichen L 3 V 13/77) |
SG Bremen (Entscheidung vom 17.01.1977; Aktenzeichen SV 180/74) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt Versorgung nach dem Häftlingshilfegesetz (HHG).
Er befand sich von Ende März bis November 1954 aus politischen Gründen in H in Untersuchungshaft. Etwa einen Monat nach Haftbeginn wurde im Haftkrankenhaus eine kleinkindskopfgroße Hydrocele operativ entfernt. Danach trat eine Pneumonie sowie eine Schwellung und Rötung des linken Beines auf. Als Folgen hiervon bestehen leichte basale und interlobäre Residuen der rechten Lunge sowie ein variköser Symptomenkomplex am linken Bein. Der Kläger kam 1961 über B in die Bundesrepublik; er ist als anerkannter Sowjetzonenflüchtling Inhaber des Bundesvertriebenenausweises C. Der Magistrat der Stadt B bescheinigte dem Kläger gemäß § 10 Abs 4 HHG, bei ihm lägen die Voraussetzungen der §§ 1 Abs 1 Nr 1 und 9 Abs 1 HHG vor; hingegen seien Ausschließungsgründe nach § 2 Abs 1 Nr 1 und 2 HHG nicht gegeben.
Den Versorgungsantrag nach dem HHG lehnte die Versorgungsverwaltung ab (Bescheid vom 3. Dezember 1973; Widerspruchsbescheid vom 13. November 1974). Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat ausgeführt, die operativ entfernte Hydrocele sei nicht durch traumatische Einwirkungen während der Haft verursacht worden, sondern habe schon vor der Haft bestanden. Die Operation sei aus medizinischer Indikation und unabhängig vom Gewahrsam notwendig gewesen; sie sei nach den anerkannten Regeln der ärztlichen Wissenschaft rechtzeitig und sachgerecht durchgeführt worden. Demnach seien die gesundheitlichen Folgen der Operation durch den Gewahrsam nicht im Rechtssinne wesentlich verursacht.
Mit der zugelassenen Revision macht der Kläger eine Verletzung materiellen Rechts (§§ 1 Abs 1 Nr 1, 4 Abs 1 HHG) geltend. Zur Auslegung dieser Gesetzesvorschriften sei - so meint der Kläger - die zum Kriegsopferrecht ergangene Rechtsprechung vergleichsweise heranzuziehen. Zwar werde die Notwendigkeit des operativen Eingriffs nicht angezweifelt. Jedoch habe offensichtlich ein Interesse an der Wiederherstellung der Haftfähigkeit bestanden. Er sei nämlich zum Zeitpunkt der Operation noch nicht verurteilt gewesen. Infolge der ohne seine Einwilligung durchgeführten Operation müsse der ursächliche Zusammenhang zwischen Operationsfolgen und Gewahrsam bejaht werden.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,
entsprechende Versorgung nach dem HHG zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg.
Der Kläger gehört nach der vom Magistrat der Stadt B gemäß § 10 Abs 4 HHG (in der zur Zeit der Antragstellung geltenden Fassung des 2. AnpG-KOV vom 10. Juli 1970 - BGBl I S 1029 - und des 5. Änderungs- und Ergänzungsgesetzes vom 29. Juli 1971 - BGBl I S 1173) ausgestellten Bescheinigung zu dem in § 1 Abs 1 Nr 1 HHG berechtigten Personenkreis.
Dem Kläger stünde ein Anspruch auf Versorgung nach § 4 Abs 1 HHG zu, wenn er infolge des Gewahrsams eine gesundheitliche Schädigung erlitten hätte. Davon wäre auszugehen, wenn die Folgen der Operation auf eine gewahrsamsbedingte Schädigung zurückgingen. Die Einwirkungen müßten als eine rechtlich wesentliche Mitverursachung im Sinne der in der Kriegsopferversorgung (KOV) herrschenden Kausalitätslehre aufzufassen sein (BSGE 1, 270). Ein solcher Sachverhalt liegt nach der von der Revision nicht beanstandeten und infolgedessen für das Revisionsgericht bindenden Tatsachenfeststellung (§ 163 SGG) nicht vor. Danach ist die Hydrocele nicht auf eine Verletzung ursächlich zu beziehen, sondern aus körpereigener Ursache - anlagebedingt - entstanden.
Gleichwohl meint die Revision, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Gewahrsam und den gesundheitsschädigenden Folgen der Operation sei gegeben. Ein solches Ergebnis - so der Kläger - ließe sich aus der zu § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) ergangenen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ableiten. Danach komme es bei einer Gesundheitsstörung als Folge eines militärärztlichen Eingriffes nicht darauf an, ob das Leiden, das zur Behandlung geführt habe, eine Schädigungsfolge sei. Der zu entscheidende Fall nach dem HHG sei gleichgeartet. Diese Auffassung ist nicht zu teilen.
Einzuräumen ist, daß bereits das Reichsversorgungsgericht in ständiger Rechtsprechung die militärärztliche Behandlung den militäreigentümlichen Verhältnissen zugerechnet und die Folgen einer derartigen Behandlung als Dienstbeschädigung angesehen hatte (RVG 2, 38, 86; 3, 45, 197, 200; 5, 145). Nach dieser vom BSG fortgeführten Rechtsprechung (BSGE 17, 60, 61 f; BVBl 1967 S 62; BSGE 23, 145, 146 f; BSG SozEntsch IX/4 § 81 SVG Nr 9; BSG SozR 3200 § 80 Nr 2) fällt die Ausgestaltung der Heilfürsorge für den Soldaten ebenfalls zu den dem militärischen Dienst eigentümlichen Verhältnissen im Sinne des § 1 Abs 1 BVG (hierzu BSGE 10, 251; 33, 141; 33, 239 = SozR Nr 2 zu § 81 SVG; BSGE 37, 282 = SozR 3200 § 81 Nr 1). Denn der Soldat vermag sich einer vom Militärarzt angeordneten Behandlung nicht zu entziehen; er genießt hinsichtlich der Person des Arztes und der Art der Behandlung keine Freiheit. Andererseits ist der Dienstherr aus seiner ihm dem Soldaten gegenüber obliegenden Fürsorgepflicht gehalten, bei Erkrankung Heilfürsorge zu gewähren. Sie wird dem Soldaten unabhängig davon zuteil, daß damit - auch - die Zielvorstellung verbunden ist, durch die ärztliche Behandlung die aufgehobene oder geminderte Dienstfähigkeit zu beseitigen. Jedenfalls ist die Verpflichtung des Dienstherrn, Heilfürsorge zu gewähren, nicht auf die durch den Dienst entstandenen oder verschlimmerten Gesundheitsstörungen beschränkt. Mithin ist es bei einer Gesundheitsstörung als Folge eines militärärztlichen Eingriffes rechtsunerheblich, ob das zur Behandlung Anlaß gebende Leiden selbst Schädigungsfolge ist. Dennoch ergibt sich daraus - entgegen der Revision - nicht ohne weiteres, daß bei einer militärärztlich durchgeführten Operation ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem militärischen Dienst und den gesundheitsschädigenden Folgen der Operation besteht. Dies kann nur von Fall zu Fall entschieden werden (BSGE 28, 145, 146 f).
Ein solcher Ursachenzusammenhang ist in der Rechtsprechung verneint worden, wenn bei einer schädigungsunabhängig aufgetretenen Erkrankung die operative Behandlung zur Erhaltung des Lebens unbedingt erforderlich war (vitale Indikation) und nach den anerkannten Regeln der ärztlichen Wissenschaft rechtzeitig und sachgemäß durchgeführt worden ist. In diesem Falle sind die wehrdiensteigentümlichen Verhältnisse nicht wesentliche Bedingung im Sinne der Kausalitätsnorm für die Operation und deren Folgen (Bayerisches Landesversicherungsamt Breithaupt 1952 S 920; Bayer LSG Breithaupt 1956, 404; Hessisches LSG Breithaupt 1972, 678, 689). Dieser Rechtsprechung ist der 10. Senat des BSG gefolgt (Breithaupt 1961, 925, 927). Er bejaht zwar bei einer während der Kriegsgefangenschaft durchgeführten Operation - ohne Rücksicht auf die Ursache des zugrundeliegenden Leidens - einen Versorgungsanspruch, wenn der Kriegsgefangene aus seinem Verhältnis zur Gewahrsamsmacht zur Duldung des operativen Eingriffs gehalten war. Demgegenüber verneint er einen solchen, wenn sich die Behandlung aus dem Erfordernis, einen erheblichen oder gar lebensbedrohlichen Zustand zu beseitigen, herleitet.
Zutreffend hat das LSG dem Gewahrsam keine für die gesundheitsschädigenden Folgen der Operation rechtlich wesentliche Bedeutung im Sinne der in der KOV herrschenden Kausalitätstheorie beigemessen. Allerdings mag, wie der Kläger vorträgt, der aus politischen Gründen Inhaftierte in stärkerem Maße als der Soldat einem besonderen Gewaltverhältnis unterworfen sein; er mag sich deshalb einer angeordneten Operation auch nicht entziehen können. Jedoch ergibt sich daraus nicht zwangsläufig, daß die operative Behandlung "infolge des Gewahrsames" im Sinne des § 4 Abs 1 HHG durchgeführt worden ist. Vielmehr ist darauf abzustellen, welche Umstände kausal für die fragliche Behandlungsmaßnahme waren. Nach den nicht angegriffenen und somit für das BSG bindenden Feststellungen des LSG war bei der Größe der Hydrocele eine Operation dringend geboten, um eine ernstliche Gefährdung des Klägers zu beseitigen. In einem solchen Falle, in dem zwar kein lebensbedrohlicher, wohl aber ein erheblicher Krankheitszustand bestanden hatte, wäre zu erwarten gewesen, daß der Kläger den medizinischen Notwendigkeiten Rechnung getragen und in die Operation eingewilligt hätte. Handelte er nicht danach und entsprach seine Verhaltensweise nicht seinen wohlverstandenen Eigeninteressen, muß dies unbeachtet bleiben. Sonach hatten die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers im Vordergrund gestanden und das Geschehen geprägt, wohingegen der Gewahrsam lediglich als unbedeutende Nebenursache zu werten ist.
Dieses Ergebnis läßt sich überdies aus einem anderen Gesichtspunkt rechtfertigen. Nach der Rechtsprechung des BSG (SozEntsch IX/3 § 1 (2b) Nr 6) ist ein entschädigungspflichtiger Tatbestand schon dann anzunehmen, wenn notwendige ärztliche Maßnahmen nicht eingeleitet worden sind und durch diese Unterlassung zu einem Gesundheitsschaden geführt hat. Ein solcher Versorgungsanspruch hätte sich durch ein sachangemessenes Tätigwerden vermeiden lassen. Ist dem aber so, erfordert also der immerhin erhebliche Krankheitszustand eine bestimmte ärztliche Behandlung, ist aus der Pflicht des Erkrankten sich selbst gegenüber das Duldungsgebot abzuleiten. Die Berufung darauf, daß die ärztliche Behandlung nicht genehmigt worden sei, wäre unverständig. Auf diese Weise könnte ein Versorgungsanspruch nicht begründet werden.
Denkbar wäre auch, daß die nach der Operation aufgetretenen Komplikationen durch einen ärztlichen Kunstfehler oder durch eine mangelhafte ärztliche Versorgung entstanden. Dann könnte allerdings ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Gewahrsam und gesundheitsschädigenden Folgen nicht verneint werden (BSG BVBl 1969, 9 f = BSGE 27, 145; vgl auch BSGE 17, 60, 62). Jedoch ist ein solcher Sachverhalt nicht dargetan.
Ferner könnte Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers auf Versorgung § 4 Abs 2 HHG in der durch § 30 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation vom 7. August 1974 (BGBl I S 1881) - RehaAnglG- geänderten Fassung sein. Danach ist ein versorgungsrechtlich erheblicher Tatbestand ua der Unfall, den der Beschädigte bei der Durchführung einer Heilmaßnahme erleidet (§ 4 Abs 2 Buchst b HHG). Im Gegensatz zu der fraglichen Gesetzesvorschrift idF des 2. Anpassungsgesetzes -KOV- (2. AnpG-KOV) vom 10. Juli 1970 (BGBl I S 1029), die am 1. Juni 1970 in Kraft getreten war, hat es nunmehr nicht mehr darauf anzukommen, daß die Heilbehandlung wegen der Schädigungsfolgen erfolgt ist. Jedoch kann hier dahingestellt bleiben, ob die Operationsfolgen dem Begriffsmerkmal des Unfalls entsprechen (bejahend 10. Senat des BSG in SozR 3200 § 80 Nr 2; Bundesverwaltungsgericht -BVerwG- in ZBR 1966, 283, 284; aA Hamacher in BG 1977, 567, 568; ausdrücklich offengelassen 2. Senat des BSG in BSGE 46, 283, 285). Denn der Anwendung dieser Gesetzesbestimmung steht entgegen, daß sie erst am 1. Oktober 1974 in Kraft getreten ist (§ 45 Abs 1 RehaAnglG). Der Kläger ist aber schon im Jahre 1954 operativ behandelt worden. Daß das Gesetz sich Rückwirkung beimessen und sich auf lange vor dem Inkrafttreten abgeschlossene Sachverhalte erstrecken wollte, ist ihm nicht zu entnehmen. Die Übergangs- und Schlußvorschriften (§ 38 bis 42a RehaAnglG) geben hierfür keine Anhaltspunkte (BSG SozR 3200 § 80 Nr 2). Eine solche Rückwirkung kann auch nicht schlechthin vermutet werden; sie muß sich vielmehr aus dem Inhalt des Gesetzes ergeben (BSGE 7, 282; 285; 16, 177, 178; 23, 139, 140; BSG SozR Nr 46 zu § 1267 RVO RGZ 87, 202, 208; BGHZ 14, 205, 208). Dazu fehlt im Gesetz jeglicher Hinweis.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen