Leitsatz (redaktionell)
Zu RVO § 622 Abs 2 S 1.
Normenkette
RVO § 622 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 1585 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. März 1972 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der früher bei der Deutschen Bundesbahn beschäftigt gewesene, dort ausgeschiedene und Erwerbsunfähigkeitsrente beziehende Kläger erlitt im Jahre 1966 drei Arbeitsunfälle. Am 8. März 1966 zog er sich beim Sturz aus dem Anhänger eines Elektrokarrens auf die Bahngleise eine Prellung am linken Unterschenkel zu; es bestanden ferner eine 1 cm lange Wunde an der Schienbeinkante und ein Bluterguß. Am 3. Mai 1966 erlitt er, als ihm eine Eisenplatte auf die rechte Hand fiel, eine Prellung der rechten Mittelhand, an der infolge einer Kriegsschußverletzung aus dem Jahre 1941 der Mittelfinger fehlt. Am 23. Juli 1966 zog sich der Kläger bei einem Verkehrsunfall auf der Heimfahrt von der Arbeit eine Verrenkung des rechten Schultereckgelenks sowie oberflächliche Schürfwunden im Gesicht zu.
Wegen der Folgen des letzten Unfalls war der Kläger bis zum 21. August 1966 arbeitsunfähig krank. Er begehrt Verletztenrente mit der Begründung, daß es durch den Unfall vom 23. Juli 1966 auch zu einer Gehirnerschütterung gekommen sei, die bei seiner Behandlung in der Chirurgischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses A nicht erkannt und nicht behandelt worden sei. Im Krankenhaus habe er gegen seinen Willen eine Tetanusimpfung erhalten, obwohl er erst nach dem Unfall vom 8. März 1966 gegen Tetanus geimpft worden sei. Die Unfallfolgen im Schultergelenk seien infolge nicht ausreichender Behandlung nicht ausgeheilt und verursachten Schmerzen.
Die Beklagte versagte durch Bescheid vom 13. Dezember 1968 die begehrte Unfallentschädigung, weil durch die Folgen der drei Unfälle die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht in rentenberechtigendem Grad gemindert werde.
Das Sozialgericht (SG) Würzburg hat durch Urteil vom 13. Oktober 1969 aus denselben Erwägungen die Klage abgewiesen. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 14. August 1970 diese Entscheidung aufgehoben und wegen mangelhafter Aufklärung des Sachverhalts die Sache an das Erstgericht zurückverwiesen. Durch Urteil vom 4. März 1971 hat das SG die Beklagte entsprechend ihrem - vom Kläger nicht angenommenen - Teilanerkenntnis unter Abänderung des Bescheides vom 13. Dezember 1968 verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 23. Juli 1966 für die Zeit vom 22. August 1966 bis 31. Dezember 1969 "Unfallrente" nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 10 v. H. zu gewähren; im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das SG geht - wie auch die Beklagte - davon aus, daß der Kläger durch die Folgen seiner Wehrdienstbeschädigung in seiner Erwerbsfähigkeit um 10 v. H. gemindert und in demselben Umfang durch Folgen des Unfalls vom 23. Juli 1966 für eine begrenzte Zeit in der Erwerbsfähigkeit beschränkt gewesen sei.
Das Bayerische LSG hat durch Urteil vom 22. März 1972 die Berufung des Klägers, mit der dieser zumindest die Weitergewährung der vom SG zugebilligten Rente verlangt, zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:
Wie sich aus den Gutachten der vom SG gehörten ärztlichen Sachverständigen, des Facharztes für Chirurgie Dr. F und des Nervenfacharztes Dr. Sch, ergebe, könne eine Tetanusschädigung (Serumschock) schon aus dem Grunde nicht vorliegen, weil dem Kläger aus Anlaß der im Jahre 1966 erlittenen Unfälle kein Tetanusserum injiziert worden sei. Durch die drei Unfälle sei es auch nicht, wie der Kläger erst neuerdings behaupte, zu einer Wirbelsäulenschädigung sowie einer Gehirnerschütterung gekommen. Aufgrund der Gutachten der Nervenfachärzte Dr. G und Dr. Sch sei nicht wahrscheinlich, daß der Kläger eine Gehirnerschütterung erlitten habe. Selbst wenn man eine Gehirnerschütterung leichtester Art unterstelle, sei hierdurch die Erwerbsfähigkeit des Klägers zu keiner Zeit beeinträchtigt gewesen. Was die behauptete Wirbelsäulenschädigung betreffe, so habe der Röntgenfacharzt Dr. M in seinem Befundbericht den Verdacht ausgesprochen, daß die Doppelprojektion des 1. Brustdornfortsatzes auffällig sei und den Verdacht auf einen Bruch erwecke, er habe aber einschränkend angemerkt, auf der seitlichen Röntgenaufnahme sei dieser Fortsatz nicht durch die deckenden Weichteile hindurchgezeichnet. Der Facharzt für Chirurgie Dr. F habe aus dem Röntgenbefund jedoch nicht geschlossen, daß im Wirbelsäulenbereich Unfallfolgen bestünden. Solche seien auch unwahrscheinlich, weil nach den ärztlichen Gutachten bei den verschiedenen Unfällen die Wirbelsäule selbst nie betroffen worden sei, der Kläger nach jedem Unfall röntgenologisch und klinisch untersucht worden sei und dabei niemals über Auswirkungen einer Wirbelsäulenverletzung geklagt habe. Über das Teilanerkenntnis der Beklagten hinaus sei der Kläger durch Unfallfolgen um wenigstens 10 v. H. nicht in der Erwerbsfähigkeit gemindert gewesen, so daß ihm auch unter Berücksichtigung seiner MdE um 10 v. H. durch Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) weiterhin keine kleine Rente zustehe. Durch die Unfälle vom 8. März 1966 und 3. Mai 1966 sei keine MdE von wenigstens 10 v. H. eingetreten. Dies sei lediglich durch den Unfall vom 23. Juli 1966 in Höhe von 10 v. H. geschehen. Vom 1. Januar 1970 an bestehe aber insoweit ein für eine Rente nicht ausreichender MdE-Grad von allenfalls 5 v. H. Nach der jüngst geänderten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 32, 245) liege eine die Entziehung einer bindend festgestellten Dauerrente rechtfertigende wesentliche Änderung der Verhältnisse nur vor, wenn der Grad der MdE um mehr als 5 v. H. sinke. Hier handele es sich jedoch um die erste Feststellung der Verletztenrente. Diese dürfe nur solange zeitlich begrenzt, auch über den Zwei-Jahreszeitraum nach dem Unfall hinaus, gewährt werden, als eine MdE um wenigstens 10 v. H. vorliege.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es wie folgt begründet: Das Gutachten Dr. L vom 20. November 1970 enthalte keine abschließende Äußerung, ob der Kläger eine Gehirnerschütterung erlitten habe; die festgestellten Veränderungen könnten medikamentös bedingt sein, dazu bedürfe es eines neuen Elektroenzephalogramms (EEG). Obwohl ein solches nicht angefertigt worden sei, sei Dr. Sch im Gutachten vom 20. November 1970 zu dem Ergebnis gelangt, daß die Veränderungen im EEG Auswirkungen der noch immer eingenommenen Psychopharmaka seien. Die Ansichten dieser beiden ärztlichen Sachverständigen seien mit-einander nicht vereinbar. Dr. M erwähne im Gutachten vom 23. November 1970 Gefügestörung bei C 3/4 und C 4/5, erläutere aber nicht, worauf diese zurückzuführen seien. Dazu habe jedoch aller Anlaß bestanden. Bei der Art des vom Kläger erlittenen körperlichen Schadens lasse sich nicht ausschließen, daß die Gefügestörungen auf dem Unfall vom 23. Juli 1966 beruhten. Weitere Ermittlungen durch das LSG seien ferner notwendig gewesen, weil im Gutachten Dr. M auf eine auffallende Doppelprojektion des 1. Brustdornfortsatzes hingewiesen und der Verdacht auf einen Bruch geäußert werde. Möglicherweise wäre durch eine Rückfrage beim Gutachter dieser Verdacht ausgeräumt oder im Sinne des Klägers geklärt worden. Wäre das Berufungsgericht all diesen Bedenken nachgegangen, so hätten sich die Benommenheit des Klägers und sein gereiztes und schnell aufbrausendes Wesen schon aus diesen Gesundheitsstörungen erklärt, und eine höhere MdE wäre begründet gewesen. Das SG habe mit Recht vom 22. August 1966 an die Rente zugesprochen. Es habe damit eine fehlsame Entscheidung der Beklagten nachgeholt. Das Urteil des SG habe daher nur deklaratorische Bedeutung. Die vorläufige Rente sei mit Ablauf von zwei Jahren nach dem Unfall, also am 22. August 1968 zur Dauerrente geworden. Deshalb habe sie, da nach der Auffassung des LSG der Grad der MdE nur um 5 v. H. abgesunken sei, nicht entzogen werden dürfen. Folge man dieser Ansicht nicht, sei die Rente von Anfang an als Dauerrente anzusehen. Ihre Begrenzung auf einen Zeitraum von etwa 40 Monaten wäre nur bei einem Absinken der MdE auf 0 v. H. wirksam gewesen. Da die MdE aber immer noch 5 v. H. betrage, könne die zeitliche Begrenzung keine Wirksamkeit entfalten.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Unfallfolgen und die dadurch bedingte Einschränkung der Erwerbsfähigkeit seien durch die Gutachter eingehend geprüft worden. Die ersten Zeichen einer Geisteskrankheit seien beim Kläger schon Wochen vor dem Unfall vom 23. Juli 1966 aufgetreten. Dem Kläger sei keine vorläufige Rente, sondern eine Dauerrente gewährt worden. Die geänderte Rechtsauffassung des BSG (vgl. BSG 32, 245) zur Frage, wann eine wesentliche Änderung der Verhältnisse vorliege, sei bedenklich. Dadurch werde eine Rechtsunsicherheit geschaffen und Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz verletzt. Unterschiede in Höhe von 5 v. H. der MdE seien z. B. augenärztlich exakt meßbar.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und des Bescheides vom 13. Dezember 1968 die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine in das Ermessen des Gerichts gestellte Rente vom 1. November 1966 an zu zahlen und diese über den 31. Dezember 1969 hinaus zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
Seine Ansicht, das SG habe die Beklagte zur Gewährung einer vorläufigen Rente verurteilt, diese sei nach § 622 Abs. 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) automatisch zur Dauerrente geworden und dürfe deshalb nur wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse entzogen werden, trifft nicht zu.
Das SG hat die Beklagte verpflichtet, "Unfallrente" zu gewähren. Da die Rente in der Urteilsformel nicht als vorläufige bezeichnet ist, hat es somit zur Gewährung der ersten Dauerrente verurteilt (RVA, AN 1914, 798; 1915, 407; 1917, 368; RVO-Mitgliederkommentar, Band I, 2. Aufl., Anm. 7 zu § 1585 RVO). Die Verurteilung der Beklagten ist - vom Zeitpunkt des Erlasses des SG-Urteils aus gesehen - für einen in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Zeitraum erfolgt. Nach der Auffassung der Vorinstanzen waren die Voraussetzungen für die Gewährung einer kleinen Rente nach § 581 Abs. 3 RVO mit dem Ablauf des 31. Dezember 1969 weggefallen, weil von diesem Zeitpunkt an die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch Folgen des Unfalls vom 23. Juli 1966 sowie durch Schädigungsfolgen nach dem BVG zusammen nicht mehr um 20 v. H. gemindert war. Streitig ist sonach nicht die Entziehung, sondern die Gewährung der ersten Dauerrente. Auf die von der Revision für rechtserheblich gehaltene Frage, ob eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 622 Abs. 1 RVO vorliege, kommt es sonach in der vorliegenden Streitsache nicht an (ähnlich SozR Nr. 9 zu § 622 RVO und Urteil des 2. Senats des BSG vom 25. Mai 1972 - 2 RU 182/70 - nicht veröffentlicht). Der Kläger begehrt vielmehr eine Erhöhung der vom SG zugesprochenen Rente und deren Weitergewährung über den vom Gericht festgesetzten Endzeitpunkt hinaus. Die Voraussetzungen dafür hat das Berufungsgericht indessen aufgrund des von ihm festgestellten Sachverhalts mit Recht nicht als gegeben angesehen.
Die vom Kläger insoweit erhobenen Verfahrensrügen sind nicht begründet.
Entgegen der Ansicht der Revision ist die von den Fachärzten für Neurologie und Psychiatrie Dr. H und Dr. G L zu ihrem EEG abgegebene Beurteilung vom 20. November 1970 nicht unvereinbar mit den Ausführungen des Nervenfacharztes Oberregierungsmedizinalrat Dr. Sch im Gutachten vom 20. November 1970. Jene Sachverständigen, die im Auftrag Dr. Schw lediglich ein EEG anzufertigen hatten, legen dar, daß sich nicht sicher entscheiden lasse, worauf die im EEG sich zeigenden allgemeinen Veränderungen zurückzuführen seien; sie könnten "evtl. medikamentös bedingt sein", hier wäre ein erneutes EEG nach einer Medikamentenfreiheit von mindestens drei Tagen angezeigt. Dr. Sch, der auf eine beim Kläger bestehende Paranoia hinwies, ist hingegen, nachdem er den Kläger untersucht und die angefertigten Röntgenaufnahmen sowie das EEG ausgewertet hatte, zu dem Ergebnis gelangt, daß bei der körperlichen Untersuchung sich auf seinem Fachgebiet nichts gefunden habe, was als Unfallfolge hätte gedeutet werden können; im Röntgenbild des Schädels seien keine Unfallfolgen festzustellen, auch das EEG biete keine Anhaltspunkte für eine Hirnverletzung, die vorhandenen EEG-Veränderungen sprächen vielmehr für Auswirkungen der noch immer eingenommenen Psychopharmaka. Aufgrund des von Dr. Sch gewonnenen Gesamtergebnisses, daß Unfallfolgen am Kopf nicht festzustellen seien, brauchte das LSG nicht der Meinung zu sein, daß der Anregung der Sachverständigen Dr. L, durch ein erneutes EEG sicherzustellen, ob, was auch Dr. Sch angenommen hat, die im EEG sichtbaren allgemeinen Veränderungen medikamentös bedingt seien, nachgegangen werden müsse.
Die weitere Revisionsrüge, das Berufungsgericht hätte sich mit der von dem Röntgenfacharzt Dr. M im Befundbericht vom 23. November 1970 aufgezeigten "Gefügestörung bei C 3/4 und C 4/5" (Übergang vom 3. auf den 4. sowie vom 4. auf den 5. Halswirbel) näher befassen sowie den von diesem Sachverständigen geäußerten Verdacht auf einen Bruch des Dornfortsatzes des 1. Brustwirbels klären müssen, ist ebenfalls nicht begründet. Der Facharzt für Chirurgie Dr. F hat in seinem am 20. November 1970 erstatteten, am 17. Dezember 1970 abgeschlossenen Gutachten insoweit keine Unfallfolgen angenommen. Dr. F hat in seinem Gutachten auf den Röntgenbefund verwiesen (S. 8 des Gutachtens). Eine Beteiligung der Wirbelsäule durch den Unfall hat das Berufungsgericht nicht für wahrscheinlich gehalten, weil, wie es näher dargelegt hat, keiner der drei Unfälle, die der Kläger im Jahre 1966 erlitten hat, die Wirbelsäule selbst betroffen habe. Es hat insbesondere darauf hingewiesen, daß selbst der Unfall vom 23. Juli 1966 lediglich eine Verrenkung und nicht einen Bruch des rechten Schultergelenks zur Folge gehabt hat. Unter diesen Umständen hätte die Revision sich nicht mit dem allgemein gehaltenen Vorbringen begnügen dürfen, bei der Art des vom Kläger erlittenen Körperschadens sei nicht auszuschließen, daß die Gefügestörungen auf dem Unfall vom 23. Juli 1966 beruhten, und daß weitere Ermittlungen notwendig seien, um den von Dr. M geäußerten Verdacht auf einen Bruch des 1. Brustdornfortsatzes auszuräumen. Ebensowenig ist die weitere Behauptung der Revision, daß die Benommenheit des Klägers und sein gereiztes und schnell aufbrausendes Wesen in diesen Gesundheitsstörungen ihre Erklärung fänden, angesichts der vorliegenden Sachverständigengutachten ausreichend substantiiert.
Da somit die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht mit begründeten Revisionsrügen angegriffen und die darauf gestützten rechtlichen Erwägungen des LSG nicht zu beanstanden sind, war die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen