Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verurteilung eines Beigeladenen als “anderer” Versicherungsträger
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Abgabe zur Entscheidung an das nächsthöhere Gericht nach § 181 S. 2 i.V.m. § 180 Abs. 4 SGG ist nicht notwendig, wenn das bereits befasste SG für die Anfechtungsklage gegen den Verwaltungsakt, der vom anderen Versicherungsträger erlassen worden ist, zuständig gewesen wäre (st.Rspr.; vgl. BSGE 14, 177 ff.).
2. Hat ein Beigeladener in einem früheren Bescheid seine Zuständigkeit für die Entscheidung über den Leistungsanspruch grundsätzlich bejaht, diesen Anspruch aber wegen Fehlens materieller Voraussetzungen verneint, so kommt eine Verurteilung nach § 181 i.V.m. § 180 Abs. 4 SGG nicht in Betracht. Nach § 181 i.V.m. § 180 Abs. 4 SGG kann ein Beigeladener nur verurteilt werden, wenn er in einem früheren bestandskräftigen Bescheid seine sachliche Zuständigkeit für die Leistungsgewährung verneint hat.
Normenkette
SGG § 181 S. 2, § 180 Abs. 4; SGB IV § 26
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Oktober 2005 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 21. März 2002 geändert und auch die Klage gegen die Beigeladene abgewiesen wird.
Kosten auch des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung.
Der Kläger war Geschäftsführer einer 1982 gegründeten GmbH, an der er zunächst als Gesellschafter mit 33,3 vH beteiligt war. Mit notariell beurkundetem Vertrag vom 21. September 1984 wurde der Gesellschaftsanteil des Klägers auf 48,8 vH erhöht. Beginnend mit dem 1. April 1982 wurden für ihn bis zum Dezember 1996 Beiträge zur Sozialversicherung und zur Bundesanstalt für Arbeit (jetzt: Bundesagentur für Arbeit ≪BA≫) an die beklagte Krankenkasse als Einzugsstelle entrichtet. In den Jahren 1986 und 1993 von der Beklagten durchgeführte Betriebsprüfungen führten zu keiner Beanstandung der Beitragsentrichtung für den Kläger.
Auf Grund eines im Dezember 1996 geführten Gesprächs stellte die Beklagte durch den an den Kläger gerichteten Bescheid vom 30. Januar 1997 fest, dass auf Grund der Veränderungen im Gesellschaftsvertrag seit September 1984 bei dem Kläger kein abhängiges Beschäftigungsverhältnis mehr bestehe. Er sei als Geschäftsführer der GmbH mit einem Geschäftsanteil von 48,8 vH als selbstständiger Unternehmer anzusehen.
Im Februar 1997 beantragten der Kläger und die GmbH bei der Beklagten die Erstattung der ab 1. April 1982 für den Kläger entrichteten Sozialversicherungsbeiträge und die Auszahlung des Erstattungsbetrages an den Kläger. Die Beklagte leitete das Erstattungsbegehren bezüglich der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung an die beigeladene Bundesagentur für Arbeit (damals: Bundesanstalt für Arbeit) weiter. Die Beigeladene stellte mit gleich lautenden Bescheiden vom 2. Juli 1997 gegenüber dem Kläger und der GmbH fest, der Erstattungsanspruch bestehe dem Grunde nach, sei jedoch für die vor dem 1. Dezember 1992 entrichteten Beiträge für die Zeit vom 1. April 1982 bis 30. November 1992 verjährt. Der Erstattungsbetrag betrage jeweils 5.629,37 DM zuzüglich Zinsen. Besondere Gründe, die Einrede der Verjährung nicht zu erheben, lägen nicht vor. Den nur von der GmbH eingelegten Widerspruch wies die Beigeladene mit Widerspruchsbescheid vom 4. August 1997 zurück.
Mit Schreiben vom 9. September 1997 beantragte der Kläger nunmehr bei der Beklagten die Rückzahlung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung und begründete diesen Anspruch mit Verstößen der Beklagten gegen ihre Auskunfts- und Beratungspflichten. Auf Ersuchen des Klägers wies die Beklagte mit Schreiben vom 7. November 1997 auf ihren – mangels Rechtsbehelfsbelehrung noch angreifbaren – Bescheid vom Januar 1997 bezüglich der Versicherungsfreiheit hin und lehnte eine Haftung wegen Verletzung der Auskunfts- und Beratungspflichten, auch im Hinblick auf die durchgeführten Betriebsprüfungen, ab. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Bescheid vom 10. Februar 1998 für den Zeitraum vom 1. September 1984 bis zum 31. Dezember 1996 zurück. Für die Zeit vom 1. April 1982 bis zum 31. August 1984 kündigte sie eine gesonderte Entscheidung an.
Der Kläger hat Klage erhoben. Nachdem das Sozialgericht (SG) die BA beigeladen hatte, hat der Kläger im April 2000 bei der Beigeladenen erneut die Erstattung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung vom 1. April 1982 bis 30. November 1992 beantragt. Die Beigeladene hat mit dem Bescheid vom 30. Mai 2000 das Schreiben des Klägers als Antrag auf Rücknahme ihres Bescheides vom 2. Juli 1997 angesehen, soweit darin die Erstattung von Beiträgen abgelehnt worden war, und diese abgelehnt. Vor dem SG hat der Kläger beantragt, die Beklagte unter Abänderung der Bescheide zur Erstattung der für die Zeit vom 1. April 1982 bis zum 30. November 1996 gezahlten Beiträge zu verpflichten, hilfsweise die Beigeladene entsprechend zu verurteilen.
Das SG hat durch Urteil vom 21. März 2002 die Beigeladene verurteilt, dem Kläger die vom 1. April 1982 bis zum 30. November 1996 von ihm an die Beigeladene – sowohl als Arbeitnehmer als auch als Arbeitgeber – entrichteten Beiträge zu erstatten. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für ein Wiederaufnahmeverfahren nach § 181 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im Verhältnis zur Beigeladenen lägen vor. Die Beigeladene sei zur Erstattung der zu Unrecht entrichteten Beiträge verpflichtet, die Erhebung der Verjährungseinrede nach dem Grundsatz von Treu und Glauben unzulässig.
Auf die Berufung der Beigeladenen hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG mit Urteil vom 20. Oktober 2005 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Verurteilung zur Erstattung der Beiträge für den Zeitraum vom 1. Dezember 1992 bis zum 30. November 1996 sei rechtswidrig, da die Beigeladene die Beiträge für diese Zeitspanne bereits erstattet habe. Eine Verurteilung der Beigeladenen zur Beitragserstattung in der übrigen Zeit sei schon aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht zulässig. Die Voraussetzungen für eine Verurteilung nach § 75 Abs 5 SGG lägen nicht vor, da eine bindende Entscheidung der Beigeladenen vorliege. Die Voraussetzungen für ein Wiederaufnahmeverfahren nach § 181 SGG seien nicht gegeben. Die im Hinblick auf die Beklagte zu treffende Entscheidung widerspreche nicht der bindend gewordenen Entscheidung der Beigeladenen vom 2. Juli 1997. Während die Beklagte für die Erstattung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung unzuständig sei, habe die Beigeladene ihre Zuständigkeit ebenso bejaht wie den Anspruch dem Grunde nach, und diesen nur wegen der Einrede der Verjährung nicht vollständig erfüllt. Selbst wenn § 181 SGG anwendbar wäre, bestünde kein Anspruch gegen die Beigeladene, denn die von ihr erhobene Einrede der Verjährung stelle keine unzulässige Rechtsausübung dar.
Der Kläger hat nach Einlegung der Revision die Klage hinsichtlich der Erstattung der für die Zeit ab Dezember 1992 entrichteten Beiträge zur Beigeladenen zurückgenommen. Mit seiner Revision erstrebt der Kläger die Aufhebung des Urteils des LSG. § 181 SGG sei gemäß der Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteil vom 26. Januar 2005, B 12 P 9/03 R) anwendbar, da diese Norm der materiell richtigen Entscheidung den Vorrang vor der Bestandskraft von Verwaltungsakten einräume und die Erhebung der Verjährungseinrede ermessensfehlerhaft gewesen sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Oktober 2005 aufzuheben und die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 21. März 2002 zurückzuweisen.
Die Beklagte und die Beigeladene beantragen übereinstimmend,
die Revision zurückzuweisen.
Sie halten das Berufungsurteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist nicht begründet. Zu entscheiden war nur über die Frage, ob das LSG das Urteil des SG zu Recht aufgehoben hat, soweit dieses die Beigeladene zur Leistung für die bis November 1992 entrichteten Beiträge verurteilt hat. Die Klage hinsichtlich der für die Zeit ab Dezember 1992 entrichteten Beiträge, die die Beigeladene bereits erstattet hatte, hat der Kläger zurückgenommen. Über die Frage, ob die Klage gegen die Beklagte vom SG zu Recht abgewiesen worden ist, war nicht zu entscheiden, da dies schon nicht Gegenstand der Entscheidung des LSG war. Der Kläger hat keine Berufung eingelegt und das LSG deshalb über diesen Teil des sozialgerichtlichen Urteils nicht entschieden.
Zutreffend hat das LSG entschieden, eine Verurteilung der Beigeladenen nach § 181 SGG sei unzulässig, das Urteil des SG, soweit es die Beigeladene verurteilt hat, aufgehoben und auch die Klage gegen die Beigeladene abgewiesen. Nach § 181 SGG hat das Gericht, wenn es die Klage gegen einen Versicherungsträger ablehnen will, weil es einen anderen Versicherungsträger für leistungspflichtig hält, obwohl dieser bereits den Anspruch endgültig abgelehnt hat oder in einem früheren Verfahren rechtskräftig befreit worden ist, den anderen Versicherungsträger und das Gericht, das über den Anspruch rechtskräftig entschieden hat, zu verständigen und die Sache zur Entscheidung an das gemeinsame nächsthöhere Gericht abzugeben. Dieses bestimmt dann den Leistungspflichtigen (§ 181 Satz 2 iVm § 180 Abs 4 SGG). Diese Vorschriften berechtigen damit das Gericht, den beigeladenen Versicherungsträger zur Leistung zu verurteilen.
Nicht zu beanstanden ist, dass das SG nach diesen Vorschriften selbst in der Sache entschieden und diese nicht an das nächsthöhere Gericht abgegeben hat. Eine solche Abgabe ist nicht notwendig, wenn das bereits befasste SG für die Anfechtungsklage gegen den Verwaltungsakt, der vom anderen Versicherungsträger – dh hier der beigeladenen BA – erlassen worden ist, zuständig gewesen wäre (BSG, Urteil vom 27. April 1961, 2 S 1/60, BSGE 14, 177, 180 = SozR Nr 1 zu § 181 SGG). Eine Verurteilung der Beigeladenen scheidet jedoch aus, weil § 181 SGG lediglich eine verfahrensrechtliche Handhabe bietet, bindende – bestandskräftige oder rechtskräftige – Entscheidungen zu beseitigen, die im Widerspruch zu einer beabsichtigten Entscheidung des erkennenden Gerichts stehen (BSG, Urteil vom 13. August 1981, 11 RA 56/80, SozR 1500 § 75 Nr 38 S 38, und Urteil vom 31. Mai 1988, 2 RU 67/87, JURIS-Nr KSRE021611427), wobei Widerspruch hier bedeutet, dass das Gericht die Frage der sachlichen Zuständigkeit oder auch Passivlegitimation des “anderen” Versicherungsträgers anders beurteilt als dies in der bestandskräftigen Entscheidung dieses Versicherungsträgers geschehen ist (vgl BSG, Urteil vom 31. Mai 1988, 2 RU 67/87, aaO). Widersprechende Entscheidungen in diesem Sinne liegen nicht vor. Das LSG geht ebenso wie bereits die Beklagte davon aus, die beigeladene BA sei für die Entscheidung über den Erstattungsanspruch zuständig. Die beigeladene BA hat im Bescheid vom 2. Juli 1997 über den Erstattungsantrag als sachlich zuständiger Versicherungsträger entschieden, ihm zum Teil stattgegeben und ihn im Übrigen aus sachlich-rechtlichen Gründen abgelehnt. Diese Annahme über die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Anspruch auf Erstattung von Beiträgen nach § 26 Abs 2 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – stützt sich zutreffend auf § 351 Abs 2 Nr 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung. Der Erstattungsanspruch, der unabhängig von den Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs gegeben ist, schließt andererseits aber die Beitragserstattung wegen eines behaupteten sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs aus (vgl schon Senatsurteil vom 29. Januar 1998, B 12 KR 11/97 R, SozR 3-2400 § 26 Nr 10 S 49). Soweit der 7. Senat abweichend von der den Urteilen des 2. und 11. Senats entscheidungserheblich zu Grunde liegenden Rechtsauffassung die Ansicht vertreten hat, eine Verurteilung des “anderen” Versicherungsträgers iS von § 181 SGG komme auch dann in Betracht, wenn dessen Entscheidung materiell falsch gewesen sei, er also seine Zuständigkeit angenommen, aber in der Sache unrichtig entschieden habe, folgt dem der Senat nicht. Diese Rechtsansicht, die der 7. Senat in den Urteilen vom 21. Mai 1980 (7 RAr 19/79, BSGE 50, 111, 115 = SozR 1500 § 181 Nr 1 S 2 – insoweit allerdings noch nicht eindeutig) und 24. Mai 1984 (7 RAr 15/82, BSGE 57, 1, 7 = SozR 2200 § 1237a Nr 25) vertreten hat, war für seine Entscheidungen jeweils nicht erheblich, da er in beiden Entscheidungen eine Verurteilung nach § 181 SGG nicht ausgesprochen oder bestätigt hat. Einer Anrufung des Großen Senats bedarf es daher nicht.
Unzutreffend ist die von der Revision vertretene Ansicht, eine Verurteilung der Beigeladenen nach § 181 SGG sei jedenfalls auf Grund der Rechtsansicht des Senats in seinem Urteil vom 26. Januar 2005 (B 12 P 9/03 R, JURIS-Nr KSRE079401517, RdNr 19) möglich. In diesem Urteil hat der Senat ausgeführt, dass eine Verurteilung dann nicht möglich ist, wenn das Gericht die Zuständigkeit des beklagten Versicherungsträgers verneint, der als Leistungspflichtiger in Betracht kommende Versicherungsträger seine sachliche Zuständigkeit jedoch nicht verneint hat und die Ablehnung auf das Fehlen der für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen gestützt hat. Genau dies ist auch hier der Fall, denn die beigeladene BA hat den Anspruch auf Beitragserstattung wegen Eintritts von Verjährung abgelehnt. Soweit der Senat in diesem Zusammenhang das oa Urteil des 7. Senats vom 21. Mai 1980 (BSGE 50, 111) zitiert hat, betrifft dies nur dessen Aussage, es müssten widersprüchliche Entscheidungen vorliegen.
Auf die Revision war nicht zu entscheiden, ob das LSG die Verurteilung der Beigeladenen nach § 75 Abs 5 SGG zu Recht abgelehnt hat. Die Revision hat diese verfahrensrechtliche Entscheidung des LSG nicht angegriffen. Eine mögliche Verletzung von § 75 Abs 5 SGG durch die Entscheidung des LSG wäre auch kein von Amts wegen zu berücksichtigender Verfahrensmangel.
Der Senat hat mit der Revisionsentscheidung das Berufungsurteil im Ausspruch berichtigt und klargestellt, dass das Urteil des SG nur insoweit aufgehoben wird, als es der hilfsweise erhobenen Klage gegen die Beigeladene stattgegeben hat. Das Berufungsgericht war nur befugt, das Urteil des SG hinsichtlich dieses Klagebegehrens zu überprüfen und zu ändern, da nur die Beigeladene Berufung eingelegt hatte. Die Abweisung der Klage gegen die Beklagte im Urteil des SG war nicht angefochten. Das LSG hat, wie aus den Gründen ersichtlich, auf die Berufung der Beigeladenen auch nur über die hilfsweise gegen die Beigeladene erhobene Klage entschieden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
SGb 2007, 40 |
ZfSSV 2007, 15 |