Leitsatz (amtlich)
Die Vermutung eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und dem Verlassen der Heimat vor dem 1.10.1953 ist nicht widerlegt, wenn der Verfolgte sowohl aus Furcht vor Verfolgung durch das kommunistische Regime im Herkunftsland, als auch wegen der Entwurzelung in der europäischen Heimat nach dem Tode der meisten Angehörigen infolge der nationalsozialistischen Verfolgung nach Israel ausgewandert ist.
Normenkette
FRG § 1 Buchst a; WGSVG § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2, § 20 S 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 22.03.1984; Aktenzeichen L 14 J 133/83) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 18.04.1983; Aktenzeichen S 21 J 116/81) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Witwenrente gem § 1263 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob auf die dafür erforderliche Wartezeit in Ungarn zurückgelegte Beitragszeiten sowie die Zeit der Verfolgung nach § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) angerechnet werden können.
Der Ehemann der Klägerin stammt aus M in Ungarn. Dort war er vom 10. September 1941 bis zum 1. April 1943 als Fotografenlehrling und vom 2. bis zum 11. April 1943 als Fotograf beschäftigt. Die Zeit vom 5. April 1944 bis zum 18. Januar 1945 wurde als Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt. Anschließend studierte der Ehemann der Klägerin in Ungarn bis zu seiner Auswanderung in das Gebiet des heutigen Israel im Mai 1946. Er ist am 19. Juni 1965 verstorben. Am 4. Dezember 1975 beantragte die Klägerin bei der Beklagten, ihr Witwenrente zu gewähren, die ungarischen Beitrags- sowie die Verfolgungszeiten ihres Ehemannes anzuerkennen, die Nachentrichtung und Weiterversicherung nach den §§ 9, 10 WGSVG sowie eine freiwillige Beitragsentrichtung (Art 2 § 51a Abs 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes -ArVNG-, Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes -AnVNG-) und eine freiwillige Weiterversicherung gem § 10 Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zuzulassen. Mit Bescheid vom 20. August 1980 lehnte die Beklagte es ab, der Klägerin Witwenrente zu gewähren, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei. Die Zugehörigkeit des Ehemannes der Klägerin zum deutschen Sprach- und Kulturkreis sei nicht glaubhaft gemacht worden. Der dagegen gerichtete Widerspruch der Klägerin wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 1981).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteile vom 18. April 1983 und 22. März 1984). Das LSG hat wohl die Zugehörigkeit des Ehemannes der Klägerin zum deutschen Sprach- und Kulturkreis bejaht, es aber verneint, daß er deswegen seine Heimat verlassen hat und nach Palästina ausgewandert ist.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Sie greift die Beweiswürdigung des LSG an, wonach kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und dem Verlassen des Heimatgebietes glaubhaft gemacht ist. Im übrigen hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, den Sachverhalt weiter aufzuklären.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 20. August 1980 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 1981 und unter Aufhebung der Urteile des SG und des LSG zu verurteilen, die Voraussetzungen des § 20 WGSVG iVm Zeiten gem §§ 15, 16 des Fremdrentengesetzes bei dem verstorbenen Ehemann der Klägerin anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung im Ergebnis für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte.
Ob die Wartezeit von 60 Kalendermonaten für den streitigen Anspruch auf Witwenrente erfüllt ist, hängt ua von der Anrechenbarkeit in Ungarn zurückgelegter Beitragszeiten ab. Dafür ist das Fremdrentenrecht maßgebend. Der Ehemann der Klägerin war nicht als Vertriebener iS des § 1 Buchst a des Fremdrentengesetzes (FRG) iVm § 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) anerkannt. Durch § 20 WGSVG sind jedoch anerkannten Vertriebenen solche vertriebene Verfolgte gleichgestellt, die deshalb nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht zum deutschen Volkstum bekannt haben. Für diesen Personenkreis genügt es - soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt - wenn sie beim Verlassen des Vertreibungsgebietes dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben (§ 20 Satz 2 iVm § 19 Abs 2 Buchst a 2. Halbs WGSVG).
Das LSG hat den Ehemann der Klägerin dem deutschen Sprach- und Kulturkreis zugerechnet. An die entsprechenden tatsächlichen Feststellungen ist der Senat gem § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden. Die Beklagte hat zwar in ihrer Erwiderung auf das Revisionsvorbringen ausgeführt, sie halte nach wie vor die Zugehörigkeit des Ehemannes zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht für überwiegend wahrscheinlich. Dazu hat die Beklagte aber keine näheren Gründe dargelegt, die die Beweiswürdigung des LSG insoweit als fehlerhaft erscheinen lassen könnten.
Zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und dem Verlassen der Heimat muß ein ursächlicher Zusammenhang bestanden haben. Hat ein Versicherter, wie der Ehemann der Klägerin, die Heimat vor dem 1. Oktober 1953 verlassen, so wird nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dieser Zusammenhang vermutet (vgl BSG in SozR 5070 § 20 Nrn 2, 4, 6 und 7). Auch wenn diese Vermutung widerlegbar ist (vgl Urteil des 1. Senats vom 29. August 1984 in SozR aaO Nr 8), so kann der Gegenbeweis im Falle des Ehemannes der Klägerin aufgrund der Feststellungen des LSG aus Rechtsgründen nicht als geführt angesehen werden.
In seiner Entscheidung vom 20. Oktober 1977 hat der 11. Senat (SozR aaO Nr 2) auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG in Buchholz 412.3, § 1 BVFG Nr 20) hingewiesen, wonach die Vermutung widerlegt ist, wenn "eindeutige Anhaltspunkte" dafür bestehen, daß das Vertreibungsgebiet "aus politischen Gründen oder wegen krimineller Delikte" verlassen worden ist. Der 4. Senat (SozR aaO Nr 7) hat betont, jedes iS des Rechts der gesetzlichen Sozialversicherung wesentlich auf Vertreibungsgründen beruhende Verlassen des Vertreibungsgebietes sei Vertreibung. Dabei sei die besondere Situation der Verfolgten zu berücksichtigen. Sie seien in aller Regel durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen um ihre Existenzgrundlage gebracht worden und hätten deshalb nach dem Ende der Verfolgungszeit fast ausnahmslos vor der Aufgabe gestanden, sich eine neue Lebensgrundlage aufbauen zu müssen. Die Bewältigung dieser Aufgabe sei unter den Verhältnissen der ersten Nachkriegszeit in all den Ländern, die von den Kriegsereignissen betroffen worden seien, von erheblicher Schwierigkeit gewesen. Es entspreche der Lebenserfahrung bei der rechtlichen Beurteilung davon auszugehen, daß eine ganze Reihe gewichtiger Gründe zusammengekommen sein müßten, ehe der schwerwiegende Entschluß zum Verlassen des Heimatlandes gefaßt werde.
Demnach ist für die Widerlegung des zu vermutenden ursächlichen Zusammenhangs zu fordern, daß bei mehreren Gründen, die für das Verlassen des Heimatgebietes maßgebend waren, die nicht auf der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis basierenden eindeutig überwiegen. Das LSG hat festgestellt, für die Auswanderung des Ehemannes der Klägerin seien zwei wichtige Motive bekannt geworden: Die Furcht vor Verfolgung durch das kommunistische Regime in Ungarn und die Entwurzelung in der europäischen Heimat nach dem Tode der meisten Angehörigen infolge der nationalsozialistischen Verfolgung. Beide Beweggründe hat das LSG gleichwertig nebeneinander gestellt. Haben aber mehrere Bedingungen in annähernd gleichem Maße zum Eintritt des Erfolges (Verlassen des Heimatgebietes) beigetragen, so ist jede von ihnen Ursache im Rechtssinne. Die Entwurzelung in der europäischen Heimat nach dem Tod der meisten Angehörigen durch die nationalsozialistische Verfolgung und die sprachliche Vereinsamung des Ehemannes der Klägerin nach Kriegsende in Ungarn sind gewichtige Gründe, die für den zu unterstellenden Vertreibungsdruck sprechen (vgl Urteil des Senats in SozR aaO Nr 6). Bei dieser Sachlage durfte das LSG die Vermutung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und dem Verlassen des Vertreibungsgebietes (sog Nötigungstatbestand) aufgrund der getroffenen Feststellungen nicht als widerlegt ansehen.
Das LSG wird daher davon auszugehen haben, daß die Voraussetzungen des § 20 WGSVG hier erfüllt sind. Es wird nun festzustellen haben, ob unter Beachtung der Auffassung des Senats die Wartezeit für den streitigen Anspruch auf Witwenrente erfüllt ist. Dazu reichen die bisherigen Feststellungen nicht aus.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen