Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 11.11.1991; Aktenzeichen L 2 Kn 16/91)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. November 1991 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der im Jahre 1934 geborene Kläger war bis 1983 versicherungspflichtig beschäftigt, und zwar bis 1960 im Steinkohlenbergbau, anschließend bis 1981 als Schmelzer in einem Stahlwerk. Aus gesundheitlichen Gründen wurde er danach zum Werkschutz und später ins Magazin versetzt.

Nach insoweit erfolglosem Rentenantrag (Bescheid und Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 10. April 1985 bzw 5. August 1985) und Klageverfahren hat ihm das Landessozialgericht (LSG) Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) – auf Zeit – zugesprochen, da ihm derzeit der Arbeitsmarkt zur Verwertung seines verbliebenen Leistungsvermögens verschlossen sei. Das LSG hat dabei in medizinischer Hinsicht sachverständige Ausführungen zugrunde gelegt, wonach – neben weiteren gesundheitlichen Einschränkungen – bei dem zuckerkranken Kläger Blutzuckerkontrollen und zusätzliche Kleinmahlzeiten während der Arbeitsschicht erforderlich seien. Diese machten nach Auffassung des LSG zwei bis drei zusätzliche Pausen von jeweils mehr als 10 Minuten pro Arbeitsschicht erforderlich. Ein derartiger Zeitaufwand sei jedoch als arbeitsmarktunüblich anzusehen. Für diese Feststellung hat sich das LSG an den Aussagen eines berufskundlichen Sachverständigen anläßlich einer Vernehmung im Jahre 1987 orientiert, in der dieser zu zusätzlichen Pausen bei der Arbeit eines Maßprüfers Stellung genommen hatte. Nach den Ausführungen des berufskundlichen Sachverständigen verfügte dieser über Kenntnisse speziell im Metallbereich, aber auch in anderen Branchen, in der die Firma F. … … GmbH tätig sei, mit Ausnahme der stahlerzeugenden Bereiche.

In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG hatte die Beklagte den Hilfsantrag gestellt, weiteren Beweis zu erheben, wie er im Schriftsatz vom 11. November 1991 formuliert worden sei. Hierin wird einerseits beantragt, ein medizinisches Gutachten zu der Frage einzuholen, ob es für den Kläger unschädlich sei, wenn er die Blutzuckerselbstkontrolle in der schichtfreien Zeit bzw während der regulären Mittagspause durchführe. Ferner hat die Beklagte auf andere Entscheidungen des LSG hingewiesen, wonach bei Tätigkeiten in der Verwaltung, als Bürobote, Pförtner sowie in der Postabfertigung häufig zusätzliche Pausen möglich seien, so daß der Kläger selbst dann, wenn er während der Arbeitszeit zwei Blutzuckerselbstkontrollen durchführen müßte, auf jene Tätigkeiten verwiesen werden könnte. Sollte diese Auffassung bezweifelt werden, hat die Beklagte im genannten Schriftsatz abschließend beantragt, berufskundliche Ermittlungen zu der Frage durchzuführen, ob dem Kläger mit seinen besonderen Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt Stellen in der Verwaltung, als Bürobote, als Pförtner oder in der Postabfertigung verschlossen seien.

Die Beklagte rügt mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision in materieller Hinsicht eine Verletzung des § 47 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) sowie in formeller Hinsicht eine Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Inwieweit das Erfordernis zusätzlicher Pausen eine Verschlossenheit des Arbeitsmarkts zur Folge habe, sei von dessen tatsächlichen Verhältnissen abhängig (Hinweis auf BSG vom 30. Mai 1984, SozR 2200 § 1247 Nr 43). Diese aber habe das LSG nicht hinreichend aufgeklärt. Die Ausführungen des in einem anderen Streitverfahren gehörten berufskundlichen Sachverständigen hätten sich lediglich mit der Tätigkeit eines Maßprüfers in der Metallindustrie befaßt und nicht auf die Verhältnisse im anhängigen Berufungsverfahren übertragen werden dürfen. Das LSG hätte sich vielmehr gedrängt fühlen müssen, weiteren Beweis durch Einholung eines berufskundlichen Gutachtens einzuholen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. November 1991 – L 2 Kn 4/89 – aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 10. November 1988 – S 24 Kn 259/85 – zurückzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. November 1991 – L 2 Kn 4/89 – aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er beruft sich auf das angefochtene Urteil und trägt im übrigen vor, daß sich sein Gesundheitszustand nach der mündlichen Verhandlung vor dem LSG weiter verschlechtert habe.

 

Entscheidungsgründe

II

Der Senat hat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 SGG).

Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits begründet.

Zu Recht rügt die Beklagte, daß das LSG seiner Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) nicht genügt hat.

Es ist davon ausgegangen, daß dem Kläger aufgrund der bei ihm erforderlichen zusätzlichen Pausen derzeit der Arbeitsmarkt zur Verwertung seines verbliebenen Leistungsvermögens verschlossen sei (Bl 16 des Urteils), denn bei jenen Pausen könne „nicht mehr von einer Arbeitsmarktüblichkeit gesprochen werden” (Bl 17 des Urteils). Diese Feststellungen begründet das LSG mit den Ausführungen des berufskundlichen Sachverständigen Dipl.-Ing. A. … aus dem Jahre 1987 in einer anderen Streitsache. Dieser Sachverständige hatte jedoch weder zur „Arbeitsmarktüblichkeit” noch zur „Verschlossenheit des Arbeitsmarkts” bei der Erforderlichkeit zusätzlicher Pausen wie beim Kläger Stellung genommen. Er hatte vielmehr seine Ausführungen auf die Tätigkeit eines Maßprüfers beschränkt und zusätzlich darauf hingewiesen, daß er über Kenntnisse speziell im Metallbereich verfüge, aber auch in anderen Branchen, in der die Firma F. … … GmbH tätig sei, mit Ausnahme der stahlerzeugenden Bereiche. Damit aber hat sich der Sachverständige nur zu einem engen Bereich des gesamten Arbeitsmarkts geäußert.

Das LSG hat auch nicht festgestellt, daß eine Vollzeittätigkeit des Klägers nur in jenem engen Bereich vorstellbar sei; im Gegenteil können aus den bisherigen beruflichen Tätigkeiten des Klägers die für die Tätigkeit eines Maßprüfers erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht ohne weiteres abgeleitet werden.

Auf dieser Grundlage aber hätte das LSG sich auch aus seiner Rechtssicht heraus gedrängt fühlen müssen, weitere Ermittlungen zu der Üblichkeit zusätzlicher Pausen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt anzustellen, zB in jenen von der Beklagten in ihrem Beweisantrag angeführten Tätigkeiten der Verwaltung, als Bürobote, Pförtner oder in der Postabfertigung.

Wegen dieses Verfahrensfehlers ist der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Seine Entscheidung stellt sich auch nicht trotz der Gesetzesverletzung aus anderen Gründen als richtig dar (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG). Denn die für eine Entscheidung über einen Anspruch auf (Knappschafts-) Rente wegen EU (§ 47 RKG, § 1247 Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫; jetzt: § 44 Sozialgesetzbuch – Sechstes Buch – ≪SGB VI≫) aufgrund zusätzlicher Pausen erforderlichen Umstände hat das LSG nicht festgestellt (hierzu zB BSG vom 30. Mai 1984, SozR 2200 § 1247 Nr 43 sowie vom 7. August 1986 – 4a RJ 41/85 –).

Inwieweit infolge des vom Kläger vorgetragenen Vorfalls vom 13. Dezember 1991 eine weitere erhebliche Verschlechterung seiner gesundheitlichen Situation eingetreten ist, ist im Revisionsverfahren ohne Belang (§ 163 SGG).

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174657

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