Leitsatz (amtlich)
Zur Versicherungsfreiheit wissenschaftlicher Hilfskräfte an Hochschulen vor ihrer Bestellung zu wissenschaftlichen Assistenten (Fortführung von BSG 1978-05-31 12 RK 62/76 = SozR 5750 Art 2 § 46 Nr 3).
Normenkette
AVG § 12 Abs 1 Nr 4 Fassung: 1924-04-28; AnVNG Art 2 § 44a Abs 3 S 1 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art 2 § 46 Abs 3 S 1 Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 21.06.1978; Aktenzeichen L 13 An 119/77) |
SG Nürnberg (Entscheidung vom 21.04.1977; Aktenzeichen S 8 An 148/76) |
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger berechtigt ist, nach Art 2 § 44a Abs 3 Satz 1 des Angestelltenversicherungs- Neuregelungsgesetzes (AnVNG) Beiträge für Zeiten nachzuentrichten, in denen er an einer Hochschule als wissenschaftliche Hilfskraft beschäftigt war.
Der Kläger, der im Jahre 1936 die Diplomhauptprüfung als Ingenieur abgelegt hatte, war vom 19. Februar 1938 ab zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter und seit dem 1. Mai 1938 als wissenschaftliche Hilfskraft an der Technischen Hochschule (TH) M beschäftigt. Diese Beschäftigung erfolgte bis zur Ernennung zum wissenschaftlichen Assistenten am 1. Juli 1941 jeweils unter Verlängerung des laufenden Dienstvertrages oder unter Abschluß eines neuen sowie vorwiegend gegen eine monatliche Vergütung von 250,-- RM oder eine Grundvergütung von jährlich 3.400,-- RM und einen Wohnungsgeldzuschuß. Die Beschäftigung als wissenschaftlicher Assistent dauerte, durch Wehrdienst unterbrochen, bis 30. April 1947. Für die Zeit vom 1. Juli 1945 bis 30. April 1947 wurde der Kläger mit Ausnahme eines nicht mehr streitigen Zeitraumes, in dem er von der Militärregierung formell des Dienstes enthoben war, gemäß § 18 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF nachversichert.
Auf den Antrag des Klägers vom 11. Dezember 1972 ließ die Beklagte die Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 44a Abs 3 Satz 1 AnVNG für die Zeit ab 1. Juli 1941 zu, lehnte dies jedoch für die vorhergehende Zeit mit der Begründung ab, daß in diesen Zeiten Versicherungsfreiheit wegen wissenschaftlicher Ausbildung gemäß § 12 Abs 1 Nr 4 AVG aF nicht bestanden habe (Bescheid vom 12. August 1975). Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 5. Mai 1976; Urteil des Sozialgerichts -SG- Nürnberg vom 21. April 1977). Auf die Berufung des Klägers hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides abgeändert. Es hat die Beklagte verurteilt, die Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 44a Abs 3 Satz 1 AnVNG für die Zeit vom 1. Februar 1938 bis 30. Juni 1941 zuzulassen. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 21. Juni 1978). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, der Kläger habe in der streitigen Zeit vom 1. Februar 1938 bis 30. Juni 1941 bereits weitgehend die Bezüge sowie die Pflichten eines wissenschaftlichen Assistenten während der ersten vier Jahre der Beschäftigung gehabt, für die nach einem Erlaß des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft und Volksbildung vom 28. Februar 1936 Versicherungsfreiheit gemäß § 12 Abs 1 Nr 4 AVG aF bestanden habe. Die Ansicht der Beklagten, dies sei nicht der Fall, weil wissenschaftliche Hilfskräfte ohnedies versicherungsfrei gewesen seien, sei nicht zwingend. Versicherungsfreiheit nach § 10 AVG aF (bei vorübergehender Dienstleistung) scheide aus, denn das damalige Beschäftigungsverhältnis des Klägers falle nicht unter diese Bestimmung. Auch ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nach § 1 AVG aF könne nicht verneint werden. Der Kläger habe nach der Art seiner Beschäftigung auch noch in der wissenschaftlichen Ausbildung für seinen zukünftigen Beruf gestanden. Wenn dies nach dem genannten Erlaß für die ersten vier Jahre seiner Assistentenzeit anzunehmen sei, gelte dies erst recht für die vorausgegangene, näher an die Hochschulzeit heranreichende Zeit. Damit sei die streitige Zeit vor dem 1. Juli 1941 einerseits als Ausfallzeit gemäß § 36 Abs 1 Nr 4 AVG nicht mehr honorierbar, andererseits als Beitragszeit nicht anzurechnen, weil primär aus Gründen der damaligen wissenschaftlichen Ausbildung Beiträge nicht hätten entrichtet werden können.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des Art 2 § 44a Abs 3 Satz 1 AnVNG und des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Beschäftigung des Klägers als wissenschaftliche Hilfskraft sei nicht gleich der Beschäftigung eines beamteten wissenschaftlichen Assistenten in den ersten vier Jahren versicherungsfrei nach § 12 Abs 1 Nr 4 AVG aF gewesen. Der Erlaß vom 28. Februar 1936 zeige, daß Akademiker nicht schlechthin nach dieser Vorschrift versicherungsfrei geblieben seien. Dem Beginn der Zusicherung von Versorgungsanwartschaften seien vier Jahre einer wegen wissenschaftlicher Ausbildung versicherungsfreien Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent oder Verwalter einer Assistentenstelle vorausgegangen. Auf diesen Zeitraum habe der Dienstherr nicht jede Tätigkeit im universitären Bereich angerechnet. Beim Kläger sei erst die Zeit ab 1. Juli 1941 in die Berechnung einbezogen worden, woraus zu schließen sei, daß die davor liegenden Zeiten als wissenschaftliche Hilfskraft nicht mit der im Erlaß festgelegten wissenschaftlichen Ausbildung und der daraus resultierenden Versicherungsfreiheit vergleichbar seien. Würde die Auffassung des LSG zutreffen, dann wäre der vierjährige Zeitraum der Versicherungsfreizeit gemäß § 12 Abs 1 Nr 4 AVG aF bereits am 31. Januar 1942 erfüllt gewesen und die Nachversicherung gemäß § 18 AVG aF hätte am 1. Februar 1942 beginnen müssen.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG im Umfang ihrer Verurteilung aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG auch insoweit zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist im wesentlichen unbegründet.
Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Kläger nach Art 2 § 44a Abs 3 Satz 1 AnVNG auch für den Zeitraum nachentrichtungsberechtigt ist, in dem er vor seiner Ernennung zum wissenschaftlichen Assistenten an der TH M als wissenschaftlicher Mitarbeiter und später als Hilfskraft beschäftigt war. Es hat jedoch übersehen, daß der Kläger aufgrund seines vorherigen Beschäftigungsverhältnisses versicherungspflichtig gewesen war und bis einschließlich Februar 1938 Pflichtbeiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet hatte. Für diesen Kalendermonat ist daher die Nachentrichtung ausgeschlossen.
Nach Art 2 § 44a Abs 3 Satz 1 AnVNG können Personen, die vor dem 1. März 1957 während der wissenschaftlichen Ausbildung für ihren künftigen Beruf nicht pflichtversichert waren, auf Antrag abweichend von § 140 AVG für die Zeiten der Versicherungsfreiheit, längstens jedoch bis zum 1. Januar 1924 zurück, Beiträge nachentrichten, soweit diese Zeiten nicht bereits mit Beiträgen belegt sind.
Der Kläger hat entgegen der Auffassung der Beklagten die Voraussetzungen des Art 2 § 44a Abs 3 AnVNG nicht erst ab dem Zeitpunkt seiner Ernennung zum wissenschaftlichen Assistenten am 1. Juli 1941 erfüllt, denn er war schon vom Beginn seiner hier fraglichen Beschäftigung an versicherungsfrei nach § 12 Abs 1 Nr 4 AVG aF. Wie der erkennende Senat bereits wiederholt entschieden hat, ist es für die Frage der Versicherungsfreiheit wissenschaftlicher Mitarbeiter im Hochschulbereich vor dem 1. März 1957 unerheblich, ob diese Personen eine planmäßige Assistentenstelle innehatten, sofern die Tätigkeit der eines planmäßigen Assistenten gleich oder ähnlich war (Urteil vom 31. Mai 1978 - 12 RK 62/76 - SozR 5750 Art 2 § 46 Nr 3 -; Urteil vom 24. Oktober 1978 - 12 RK 9/77 -). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Der Erlaß des ehemaligen Reichsministers für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung vom 28. Februar 1936 (EuM 39, 374) vermag die gegenteilige Auffassung der Beklagten nicht zu stützen. Dieser Erlaß bestimmte, daß die Assistenten an wissenschaftlichen Hochschulen in den ersten vier Jahren ihrer Beschäftigung gemäß § 12 Abs 1 Nr 4 AVG aF versicherungsfrei zu lassen seien, da diese Zeit als Ausbildungszeit für den zukünftigen Beruf anzusehen sei. Unter den Begriff "Assistenten" fielen, wie weiter bestimmt wurde, die Assistenten und Oberassistenten mit planmäßiger Vergütung sowie die Oberärzte und Oberingenieure, die Assistenten mit außerplanmäßiger Vergütung und die mit der Verwaltung einer planmäßigen oder außerplanmäßigen Oberassistentenstelle, Oberarztstelle, Oberingenieurstelle oder Assistentenstelle beauftragten Personen. Auf wissenschaftliche Hilfskräfte (mit dem Klammerzusatz "Stundenassistenten usw") sollte diese Regelung keine Anwendung finden, und zwar mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß diese Hilfskräfte "ohnehin versicherungsfrei" seien. Worauf diese Versicherungsfreiheit seinerzeit gestützt wurde, hält die Beklagte heute nicht mehr für feststellbar. Sie nimmt an, daß wissenschaftliche Hilfskräfte entweder nicht versicherungspflichtig (§ 1 AVG aF) oder versicherungsfrei gemäß § 10 AVG aF gewesen seien (Bl 66 der BfA-Akte). Dem kann nicht beigepflichtet werden. Der Erlaß vom 28. Februar 1936 ging nämlich davon aus, daß den Assistenten nach einer Beschäftigung von vier Jahren in dieser Dienststellung von seiten des Staates eine Anwartschaft auf Ruhegeld eingeräumt wurde und aufgrund dessen Versicherungsfreiheit nach § 11 Abs 1 AVG aF eintrat. Die ersten vier Jahre betrachtete man als Übergangsstadium, das von der beamtenrechtlichen Versorgungsanwartschaft ausgeklammert und statt dessen als versicherungsfreie wissenschaftliche Ausbildung qualifiziert wurde. Diese Regelung - Einräumung einer Versorgungsanwartschaft nach vierjähriger Tätigkeit als "Assistent" im Sinne des Erlasses, wobei dieser Tätigkeit eine "ohnehin versicherungsfreie" Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft vorausgehen konnte - paßte nicht für wissenschaftliche Hilfskräfte, die länger als vier Jahre als solche beschäftigt wurden, ohne förmlich zu "Assistenten" ernannt zu sein. Deshalb wurde mit dem - nicht veröffentlichten - Ergänzungserlaß vom 14. Februar 1937 (- WA 2703/37, WD -) klargestellt, daß unter den im Erlaß vom 28. Februar 1936 genannten "wissenschaftlichen Hilfskräften (Stundenassistenten)" nur solche Hilfskräfte zu verstehen seien, die nicht länger als vier Jahre beschäftigt werden. Wurde dieser Zeitrahmen überstiegen, waren auch diese Hilfskräfte versicherungsrechtlich wie die wissenschaftlichen Assistenten zu behandeln. Infolgedessen kann dem Hinweis, daß wissenschaftliche Hilfskräfte "ohnehin" versicherungsfrei seien, jedenfalls nicht entnommen werden, für sie könne Versicherungsfreiheit nach § 12 Abs 1 Nr 4 AVG aF nicht vorgelegen haben. Zum anderen läßt sich die Auffassung der Beklagten, die im Erlaß angesprochene Versicherungsfreiheit der wissenschaftlichen Hilfskräfte bedeute entweder fehlende Versicherungspflicht nach § 1 AVG aF oder Versicherungsfreiheit nach § 10 AVG aF, mit der Systematik des Rentenversicherungsrechts nicht vereinbaren. Da es sich bei wissenschaftlichen Hilfskräften auch um Personen handeln konnte, die abhängig und gegen Entgelt beschäftigt waren, und überdies das Vorliegen oder Nichtvorliegen der Voraussetzungen einer versicherungspflichtigen Beschäftigung stets nach den tatsächlichen Gegebenheiten des Einzelfalles zu beurteilen ist, erscheint es ausgeschlossen, daß in dem Erlaß für diesen Personenkreis Versicherungspflicht nach § 1 AVG aF generell als nicht gegeben unterstellt wurde. Das gleiche gilt für die Versicherungsfreiheit nach § 10 AVG aF. Auch diese konnte nur anhand der Gegebenheiten des einzelnen Falles entschieden werden; darauf deutet auch die Erwähnung der "Stundenassistenten usw" im Erlaß. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte läßt sich der Hinweis auf die "ohnehin" bestehende Versicherungsfreiheit der wissenschaftlichen Hilfskräfte in dem Erlaß vom 28. Februar 1936 nur so verstehen, daß seinerzeit diese Versicherungsfreiheit zwar bei einem bestimmten Kreis von wissenschaftlichen Hilfskräften unterstellt wurde, nämlich bei solchen, die (sofern überhaupt die Voraussetzungen einer abhängigen Beschäftigung iS des § 1 AVG aF vorlagen) wegen vorübergehender Dienstleistungen iS des § 10 AVG aF versicherungsfrei waren, daß jedoch in anderen Fällen - vor allem bei längerbeschäftigten Hilfskräften - Versicherungsfreiheit nach § 12 Abs 1 Nr 4 AVG aF vorliegen konnte, die dann nach dem genannten Ergänzungserlaß vom 14. Februar 1937 zur Gleichstellung mit den eigentlichen "Assistenten" führte. Offensichtlich wurde dies auch von der TH München so verstanden, wie sich aus deren Schreiben vom 3. Mai 1968 an den Kläger ergibt (Bl 61 der BfA-Akte). Das LSG war daher nicht gehalten, weitere Ermittlungen darüber anzustellen, wie wissenschaftliche Hilfskräfte damals versicherungsrechtlich beurteilt wurden.
Der Kläger war, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, während seiner Beschäftigung als wissenschaftliche Hilfskraft nicht etwa nach § 10 AVG aF versicherungsfrei. Seine einzelnen Dienstverträge umfaßten jeweils längere Zeiträume als drei Monate und das monatliche Entgelt überstieg durchschnittlich 100 RM (VO vom 9. Februar 1923 - RGBl I 109 - idF vom 19. Dezember 1931/23. März 1939 - RGBl I 635-). Aus den Dienstverträgen ergibt sich auch, daß der Kläger weisungsgebunden gegenüber dem Lehrstuhlinhaber und Institutsvorstand, also abhängig beschäftigt war. Seine Versicherungspflicht entfiel daher nicht schon mangels eines Beschäftigungsverhältnisses nach § 1 AVG aF. Dem der Entscheidung des LSG zugrunde liegenden Sachverhalt - insbesondere dem Zeugnis des Lehrstuhlinhabers und Institutsleiters Prof. Dr. L vom 7. April 1949 - läßt sich ferner entnehmen, daß der Kläger in dem gesamten Zeitraum von 1938 bis 1947 wie ein Assistent tätig war. Er war deshalb während seiner Beschäftigung als wissenschaftliche Hilfskraft (einschließlich der Beschäftigung als wissenschaftlicher Mitarbeiter) versicherungsfrei nach § 12 Abs 1 Nr 4 AVG aF mit der Folge, daß er auch für die Zeit vom 1. März 1938 bis 30. Juni 1941 zur Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 44a Abs 3 AnVNG berechtigt ist.
Das Urteil des LSG ist sonach nur hinsichtlich des Monats Februar 1938 aufzuheben. Im übrigen ist die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen