Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherung. Ostpreußen
Orientierungssatz
1. War eine Unfallverletzte im Zeitpunkt des Unfalls, der sie im polnisch verwalteten Teil Ostpreußens betroffen hat, nicht bei einem polnischen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung versichert (§ 5 Abs 1 Nr 2 Buchst a FRG), hängt die Entscheidung über ihren Klaganspruch gemäß § 5 Abs 1 Nr 2 Buchst b FRG davon ab, ob ihr der Versicherungsschutz damals versagt war, weil in ihrem Wohngebiet eine ordnungsmäßig geregelte Unfallversicherung nicht durchgeführt war.
2. Eine nicht ordnungsmäßig geregelte Unfallversicherung liegt nicht schon dann vor, wenn eine nachteilige Änderung der gesetzlichen Verhältnisse als Folge der Kriegs- und Nachkriegsereignisse eingetreten ist, sondern ist erst dann gegeben, wenn einzelne Volksgruppen ungleich behandelt, sondere einzelne Personenkreise wegen ihrer Staats- und Volkszugehörigkeit - Deutsche - vom Versicherungsschutz ausgeschlossen oder in irgendeiner Weise, vor allem durch Diskriminierung, benachteiligt werden (vgl BSG 1959-06-02 2 RU 221/56 = BSGE 10, 56).
Normenkette
FRG § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b, a
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 23.11.1966) |
SG Augsburg (Entscheidung vom 30.09.1964) |
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 23. November 1966 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin wohnt seit dem 10. April 1963 im Bundesgebiet. Bis dahin lebte sie in L, Kreis O, und betrieb selbständig eine Landwirtschaft mit etwa 20 ha. Im Wege der Familienzusammenführung wurde ihr die Übersiedlung aus dem polnisch verwalteten Gebiet in die Bundesrepublik Deutschland genehmigt. Seit dem 6. Mai 1963 ist sie im Besitz des Ausweises für Vertriebene und Flüchtlinge, des sog. A-Scheines.
Am 12. September 1960 war die Klägerin von einem Arbeitsunfall betroffen worden; dabei hatte sie einen Oberschenkelbruch erlitten. Wegen dieses Unfalls beantragte sie Ende April 1963 bei der Beklagten die Gewährung einer Rente; bisher hatte sie keine Unfallentschädigung erhalten.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 11. Dezember 1963 die Gewährung einer Entschädigung mit folgender Begründung ab: Die Klägerin sei als Unternehmerin ihres landwirtschaftlichen Betriebes nach dem im Herkunftsland, dem polnisch verwalteten Teil Ostpreußens, geltenden Recht gegen Unfall bei der Arbeit nicht gesetzlich versichert gewesen; sie habe daher auch keine Unfallrente bezogen. Die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 des Fremdrentengesetzes vom 25. Februar 1960 (FRG) für einen Entschädigungsanspruch gegen die Beklagte seien nicht gegeben.
Diesen Bescheid hat die Klägerin am 20. Dezember 1963 zugestellt erhalten. Sie wohnte damals in dem zum Sozialgerichtsbezirk Augsburg gehörenden Ort L. Der Bescheid ist ihr unter ihrer früheren Anschrift nach dem ebenfalls zum Sozialgerichtsbezirk Augsburg gehörenden Ort N übersandt worden. Die in dem Bescheid enthaltene Rechtsbehelfsbelehrung unterrichtete die Klägerin darüber, daß sie gegen den Bescheid bei dem für ihren Wohnbezirk zuständigen Sozialgericht (SG) Regensburg Klage erheben könne.
Mit Schriftsatz vom 3. Februar 1964, der bei der Beklagten am 7. Februar 1964 eingegangen ist, hat die Klägerin gegen den Bescheid Klage erhoben. Sie meint, Anspruch auf Unfallentschädigung auf Grund des § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b FRG zu haben, da in dem polnisch verwalteten Gebiet Ostpreußens landwirtschaftliche Unternehmer nicht mehr wie zur Zeit der deutschen Herrschaft versichert gewesen seien.
Das SG Augsburg hat durch Urteil vom 30. September 1964 den Bescheid der Beklagten vom 11. Dezember 1963 aufgehoben und die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, den Arbeitsunfall der Klägerin vom 12. September 1960 bestimmungsgemäß zu entschädigen.
Das SG hat die Klage ohne nähere Begründung als rechtzeitig angesehen. In der Sache ist es der Ansicht, die Klägerin müsse nunmehr vom deutschen Versicherungsträger entschädigt werden, da die ihr zustehende Unfallrente nur geruht habe; außerdem läge ein Anwendungsfall des § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b FRG vor.
Mit der Berufung hiergegen hat die Beklagte geltend gemacht, das LSG habe verkannt, daß es sich um einen originären Anspruch gegen sie handele, der davon abhänge, ob die Voraussetzungen des § 5 FRG gegeben seien; ein Anwendungsfall dieser Vorschrift liege hier jedoch nicht vor.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 23. November 1966 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt: Die Klage sei rechtzeitig erhoben worden, da die Klagefrist wegen unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung des angefochtenen Bescheides nicht mit dessen Zustellung am 20. Dezember 1963 zu laufen begonnen habe. Das SG Augsburg und nicht das in dieser Belehrung angeführte SG Regensburg sei das für die Klagerhebung zuständige Gericht gewesen (BSG 1, 254). Die Klage sei auch begründet, da die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b FRG gegeben seien. Der nach dem 30. Juni 1944 eingetretene Unfall wäre nach dem im Bundesgebiet geltenden Recht als Arbeitsunfall anerkannt worden. Die Klägerin gehöre auch zum Kreis der Vertriebenen im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) vom 23. Oktober 1961 (BGBL I 1883). In ihrem Herkunftsland habe für sie keine ordnungsmäßig geregelte Unfallversicherung bestanden. Nach dem polnischen Sozialversicherungsgesetz vom 28. März 1933 (vgl. Gesetze osteuropäischer Staaten über die Rentenversicherung, S. 100) seien nur landwirtschaftliche Arbeitnehmer, nicht jedoch landwirtschaftliche Unternehmer versichert gewesen. Somit sei für die Klägerin, die bis 1945 als Unternehmerin bei der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft in Ostpreußen versichert gewesen sei, infolge der Kriegs- und Nachkriegsereignisse eine ordnungsmäßig geregelte Unfallversicherung nicht durchgeführt worden. Die Voraussetzungen für den Erlaß eines Grundurteils seien gegeben.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 2. Januar 1967 zugestellt worden. Sie hat gegen das Urteil am 13. Januar 1967 Revision eingelegt und diese am 1. Februar und 15. März 1967 nach Fristverlängerung gemäß § 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) wie folgt begründet: Die polnische Unfallversicherung, die nach dem angefochtenen Urteil im Zeitpunkt des Unfalls der Klägerin gegolten habe, sei als eine gesetzliche Unfallversicherung im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b FRG anzusehen. Daran ändere es nichts, daß die Klägerin von dem Versicherungsschutz nicht erfaßt gewesen sei; denn sie sei durch das polnische Gesetz nicht wegen ihrer Volkszugehörigkeit als Deutsche diskriminiert oder sonst benachteiligt worden. Das LSG habe den Sachverhalt allerdings nicht ausreichend aufgeklärt; es habe nicht geprüft, ob das seiner Entscheidung zugrunde liegende polnische Sozialversicherungsgesetz vom 28. März 1933 inzwischen in das 1933 noch reichsdeutsch gewesene Gebiet des Kreises O eingeführt worden sei. Ohne Feststellung der in diesem Gebiet bestehenden versicherungsrechtlichen Verhältnisse hätte das LSG die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b FRG im vorliegenden Fall nicht bejahen dürfen. Für einen begründeten Entschädigungsanspruch der Klägerin fehle es auch an deren Zugehörigkeit zum Kreise der Berechtigten im Sinne dieser Vorschrift; denn die im Wege der Familienzusammenführung in das Bundesgebiet gekommene Klägerin könne nicht als Vertriebene angesehen werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 11. Dezember 1963 als unbegründet abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin hat sich auf die ihr zugestellten Schriftsätze der Beklagten nicht geäußert.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision ist zulässig. Sie hatte auch insofern Erfolg, als das Urteil des Berufungsgerichts aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.
Die Frist zur Klageerhebung ist gewahrt. Die gegen den der Klägerin am 20. Dezember 1963 zugestellten Bescheid der Beklagten vom 11. Dezember 1963 gerichtete Klageschrift ist zwar erst am 7. Februar 1964 - gemäß § 91 SGG zulässigerweise - bei der Beklagten eingegangen. Die Klagefrist war in diesem Zeitpunkt aber nicht abgelaufen, da - wie das LSG zutreffend dargelegt hat - die Rechtsbehelfsbelehrung des angefochtenen Bescheides unrichtig ist; als der Sitz des für die Klagerhebung zuständigen SG hätte nicht Regensburg, sondern Augsburg angeführt werden müssen (§ 66 Abs. 2 SGG).
Das LSG hat den von der Klägerin für die Zeit vom 10. April 1963 an geltend gemachten Anspruch auf Unfallrente zu Recht nach den Vorschriften des FRG beurteilt. Da die Klägerin, wie sie selbst nicht in Zweifel zieht, im Zeitpunkt des Unfalls, der sie im polnisch verwalteten Teil Ostpreußens betroffen hat, nicht bei einem polnischen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung versichert war (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a FRG), hängt die Entscheidung über ihren Klaganspruch gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b FRG davon ab, ob ihr der Versicherungsschutz damals versagt war, weil in ihrem Wohngebiet eine ordnungsmäßig geregelte Unfallversicherung nicht durchgeführt war. Diese Frage konnte entgegen der Auffassung des LSG nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen im vorliegenden Streitverfahren nicht abschließend beurteilt werden. Auf Grund des in dem angefochtenen Urteil bisher in tatsächlicher Beziehung festgestellten Sachverhalts ist der Tatbestand der Ausnahmeregelung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b FRG jedenfalls nicht erfüllt. Seine gegenteilige Auffassung leitet das LSG daraus her, daß die Klägerin auf Grund der seit dem Jahre 1945 für sie geltenden Regelung des polnischen Sozialversicherungsgesetzes vom 28. März 1933 keinen Versicherungsschutz als landwirtschaftliche Unternehmerin mehr gehabt habe. Diese Auffassung entspricht nicht dem Sinn des § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b FRG. Nach dieser Vorschrift liegt eine nicht ordnungsmäßig geregelte Unfallversicherung nicht schon dann vor, wenn, wie das LSG meint, eine nachteilige Änderung der gesetzlichen Verhältnisse als Folge der Kriegs- und Nachkriegsereignisse eingetreten ist. Der amtlichen Begründung zu der dem § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b FRG entsprechenden Vorschrift des § 17 Abs. 8 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes vom 7. August 1953 (FAG) und dem Schrifttum hierzu ist zu entnehmen, daß das Fehlen einer ordnungsmäßig geregelten gesetzlichen Unfallversicherung im Gebiet jenseits der Oder/Neiße-Linie anzunehmen ist, wenn einzelne Volksgruppen ungleich behandelt, insbesondere einzelne Personenkreise wegen ihrer Staats- und Volkszugehörigkeit - Deutsche - vom Versicherungsschutz ausgeschlossen oder in irgendeiner Weise, vor allem durch Diskriminierung, benachteiligt werden (vgl. BR-Drucks. Nr. 503/52, S. 53; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-6. Aufl., Bd. I S. 294 k II zu § 17 Abs. 8 FAG; Hoernigk/Jahn/Wickenhagen, Komm. zum Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz, Bd. 2, S. 104 Nr. 13 zu § 5 FRG; Jantz/Zweng/Eicher, Erläuterungen zum neuen Fremdrenten- und Auslandsrentenrecht, 2. Aufl., S. 23 Nr. 13 zu § 5 FRG); in diesem Sinne hat sich der erkennende Senat bereits ausgesprochen (vgl. BSG 10, 56, 58). Von einer derartigen Benachteiligung der Klägerin kann nach den eigenen Ausführungen des angefochtenen Urteils auf Grund des polnischen Gesetzes vom 28. März 1933 nicht die Rede sein; denn dieses Gesetz kennt keine Unterschiede zwischen Einheimischen polnischer und solchen fremder Nationalität.
Das Berufungsurteil erregt rechtliche Bedenken aber auch insoweit, als sich das LSG damit begnügt hat, in dem aus dem Jahre 1933 stammenden Sozialversicherungsgesetz die maßgebliche Grundlage für die Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b FRG zu sehen. Die Revision weist zu Recht auf die staatlichen und politischen Veränderungen Polens seit dem Jahre 1945 hin. Das angefochtene Urteil läßt nicht erkennen, daß das LSG die Frage ausreichend geprüft hat, ob das alte Gesetz hinsichtlich der für die Klägerin in Betracht kommenden Regelung des Versicherungsschutzes noch im Jahre 1960 unverändert galt. Jedenfalls hat es mit der Anführung der "Gesetze osteuropäischer Staaten über die Rentenversicherung, herausgegeben vom Verband deutscher Rentenversicherungsträger", als Gesetzesquelle nicht seiner sich aus § 293 der Zivilprozeßordnung in Verbindung mit § 202 SGG ergebenden Pflicht genügt, die in dem polnisch verwalteten Teil Ostpreußens zur Unfallzeit geltenden, den Unfallversicherungsschutz der in der Landwirtschaft tätigen Personen betreffenden Rechtsnormen zu ermitteln. Nach diesen Vorschriften oblag es dem LSG, zur Ermittlung der fremdländischen Rechtsnormen alle ihm zugänglichen Rechtsquellen auszuschöpfen. Daß sich das LSG dieser Pflicht unterzogen hätte, etwa durch eine Anfrage beim Institut für Ostrecht in München, ist aus den Unterlagen nicht zu erkennen. Auch insoweit leidet das Berufungsurteil an einem Rechtsfehler, welcher der Nachprüfung im Revisionsverfahren zugänglich ist (vgl. RGZ 126, 196, 202; NJW 1961, 410, 411 Ziff. 4; Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 9. Aufl., § 112 IV a. E., S. 548).
Da sich für das LSG die Frage nach der Anwendbarkeit des § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b FRG erst hätte aufstellen können, wenn es seiner Aufgabe nachgekommen wäre, das zur Zeit des Unfalls der Klägerin geltende polnische Unfallversicherungsrecht in vollem Umfange zu ermitteln, erscheint es tunlich, ihm vorzubehalten, die erforderlichen Ermittlungen nachzuholen und nach deren Abschluß unter Berücksichtigung der vorstehend zur Auslegung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b FRG dargelegten rechtlichen Gesichtspunkte über den Klaganspruch zu entscheiden.
Die Vertriebeneneigenschaft der Klägerin hat das LSG zu Recht auf Grund des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG bejaht. Entgegen der Meinung der Revision sind von dieser Regelung die Fälle der Aussiedlung umfaßt, auch wenn sich wie bei der Klägerin der Gebietswechsel im Wege der Familienzusammenführung vollzieht. Daß die Klägerin als Vertriebene im Sinne des § 1 BVFG gemäß § 1 Buchst. a FRG im Bundesgebiet anerkannt ist, unterliegt keinem Zweifel, da sie im Besitz des Vertriebenenausweises A ist (vgl. Jantz/Zweng/Eicher aaO S. 3 Anm. 4 zu § 1 FRG).
Hiernach war das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen