Leitsatz (amtlich)
Wird die Verletztenrente (Teilrente) eines Schwerverletzten, der Anspruch auf Kinderzulage nach RVO § 583 Abs 1 hat, gemäß RVO § 587 auf die Vollrente erhöht, so wird auch die Kinderzulage nach der Vollrente berechnet.
Normenkette
RVO § 583 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 587 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Februar 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten der Revisionsinstanz zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Kinderzulage zur Verletztenrente des Klägers an deren zeitweiliger Erhöhung auf die Vollrente wegen unfallbedingter Arbeitslosigkeit nach § 587 der Reichsversicherungsordnung (RVO) teilzunehmen hat.
Nach einem Arbeitsunfall, den der Kläger während seines Studiums erlitten hatte, hatte die Beklagte mit Bescheid vom 25. Februar 1965 die Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. zuzüglich einer Kinderzulage von 10 v.H. festgestellt. Da der Kläger nach Beendigung seines Studiums wegen der Unfallfolgen zunächst ohne Arbeitseinkommen war, gewährte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 7. Juni 1966 für die Zeit vom 1. August bis zum 31. Dezember 1965 die Vollrente gemäß § 587 RVO, lehnte jedoch eine entsprechende Erhöhung der Kinderzulage mit der Begründung ab, diese Vorschrift sehe die Erhöhung der Teilrente lediglich für den Verletzten selbst vor und enthalte auch keine Verweisung auf § 583 Abs. 1 RVO.
Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat mit Urteil vom 14. Februar 1967 die Beklagte unter Abänderung dieses Bescheides verurteilt, dem Kläger zu der nach § 587 RVO erhöhten Unfallrente auch die erhöhte Kinderzulage zu zahlen. Zur Begründung wird ausgeführt, die Kinderzulage teile kraft ihrer akzessorischen Natur das Schicksal der Rente und nehme deshalb auch an deren Erhöhung nach § 587 RVO teil. Das SG hat die Berufung zugelassen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil unter Zulassung der Revision zurückgewiesen. Es hält den Anspruch des Klägers auf Kinderzulage in Höhe von 10 v.H. der Vollrente schon nach dem Gesetzeswortlaut für begründet. Nach § 583 Abs. 1 RVO betrage die Kinderzulage 10 v.H. der Verletztenrente; Verletztenrente sei die Vollrente ebenso wie die Teilrente. Die gemäß § 587 RVO gewährte Leistung sei aber die Vollrente; der Gesetzgeber habe in dieser Vorschrift für die Erhöhung nicht den Weg einer Zulage zur Teilrente gewählt, sondern die Gewährung der Vollrente angeordnet. Demnach sei die Kinderzulage in Höhe eines Zehntels der Vollrente, nicht der Teilrente, zu gewähren. Das entspreche auch der Systematik und dem Sinn der gesetzlichen Regelung. Die Kinderzulage diene dem Ausgleich der erhöhten Aufwendungen, die dem Verletzten durch den Unterhalt eines Kindes erwüchsen und die er infolge der Erwerbsbeschränkung nicht mehr durch eigenes Erwerbseinkommen bestreiten könne; sie erhöhe sich daher auch bei steigender MdE. Nach § 587 RVO sei aber dem Verletzten bei unfallbedingter Arbeitslosigkeit die Vollrente ebenso zu gewähren wie bei völligem Verlust seiner Erwerbsfähigkeit, weil er in beiden Fällen auf Grund der Unfallfolgen gleichermaßen außerstande sei, für seinen Lebensunterhalt durch eine Erwerbstätigkeit selbst zu sorgen. Ebenso sei aber auch in beiden Fällen das Leistungsvermögen für den Unterhalt der Kinder in gleicher Weise beeinträchtigt. Es sei daher konsequent, bei unfallbedingter Arbeitslosigkeit nicht allein die Vollrente, sondern auch die Kinderzulage in Höhe eines Zehntels der Vollrente zu gewähren. Einer ausdrücklichen Verweisung des § 587 RVO auf § 583 RVO bedürfe es nicht, da eine begriffliche Anknüpfung gegeben sei.
Mit der Revision rügt die Beklagte unrichtige Anwendung der §§ 583, 587 RVO. Nach § 587 Abs. 1 RVO sei unter den dort beschriebenen Voraussetzungen nicht etwa die Vollrente zu gewähren, sondern die Teilrente auf die Vollrente zu erhöhen; das Gesetz stelle also die hiernach zu zahlende Rente nicht der nach § 581 Abs. 1 Nr. 1 RVO zu gewährenden Vollrente, die den völligen Verlust der Erwerbsfähigkeit voraussetze, gleich. Bei dem Wortlaut des § 583 Abs. 1 RVO, wonach sich die Verletztenrente um 10 v.H. (Kinderzulage) erhöht, solange der Verletzte eine Rente von 50 oder mehr v.H. bezieht, könne es den Anschein haben, auch eine über § 587 Abs. 1 RVO erhöhte Rente sei voll in diese Regelung einzubeziehen. Dem widerspreche jedoch der Umstand, daß § 583 Abs. 1 RVO nicht nur die Voraussetzungen für die Gewährung der Kinderzulage bestimme, sondern zugleich eine für die ganze Rechtsmaterie geltende Definition des Begriffes "Schwerverletzter" gebe. Für die Gewährung der Kinderzulage bestimme § 583 Abs. 1 RVO inhaltlich nur, daß sich bei einem Schwerverletzten die Verletztenrente für jedes Kind um 10 v.H. erhöhe. Dabei sei das nach § 587 Abs. 1 RVO zu gewährende Mehr an Leistungen nicht in die Berechnung der Kinderzulage einzubeziehen. Der unter § 587 Abs. 1 RVO fallende Verletzte sei, obgleich er rein betragsmäßig eine "Rente" beziehe, die höher als 50 v.H. der Vollrente ist, nicht als Schwerverletzter i.S. der Legaldefinition anzusehen; dieser Status hänge vielmehr allein von der Höhe seiner MdE ab. Ein Versicherter mit einer MdE unter 50 v.H. könne daher auch bei einer Erhöhung seiner Teilrente auf die Vollrente nach § 587 Abs. 1 RVO überhaupt keine Kinderzulage erhalten. Demgemäß sei für einen Verletzten mit einer höheren MdE auch bei einer solchen Erhöhung die Kinderzulage nur nach der über § 581 RVO festgestellten Teilrente zu berechnen. Eine unterschiedliche Behandlung der beiden Gruppen von Rentenbeziehern derart, daß die erste Gruppe keine, die zweite Gruppe aber eine nach der erhöhten Rente berechnete Kinderzulage erhalte, finde schon aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz im Gesetz keine Stütze. Gegen die Auffassung des LSG spreche ferner die Erwägung, daß auch Leistungskürzungen (z.B. wegen Heilanstaltspflege) die Kinderzulage nicht berührten.
Die vom LSG vertretene Auffassung könne auch nicht aus dem Gesetzeszweck hergeleitet werden; aus der Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente nach § 587 sei nicht zu folgern, daß der Gesetzgeber die Arbeitslosigkeit dem Verlust der Erwerbsfähigkeit völlig gleichstellen wolle; unterschiedliche Rechtsfolgen hinsichtlich der Kinderzulage seien durchaus mit der Systematik und dem Sinn des Gesetzes vereinbar. Es sei dabei zu berücksichtigen, daß die Erhöhung nach § 587 RVO regelmäßig nur für einen vorübergehenden Zeitraum in Betracht komme und daß nach § 587 Abs. 2 RVO die erhöhte Leistung nicht auf Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe anzurechnen sei.
Gegen die Verknüpfung der Leistungserhöhung nach § 587 RVO mit der Regelung des § 583 RVO spreche ferner auch die Stellung der Vorschrift im Gesetz. Schließlich müsse die vom LSG praktizierte Rechtsanwendung dazu führen, daß in den Fällen des § 587 RVO auch die Witwenbeihilfe zu zahlen wäre, wenn der Versicherte während der Arbeitslosigkeit ohne Zusammenhang mit den Unfallfolgen sterben würde, da der Begriff des Schwerverletzten nur einheitlich ausgelegt werden könne.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des Sozialgerichts Dortmund vom 14. Februar 1967 die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
II
Die Revision ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben zu Recht erkannt, daß für die Zeit, während der die Verletztenrente des Klägers wegen unfallbedingter Arbeitslosigkeit nach § 587 Abs. 1 RVO auf die Vollrente erhöht war, die Kinderzulage auch nach der Vollrente zu berechnen ist.
Daß sich der Unfall des Klägers bereits vor Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 ereignet hat, steht der Anwendung der hier in Betracht kommenden Vorschriften neuen Rechts nicht entgegen, da § 587 Abs. 1 RVO n.F. gemäß Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG auch für früher eingetretene Unfälle gilt und § 583 Abs. 1 RVO n.F. dem § 559 b Abs. 1 RVO in der zur Unfallzeit maßgeblichen Fassung entspricht.
Nach § 583 Abs. 1 RVO erhöht sich, solange der Verletzte eine Rente von 50 oder mehr v.H. der Vollrente bezieht (Schwerverletzter), die Verletztenrente für jedes Kind um 10 v.H. (Kinderzulage). Nach § 587 Abs. 1 RVO ist die Teilrente auf die Vollrente zu erhöhen, solange der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen ist. Da die Kinderzulage einen bestimmten Prozentsatz des Betrages der Verletztenrente - gleich, ob es sich um Teilrente oder Vollrente handelt - ausmacht, die Verletztenrente unter den Voraussetzungen des § 587 Abs. 1 RVO aber in Höhe der Vollrente gewährt wird, spricht schon der Gesetzeswortlaut eher für die Auffassung der Vordergerichte, daß sich die Höhe der Kinderzulage in einem solchen Fall nach der Vollrente bestimmt. Dem widerspricht auch nicht die Reihenfolge der Vorschriften im Gesetz. Der rein äußerliche Umstand, daß § 587 nicht vor § 583 RVO eingeordnet ist, sondern eine etwas isolierte Stellung am Schluß des Abschnitts "Renten an Verletzte" einnimmt, läßt keineswegs auf den Willen des Gesetzgebers schließen, die Aufstockung der Rente solle ohne jeden Einfluß auf die Rentengewährung nach den vorhergehenden Vorschriften bleiben. Einer systematischen Betrachtungsweise entspricht es vielmehr, zunächst einmal die Höhe der Verletztenrente - d.h. der Hauptleistung - festzustellen und danach erst die Kinderzulage zu berechnen. Der akzessorische Charakter der Kinderzulage und ihre Gestaltung als prozentualer Zuschlag sprechen dann aber dafür, sie auch an der Aufstockung der Rente nach § 587 RVO teilnehmen zu lassen. Dem entspricht vor allem auch der Sinn und Zweck der beiden Vorschriften. Wenn - unter Durchbrechung des Grundsatzes der rein abstrakten Schadensberechnung - aus sozialen Gründen einerseits dem Schwerverletzten eine Kinderzulage zur Rente gewährt und andererseits dem Teilrentner bei unfallbedingter Erwerbslosigkeit die Rente in Höhe der Vollrente - also in gleicher Höhe wie bei Erwerbsunfähigkeit - zugebilligt wird, so spricht das für die Annahme, daß die Kinderzulage ebenso an dieser Erhöhung teilnehmen soll wie bei einer entsprechenden Erhöhung der Rente wegen erhöhter MdE. In beiden Fällen ist mit der Unfähigkeit, den eigenen Unterhalt zu erwerben, die Unfähigkeit verbunden, selbst für den Unterhalt der Kinder zu sorgen. Der Einwand der Beklagten, ein unter § 587 RVO fallender Teilrentner sei im Vergleich zu einem erwerbsunfähigen Vollrentner in geringerem Maße benachteiligt, weil seine Erwerbslosigkeit regelmäßig nur ein vorübergehender Zustand sei und weil außerdem die nach § 587 RVO erhöhte Leistung nicht auf die Leistungen der Arbeitslosenversicherung angerechnet wird, kann schon deshalb nicht überzeugen, weil die Erhöhung nach § 587 RVO nur dem Rentner zugute kommt, der tatsächlich ohne Arbeitseinkommen ist, während viele echte Vollrentner noch in der Lage sind, ein gewisses - teilweise sogar vollwertiges - Arbeitseinkommen zu erzielen. Im übrigen wäre die von der Beklagten angestellte Erwägung auch keineswegs geeignet, eine Einschränkung der Vergünstigung gerade hinsichtlich des Kinderzuschlags zu rechtfertigen.
Im Grunde wendet sich die Revision gegen die Auffassung, daß die Aufstockung der Rente nach § 587 Abs. 1 RVO die den Anspruch auf Kinderzulage rechtfertigende Schwerverletzteneigenschaft begründe. Sie verkennt dabei aber, daß es im vorliegenden Fall auf diese Frage gar nicht ankommt. Der Kläger ist Schwerverletzter und sein Anspruch auf Kinderzulage dem Grunde nach unstreitig; sie ist ihm durch den Bescheid vom 25. Februar 1965 zu seiner Teilrente in Höhe von 50 v.H. der Vollrente ausdrücklich bewilligt worden. Die Frage, ob auch der Verletzte, der nur eine Teilrente von weniger als 50 v.H. der Vollrente bezieht, bei Aufstockung dieser Rente auf die Vollrente nach § 587 RVO einen Anspruch auf Kinderzulage erlangt, kann daher hier offen bleiben. Auch wenn man mit der Beklagten davon ausgeht, daß der Status als Schwerverletzter - und damit der Anspruch auf Kinderzulage - ausschließlich an den Verletzungszustand geknüpft ist, der sich unmittelbar aus den Unfallfolgen ergibt, so folgt daraus doch nicht, daß auch die Höhe der Kinderzulage ausschließlich nach der festgestellten MdE des Verletzten zu berechnen wäre. Die Schwerverletzteneigenschaft ist nach § 583 Abs. 1 RVO lediglich die Voraussetzung dafür, daß überhaupt Kinderzulage gewährt wird, während sich deren Höhe nach der tatsächlich gewährten Verletztenrente richtet. Es wäre an sich zwar denkbar, bei der nach § 587 Abs. 1 RVO gewährten Rente zwischen dem nach der MdE festgestellten Rententeil und dem aus sozialen Gründen aufgestockten Rententeil zu unterscheiden (vgl. Urteil des 7. Sen. zu § 587 Abs. 2 RVO - BSG 27, 297) und nur den erstgenannten Teil als "die Verletztenrente" im Sinne des letzten Satzteils des § 583 Abs. 1 RVO anzusehen; eine solche Konstruktion ist aber - wie oben ausgeführt - weder nach Wortlaut und Systematik noch nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift geboten.
Da es demnach für die hier streitige Frage offen bleiben kann, ob eine Rentenerhöhung nach § 587 RVO die Schwerverletzteneigenschaft begründet, bedarf es keines Eingehens auf die Ausführungen der Revision dazu, daß die Schwerverletzteneigenschaft durch die Leistungskürzung bei Heilanstaltspflege nicht berührt wird, sowie auf ihre Erwägungen zu den möglichen Folgen einer solchen Gesetzesauslegung für die Gewährung der Witwenbeihilfe nach § 600 RVO. Sollte diese Gesetzesanwendung dazu führen, daß unter den Voraussetzungen des § 587 Abs. 1 RVO der Nichtschwerverletzte auch weiterhin keine Kinderzulage, dagegen der Schwerverletzte eine erhöhte Kinderzulage erhält, so läge darin jedenfalls keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes; wer überhaupt keinen Anspruch auf eine bestimmte Leistung hat, kann naturgemäß auch von einer Erhöhung dieser Leistung nicht betroffen werden. Daß unter Umständen bei der Kinderzulage hinsichtlich ihrer Gewährungsvoraussetzungen einerseits und der Berechnung ihrer Höhe andererseits von unterschiedlichen Rentengrößen auszugehen ist, hat bereits das frühere Reichsversicherungsamt erkannt; nach der Grundsätzlichen Entscheidung 4757 (AN 1934, IV 141) ist dann, wenn die Unfallrente nur zusammen mit einem abgefundenen Rententeil mindestens 50 v.H. beträgt, zwar die Kinderzulage zu gewähren, jedoch nur nach dem nicht abgefundenen Rententeil zu berechnen (s. Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., § 559 b Anm. 4; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 6. Aufl. Bd. II S. 579).
Die Revision war daher zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen