Entscheidungsstichwort (Thema)
Zwischenurteil
Leitsatz (redaktionell)
Eine Vorwegerledigung einzelner Streitpunkte durch Zwischenurteil ist grundsätzlich auch im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit zulässig. Ein solches Urteil ist nicht selbständig anfechtbar, sondern kann nur zusammen mit dem den Streitstoff für die Instanz erledigenden Endurteil angefochten werden.
Normenkette
SGG § 125 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 303
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. März 1963 aufgehoben, soweit das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 25. Februar 1960 abgeändert und der Bescheid der Beklagten vom 19. Januar 1959 aufgehoben worden ist. In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Im übrigen wird die Revision als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zur Hälfte zu erstatten. Die Kostenentscheidung im übrigen bleibt dem abschließenden Urteil des Landessozialgerichts vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger war bei der Firma H. V GmbH in Mülheim-Ruhr als Bauarbeiter beschäftigt. Er wurde am 8. Oktober 1954 wegen vorübergehenden Arbeitsmangels entlassen. Am 18. Oktober 1954 begab er sich, nachdem er wieder für arbeitsfähig befunden worden war, zum Lohnbüro der Firma V, um "Krankengeld" und deine Arbeitspapiere abzuholen, sich aber auch nach den Aussichten für eine Wiedereinstellung zu erkundigen. Vom Lohnbüro wurde er an die Firma P R in Mülheim-Ruhr verwiesen; diese stellte damals Personal nur über die Büros der Firma V. ein, die als "löhnendes und arbeitspapierverwaltendes Unternehmen" für jene Firma auftrat. Nachdem der Kläger von der Firma P R die Zusage erhalten hatte, daß er dort am 19. Oktober 1954 mit der Arbeit beginnen könne, suchte er erneut das Lohnbüro der Firma ... auf, teilte das Ergebnis seiner Bemühungen um Wiederbeschäftigung mit und ließ sich das ihm noch zustehende "Krankengeld" auszahlen, während seine Arbeitspapiere im Hinblick auf die bevorstehende Beschäftigung bei der Firma P R auf dem Lohnbüro verblieben. Den Heimweg legte er mit der Straßenbahn und dem Omnibus zurück. Er stieg an der Haltestelle Ecke Saarnerstraße /Friedhofstraße aus. Anstatt sofort zu seiner in der Friedhofstraße gelegenen Wohnung zu gehen, überquerte er die Saarnerstraße , um auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Bekannten zu begrüßen. Auf diesem Wege oder auf dem Rückwege beim erneuten Überqueren der Straße oder auf der einen oder anderen Straßenseite - nähere Feststellungen hierüber fehlen - stolperte er und kam zu Fall. Nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus wurde bei ihm ein Schenkelhalsbruch festgestellt.
Die beklagte Berufsgenossenschaft lehnte den Anspruch des Klägers auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, weil ein Wegeunfall i. S. der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht vorliege.
Das Sozialgericht (SG) Münster hat die hiergegen gerichtete Klage durch Urteil vom 25. Februar 1960 abgewiesen.
Im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen ist vor allem streitig gewesen, ob der Heimweg des Klägers vom Lohnbüro der Firma V. unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden hat, ob - gegebenenfalls - der Versicherungsschutz infolge des Hinüberwechselns auf die andere Seite der Saarnerstraße entfallen ist und ob der Schenkelhalsbruch auf den Unfall vom 18. Oktober 1954 zurückzuführen ist oder schon vorher vorhanden war.
Das LSG hat am 19. März 1963 folgende mit "Zwischenfeststellungsurteil" überschriebene Entscheidung erlassen:
Das Urteil des Sozialgerichts in Münster vom 25. Februar 1960 wird wie folgt abgeändert:
Der Bescheid der Beklagten vom 19. Januar 1959 wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, daß es sich bei dem Unfall des Klägers vom 18. Oktober 1954 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, aus welchen Gründen der Unfall des Klägers vom 18. Oktober 1954 ein Arbeitsunfall gewesen sei. Alsdann heißt es weiter: Hierüber (über die rechtliche Wertung als Arbeitsunfall) sei unter Abänderung des angefochtenen Erkenntnisses durch Zwischenfeststellungsurteil zu befinden (§ 202 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, § 303 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Im übrigen sei der Rechtsstreit noch nicht entscheidungsreif, weil die Frage, welche Körperschäden der Kläger durch den Unfall davongetragen habe, noch weiterer Aufklärung bedürfe. Insoweit bleibe die Streitsache weiterhin beim LSG anhängig.
Gegen das ihr am 16. April 1963 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 16. Mai 1963 Revision eingelegt und diese mit Schriftsätzen vom 21. Mai und 25. Juni 1963, eingegangen am 22. Mai und 29. Juni 1963, begründet; die Frist zur Begründung des Rechtsmittels war bis zum 16. Juli 1963 verlängert worden.
Die Revision zieht die Zulässigkeit der vom LSG getroffenen Zwischenfeststellung und des Erlasses eines Zwischenurteils in Zweifel. Außerdem enthalte, so meint die Revision, der Urteilsausspruch, soweit er sich nicht auf die Feststellung des Arbeitsunfallcharakters beschränke, mehr als eine bloße Zwischenfeststellung. Es liege ein Endurteil vor, soweit der Bescheid der Beklagten vom 19. Januar 1959 aufgehoben worden sei. Deshalb sei das Urteil der selbständigen Anfechtung nicht entzogen. Die Statthaftigkeit der Revision ergebe sich daraus, daß die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen jedenfalls für die Aufhebung des Ablehnungsbescheides gefehlt hätten. Insoweit sei das erlassene Urteil inhaltslos und auch widersprüchlich, weil einerseits Unfallfolgen nicht festgestellt seien, andererseits aber über die Aufhebungsklage zum Nachteil der Beklagten entschieden worden sei. Die Annahme des LSG, daß ein Arbeitsunfall vorliege, treffe zudem nicht zu. Sie beruhe auf einer unrichtigen Anwendung des materiellen Rechts und auf wesentlichen Mängeln im Verfahren des LSG.
Die Überzeugungsbildung des LSG sei zu beanstanden, weil es dem Vorbringen des Klägers über den Unfallhergang trotz seiner wechselnden und widersprechenden Angaben und seiner erheblichen Vorstrafen Glauben geschenkt und außerdem den Sachverhalt insofern nicht ausreichend aufgeklärt habe, als es von einer Vernehmung der Wirtin der Gastwirtschaft R über den Aufenthalt des Klägers in dieser Gastwirtschaft abgesehen habe.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Münster vom 25. Februar 1960 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Es führt aus: Dem Rechtsmittel der Beklagten fehle es an den Statthaftigkeitsvoraussetzungen des § 162 Abs. 1 SGG. Der Erlaß eines Zwischenfeststellungsurteils habe im Ermessen des LSG gelegen; das Urteil sei nicht selbständig anfechtbar. Im übrigen könne die Zwischenfeststellung des LSG als Vorabentscheid dem Grunde nach (§ 304 Abs. 1 ZPO) angesehen werden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Das Bundessozialgericht (BSG) hat von der Befugnis, in dieser Weise zu verfahren (§ 124 Abs. 2 SGG), Gebrauch gemacht.
II
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Ihre Statthaftigkeit hängt von der verfahrensrechtlichen Charakterisierung des angefochtenen Urteils ab. Das Urteil des LSG ist seiner äußeren, formalen Bedeutung nach teils ein Zwischenurteil, teils ein Endurteil.
Ein Zwischenurteil liegt insoweit vor, als das LSG festgestellt hat, der Unfall des Klägers vom 18. Oktober 1954 sei ein Arbeitsunfall. Dabei handelt es sich entgegen der Meinung des Klägers nicht um eine - nach §§ 130, 202 SGG in Verbindung mit § 304 ZPO unter besonderen Voraussetzungen zulässige - Vorabentscheidung über den Grund des erhobenen Leistungsanspruchs; denn das LSG hat es ausdrücklich offen gelassen, ob der Kläger überhaupt Körperschäden durch den Unfall davongetragen hat, es hat also erkennbar den Leistungsanspruch des Klägers nicht schon dem Grunde nach bejahen, sondern einstweilen nur die Anspruchsvoraussetzungen des Vorliegens eines Arbeitsunfalls feststellen wollen. Dies ist in den Entscheidungsgründen eindeutig durch die Verwendung des Begriffs "Zwischenfeststellungsurteil" unter Anführung der "§§ 202 SGG, 303 ZPO" zum Ausdruck gekommen. Eine Vorwegerledigung einzelner Streitpunkte durch Zwischenurteil ist, wie das BSG wiederholt ausgesprochen hat, grundsätzlich auch im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit zulässig (vgl. BSG 10, 233, 234 und 13, 140, 142).
Über die angeführte Zwischenfeststellung hinaus hat das LSG unter entsprechender Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung den Bescheid der Beklagten vom 19. Januar 1959 aufgehoben. Insoweit hat es also über die mit der Leistungsklage verbundene Aufhebungsklage endgültig entschieden und somit ein Endurteil erlassen.
Soweit das angefochtene Urteil sich als Zwischenurteil nach § 202 SGG in Verbindung mit § 303 ZPO darstellt, ist es nicht selbständig anfechtbar; ein solches Urteil kann, wie bereits in BSG 13, 143 ausgeführt ist, nur zusammen mit dem den Streitstoff für die Instanz erledigenden Endurteil angefochten werden. Eine selbständige Anfechtung von Zwischenurteilen gibt es nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung nur in den Fällen der im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit entsprechend anwendbaren §§ 275 und 304 ZPO. Der Senat brauchte nicht zu prüfen, ob der vom LSG durch Zwischenfeststellung entschiedene Streit über den Charakter des Unfalls vom 18. Oktober 1954 als eines Arbeitsunfalls tatsächlich ein den Erlaß eines Zwischenurteils nach § 303 ZPO rechtfertigender Zwischenstreit über eine den Fortgang des Verfahrens betreffende Prozeßfrage war (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl., S. 241, Anm. 1 Buchst. a; Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., § 303 Anm. II). Selbst für den Fall, daß die getroffene Zwischenfeststellung verfahrensrechtlich nicht zulässig war, ist das Urteil insoweit nicht selbständig, sondern erst mit dem Endurteil anfechtbar; denn die verfahrensrechtliche Unzulässigkeit nimmt ihm nicht den Charakter eines Zwischenurteils (vgl. RG, JW 1931, 3548 Nr. 7; BGH, NJW 1953, 702 Nr. 6; Stein/Jonas aaO § 303 Anm. III, 3; Baumbach/Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 26. Aufl., § 303 Anm. 3). Auch der in § 318 ZPO niedergelegte Grundsatz der Selbstbindung des Gerichts an seine Entscheidung begründet kein Rechtsschutzinteresse an der Aufhebung eines unzulässigen Zwischenurteils, weil ein solches unzulässiges Urteil, wie allgemein anerkannt ist, das erkennende Gericht nicht bindet (vgl. BSG 13, 140, 144 mit zahlreichen Nachweisen). Soweit das angefochtene Urteil sich als Zwischenurteil darstellt, ist die Revision daher nicht statthaft; sie war insoweit als unzulässig zu verwerfen.
Statthaft ist die Revision dagegen, soweit das LSG unter Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung den Ablehnungsbescheid der Beklagten durch Endurteil aufgehoben hat. Dieser Teil des angefochtenen Urteils beruht auf einem von der Revision gerügten wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Das LSG hat seine Entscheidung über die Aufhebungsklage entgegen § 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG mit keinerlei Gründen versehen; es hat nicht dargelegt, weshalb es den die Entschädigung des Klägers ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 19. Januar 1959 aufgehoben hat, obwohl es irgendwelche Körperschäden des Klägers als Folge des Unfalls vom 18. Oktober 1954 nicht festgestellt hat. Die Befugnis zur Aufhebung des Ablehnungsbescheides hat es offenbar den verfahrensrechtlichen Vorschriften über den Erlaß eines Zwischenurteils (§ 202 SGG in Verbindung mit § 303 ZPO) entnommen; diese Vorschriften konnten indessen allenfalls die getroffene Zwischenfeststellung, nicht aber die Aufhebung des Bescheides rechtfertigen.
Soweit die Revision statthaft ist, ist sie auch begründet, weil sich die Möglichkeit nicht ausschließen läßt, daß das weitere Verfahren vor dem LSG zur Abweisung auch der Aufhebungsklage führt, es also im Ergebnis bei dem Bescheid der Beklagten vom 19. Januar 1959 verbleibt.
Es war daher unter teilweiser Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache in diesem Umfang an die Vorinstanz wie geschehen zu erkennen.
In Anwendung des § 193 SGG wurde die Beklagte, weil ihr Rechtsmittel teilweise ohne Erfolg geblieben ist, für verpflichtet erklärt, dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zur Hälfte zu erstatten; die Entscheidung über die weiteren außergerichtlichen Kosten des Klägers wird das LSG in seinem das Berufungsverfahren abschließenden Urteil zu treffen haben.
Fundstellen