Leitsatz (amtlich)

Für die Feststellung der Waisenausgleichsrente eines Minderjährigen ist dessen gesetzlicher Unterhaltsanspruch gegen einen Elternteil nur insoweit zu berücksichtigen, als der notwendige - nicht der standesgemäße oder notdürftige - Lebensunterhalt des Elternteils gesichert bleibt. Bezüglich des Begriffs notwendiger Lebensunterhalt Anschluß BSG 1956-06-07 8 RV 411/54 = BSGE 3, 124 und Anschluß BSG 1956-10-26 8 RV 17/55 = BSGE 4, 71.

 

Normenkette

BVG § 47 Fassung: 1952-03-19; BGB § 1603

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. Oktober 1954 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der Kläger erhielt nach seinem im zweiten Weltkrieg gefallenen Vater Waisenrente auf Grund des Bayerischen Gesetzes über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) und bezog ab 1. Oktober 1950 Waisengrundrente gemäß § 46 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Das Versorgungsamt (VersorgA.) lehnte die Gewährung von Ausgleichsrente ab, weil der Lebensunterhalt des Klägers durch das Einkommen sichergestellt sei, das seine Mutter aus einem von ihr gepachteten Gemischtwarenladen erzielte. Die Berufung nach altem Recht an das Oberversicherungsamt (OVA.) blieb erfolglos. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG.), auf das der Rekurs als Berufung übergegangen war, ermittelte durch eine Auskunft des Finanzamts Griesbach das zur Einkommensteuer veranlagte Einkommen der Mutter im Jahre 1950 und 1951. Mit Urteil vom 28. Oktober 1954 hat es unter Aufhebung des Urteils des OVA. und Abänderung des Bescheides des VersorgA. dem Kläger Ausgleichsrente zur Waisengrundrente ab 1. Oktober 1950 zugesprochen. Die Revision wurde zugelassen.

Das LSG. hat u.a. ausgeführt, das Jahreseinkommen der Mutter des Klägers habe 1950 und 1951 durchschnittlich 3.000,- DM betragen und sei für die folgenden Jahre nicht wesentlich höher anzunehmen. Bei der Prüfung, ob der Lebensunterhalt auf andere Weise sichergestellt sei, könnten Leistungen eines Dritten auf Grund gesetzlicher Unterhaltspflicht entsprechend der grundsätzlichen Regelung in § 1603 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) nur insoweit herangezogen werden, als der eigene standesgemäße Unterhalt des Dritten dadurch nicht gefährdet werde. Die über das allgemeine Maß hinausgehende Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber ihren minderjährigen Kindern (§ 1603 Abs. 2 BGB) könne den Staat nicht von seiner Verpflichtung zur Versorgung bedürftiger Kriegsopfer befreien. Wann eine Gefährdung des standesgemäßen Unterhalts vorliege, sei Tatfrage. Bei dem festgestellten Einkommen der Mutter des Klägers gehe die Unterhaltung des Klägers auf Kosten ihres eigenen standesgemäßen Lebensunterhalts.

Gegen das Urteil hat der Beklagte Revision eingelegt und beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen,

hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Die Revision rügt eine Verletzung des § 47 BVG und des § 1603 BGB. Das LSG. habe es auf den standesgemäßen Unterhalt der Mutter abgestellt, während für das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern eine erweiterte Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB gelte. Die steuerlichen Begünstigungen bei der Einkommensteuer-Veranlagung überstiegen die Sonderausgaben, die bei Einkommen aus unselbständiger Arbeit abgezogen werden dürfen. Der Lebensunterhalt des Klägers sei auf andere Weise sichergestellt. Der Kreis der Versorgungsberechtigten sei einheitlich und gleichmäßig zu versorgen. Der Kläger hat beantragt,

das Urteil des LSG. aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Nach Verkündung des Urteils des LSG. hat die Mutter des Klägers im Juni 1956 das Gemischtwarengeschäft aufgegeben. Das VersorgA. gewährte daraufhin dem Kläger ab 1. Juni 1956 Waisenausgleichsrente und berücksichtigte als sonstiges Einkommen die Waisenrente aus der Invalidenversicherung seines gefallenen Vaters.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist infolge Zulassung statthaft, § 162 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das LSG. hat die Berufung, deren Zulässigkeit als Voraussetzung der Rechtswirksamkeit des gesamten weiteren Verfahrens von Amts wegen zu prüfen ist (BSG. 2 S. 225), zu Recht nicht gemäß § 148 Nr. 4 SGG als ausgeschlossen angesehen, weil das Urteil den Grund der Ausgleichsrente, nämlich die Frage betrifft, ob der Lebensunterhalt auf andere Weise sichergestellt ist (vgl. BSG. 3 S. 124). Die Zulässigkeit der Berufung ist auch nicht dadurch berührt worden, daß infolge der nachträglichen Gewährung von Ausgleichsrente nur noch Versorgung für einen abgelaufenen Zeitraum streitig ist; denn die Zulässigkeit der Berufung richtet sich nicht nach dem Beschwerdegegenstand im Rechtsmittelverfahren sondern nach den Ansprüchen, über die das Sozialgericht (SG.) entschieden hat. Zur Zeit der Entscheidung des OVA., die dem Urteil des SG. gleichzustellen ist, war der Anspruch auf Ausgleichsrente dem Grunde nach und ohne zeitliche Begrenzung streitig und damit die Berufung zulässig (BSG. 1 S. 225). Gegen die Zulässigkeit der Revision bestehen somit keine Bedenken. Sie ist auch begründet, weil das LSG. die Vorschrift des § 47 Abs. 1 BVG verkannt hat.

Nach § 47 Abs. 1 BVG wird Waisen, deren Lebensunterhalt nicht auf andere Weise sichergestellt ist, Ausgleichsrente gewährt. Im Gesetz ist nicht bestimmt, ob der notdürftige, notwendige oder standesgemäße Lebensunterhalt Maßgebend ist und welche Umstände mit dem Wort "sichergestellt" gemeint sind. Der 8. Senat des Bundessozialgerichts (BSG.) hat hierzu bereits im Urteil vom 26. Oktober 1956 - 8 RV 17/55 (SozR. BVG § 47 Bl. C a 1 Nr. 2) Ausführungen gemacht. Danach ist unter Lebensunterhalt im Sinn dieser Vorschrift nicht der notdürftige und nicht der standesgemäße, sondern der notwendige Lebensunterhalt zu verstehen. Dazu gehören insbesondere die erforderlichen Aufwendungen für Ernährung, Wohnung, Bekleidung, Ausbildung, ärztliche Behandlung und Beschaffung von Gebrauchsgegenständen sowie sonstige notwendige Ausgaben des täglichen Lebens nach Lage des Einzelfalls. Um feststellen zu können, ob der Lebensunterhalt sichergestellt ist, sind die Gesamtverhältnisse zu berücksichtigen. Neben dem eigenen Einkommen der Waise kommt es daher hauptsächlich auf die Einkommensverhältnisse des noch lebenden Elternteils, seine Leistungsfähigkeit und sonstigen finanziellen Verpflichtungen an. Der Elternteil hat jedoch nicht bis zur äußersten Grenze seiner Leistungsfähigkeit für den Unterhalt der Waise aufzukommen, bevor diese eine Ausgleichsrente erhält. Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung im Grundsatz an.

Das LSG. hat zu Recht die Leistungen seiner Mutter auf Grund ihrer Unterhaltspflicht gegenüber dem Kläger als sonstiges Einkommen des Klägers im Sinne des § 47 Abs. 3 und 4 in Vdb. mit § 33 Abs. 2 BVG angesehen, durch das dessen Lebensunterhalt auf andere Weise als durch Ausgleichsrente sichergestellt werden kann.

Weiter hat das LSG. zutreffend für den Bereich der Kriegsopferversorgung nach einer Begrenzung des Unterhaltsanspruchs zugunsten des nach § 1603 Abs. 2 BGB Verpflichteten gesucht. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus der Überlegung, daß das BVG mit der Gewährung der Ausgleichsrente - also mit einer subsidiären, von Bedürftigkeit abhängigen Leistung - schon dann beginnt, wenn für den Rentenberechtigten der notwendige Lebensunterhalt nicht sichergestellt ist. Es kann nicht der Sinn des Gesetzes sein, zur Sicherstellung des notwendigen Unterhalts einer Waise den notwendigen Unterhalt des Unterhaltsverpflichteten zu gefährden und ihm - im Gegensatz zum Versorgungsberechtigten - nur den notdürftigen Unterhalt zu belassen. Dies würde in der Tat einer vom Gesetzgeber nicht gewollten Abwälzung der Versorgungspflicht des Staates auf einen Dritten gleichkommen. Es gibt aber zu Bedenken Anlaß, daß das LSG. die Begrenzung des Anspruchs aus dem BGB herleitet und den Begriff des standesgemäßen Unterhalts im Sinne des § 1603 Abs. 1 BGB verwendet.

Der Begriff des standesgemäßen Unterhalts im bürgerlichen Recht betrifft überwiegend die Regelung von Unterhaltsansprüchen zwischen Verwandten (§ 1601 BGB) und stellt auf deren Verhältnisse ab. Allgemein öffentliche Interessen werden davon in der Regel nicht berührt. Der Begriff des standesgemäßen Lebensunterhalts ist dagegen dem BVG, das die Versorgung der Kriegsbeschädigten und ihrer Hinterbliebenen aus öffentlichen Mitteln regelt, wesensfremd. Das BVG hat für alle Witwen und Waisen Versorgung in gleicher Höhe festgesetzt ohne Rücksicht auf Beruf, früheres Einkommen und Lebensstellung des Verstorbenen. Das für die Bemessung der subsidiären Ausgleichsrente maßgebliche Einkommen der Versorgungsberechtigten wird bei allen Hinterbliebenen in gleicher Weise angerechnet. Das BVG schafft somit für sämtliche Berechtigten zahlenmäßig gleiche Verhältnisse. Dieser Grundsatz würde für die Waisenausgleichsrente durchbrochen, wenn der standesgemäße Unterhalt des unterhaltspflichtigen Elternteils berücksichtigt würde. Dann würden u.U. gleiche Einkommensverhältnisse der lebenden Elternteile nach verschiedenen Maßstäben beurteilt: Dem Elternteil in sozial höher bewerteter Lebensstellung verbliebe ein größerer Betrag für seinen "standesgemäßen" Unterhalt als dem sozial niedriger stehenden, der dadurch in stärkerem Maße zur Unterhaltsleistung für die Waise beizutragen hätte als der sozial höher gestellte. Dies widerspräche dem System der gleichmäßigen Versorgung der Hinterbliebenen.

Vielmehr ist nach den Grundsätzen des BVG zu ermitteln, inwieweit bei Bemessung der Ausgleichsrente der Unterhaltsanspruch des Versorgungsberechtigten ausgeschöpft werden kann. Das BVG stellt sowohl in § 47 als auch in § 32 auf den notwendigen Unterhalt ab, wie das BSG. bereits entschieden hat (BSG. 3 S. 124 ff. - Urteil des 8. Senats vom 7.6.1956 -). Dieser allgemein gültige, sämtliche Fälle gleichmäßig regelnde Maßstab muß für das gesamte Gesetz gelten, wenn Aufwendungen für den Lebensunterhalt zu ermitteln sind. Auf diese Weise wird die Besonderheit des Einzelfalles berücksichtigt und ein objektiver, für alle Betroffenen gleicher Bewertungsmaßstab gefunden. Es ist demnach zunächst zu prüfen, welchen Betrag der Unterhaltspflichtige zur Bestreitung seines eigenen notwendigen Lebensunterhalts aufwenden muß für Ernährung, Wohnung, Bekleidung, ärztliche Behandlung, ferner für die Beschaffung von Gebrauchsgegenständen sowie sonstige Auslagen des täglichen Lebens nach der Lage des Einzelfalles (BSG. 3 S. 124). Erst hiernach läßt sich feststellen, ob und mit welchem Betrage er für den Bereich des Versorgungsrechts als unterhaltspflichtig gegenüber dem Versorgungsberechtigten angesehen werden kann.

Diese Art der Begrenzung folgt auch aus dem Begriff der Sicherstellung des Lebensunterhalts für die Waise. Hiervon kann nur dann gesprochen werden, wenn die Leistungen auf Grund des Unterhaltsanspruchs den Lebensunterhalt des Versorgungsberechtigten nicht nur für den Augenblick der Rentengewährung oder eine kurze sich daran anschließende Zeit, sondern für einen längeren Zeitraum sichern. Der abweichenden Auffassung des Bayerischen LSG. im Urteil vom 28. September (Bayer. Amtsbl. 1955 S. B 50) kann daher nicht zugestimmt werden, wenn es bei der Beurteilung, ob der Lebensunterhalt der Rentenberechtigten sichergestellt sei, die unbeschränkte Ausschöpfung des Unterhaltsanspruchs für zulässig erachtet. Bei dieser Auslegung würde dem Unterhaltsverpflichteten für seinen eigenen Lebensunterhalt nur soviel bleiben, als der Pfändung nicht unterliegt. Eine derartige Beschneidung des Lebensunterhalts für den Unterhaltsverpflichteten würde aber gleichzeitig die Sicherstellung des Lebensunterhalts für den Versorgungsberechtigten aufheben oder mindestens in Frage stellen; denn jede notwendig werdende, auch nur geringfügige Mehraufwendung des Unterhaltsverpflichteten für seinen eigenen Lebensunterhalt schmälert gleichzeitig seine Leistungen für den Unterhaltsberechtigten, so daß nicht mehr mit der erforderlichen Sicherheit angenommen werden kann, daß für diesen die notwendigen Mittel für seinen Lebensunterhalt auf längere absehbare Zeit gesichert sind. Von einer solchen Sicherheit kann deshalb nur dann gesprochen werden, wenn dem Unterhaltsverpflichteten seinerseits auf absehbare Zeit die Mittel verbleiben, die über den notdürftigen Lebensunterhalt hinaus zur Befriedigung seiner notwendigen Lebensbedürfnisse unerläßlich sind.

Eine solche Auslegung des Gesetzes entspricht schließlich auch dem Wesen der Rente. Rentenleistungen sind darauf abgestellt, für längere Zeiträume auf gleicher Höhe zu bleiben. Dieser Grundsatz würde verletzt, wenn infolge einer zu scharfen Ausschöpfung der Einkünfte des Unterhaltsverpflichteten in kürzesten Zeiträumen Neufeststellungen der Waisenausgleichsrente notwendig werden würden.

Das Urteil des LSG. beruht auf einer diesen Grundsätzen widersprechenden unrichtigen Auslegung des § 47 Abs. 1 BVG. Es war daher aufzuheben. Der Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, da der Sachverhalt hinsichtlich des notwendigen Lebensunterhalts der Mutter und des Klägers nicht genügend aufgeklärt ist. Der Rechtsstreit war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Unter Beachtung dieser rechtlichen Beurteilung wird das LSG. zunächst zu ermitteln haben, welche Beträge die Mutter des Klägers für ihren notwendigen Lebensunterhalt an ihrem Wohnort aufwenden muß. Insoweit können etwa die Ortslöhne für Unverheiratete und die Tariflöhne für Unverheiratete in den unteren Stufen einen brauchbaren Anhalt geben. Bei Feststellung des Einkommens und der Aufwendungen der Mutter für sich und für den Kläger wird das LSG. die vom VersorgA berücksichtigten Einkünfte aus der Invalidenversicherung des Verstorbenen zu überprüfen und gegebenenfalls auch zu beachten haben, ob Aufwendungen schon im Veranlagungsverfahren des Finanzamts vor Ermittlung des Reingewinns abgesetzt wurden. Die weiteren von der Mutter des Klägers erwähnten Aufwendungen für einen Kuraufenthalt des Klägers und für eine ständige Haushaltshilfe zählen nicht zum Lebensunterhalt der Mutter, sondern zu dem des Klägers selbst. Sie können bei der Ermittlung des für die Mutter freibleibenden Einkommens nicht berücksichtigt werden. Sollte das LSG. den notwendigen Lebensunterhalt des Klägers nicht als sichergestellt erachten, wird es gemäß § 47 Abs. 4 BVG bei Feststellung der Ausgleichsrente den durch Art. I Nr. 7 Buchst. c des Dritten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 19. Januar 1955 (BGBl. I S. 25), in das Gesetz eingefügten neuen Absatz 3 des § 33 BVG zu berücksichtigen haben. Nach dieser Vorschrift ist die Ausgleichsrente abweichend von § 47 Abs. 3 BVG nach den Gesamtverhältnissen zu bemessen, wenn das sonstige Einkommen zahlenmäßig nicht feststellbar ist, der Lebensunterhalt im Sinne des § 47 Abs. 1 BVG aber nicht auf andere Weise sichergestellt erscheint.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1983704

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