Leitsatz (redaktionell)
War der Rechtsuchende vor dem SG durch einen Bevollmächtigten vertreten, so ist die Nichtberücksichtigung dieser Tatsache in der 2. Instanz, auch wenn der Kläger selbst Berufung einlegte und ohne Bevollmächtigten vor dem Senat mündlich verhandelt, Verfahrensmangel, es sei denn, der Rechtsuchende hätte seinen Willen, nicht mehr vertreten zu sein, ausdrücklich geäußert. Auf den Inhalt der schriftlich erteilten Vollmacht kommt es dabei nicht an.
Normenkette
SGG § 73 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. April 1966 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beklagte entzog durch Bescheid vom 22. August 1962 die dem Kläger von Juli 1953 an bewilligte Invalidenrente. Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid aufgehoben.
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen.
Der Kläger hat gleichwohl dieses Rechtsmittel eingelegt. Er rügt als wesentliche Mängel im Verfahren des Berufungsgerichts, die zur Statthaftigkeit der Revision führen sollen, Verletzung der §§ 62, 73 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), § 81 der Zivilprozeßordnung (ZPO).
Er beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Die vom LSG nicht zugelassene Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; denn der Kläger hat wesentliche Mängel im Verfahren des LSG gerügt, die auch vorliegen (BSG 1, 150). Das Berufungsgericht hat bei seinem Verfahren die Vorschriften des § 73 Abs. 3 Satz 1 SGG, des § 8 Abs. 4 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) sowie die Bestimmung des § 210 a Abs. 1 Satz 1 ZPO i. V. m. § 202 SGG nicht beachtet.
Der Kläger hat im Verfahren vor dem SG Vertretern des Verbandes der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands, Landesverband Bayern e. V. schriftlich Prozeßvollmacht erteilt. Die Bevollmächtigten haben unter Einreichen der Vollmacht zu den Akten die Klage beim SG erhoben und sind im Verfahren vor dem SG als Prozeßbevollmächtigte des Klägers aufgetreten. Ihnen ist auch das Urteil des SG zugestellt worden. Das LSG aber hat die Berufungsschrift der Beklagten und die weiteren Mitteilungen des Gerichts, insbesondere auch die Ladung zur mündlichen Verhandlung am 14. April 1966, nur dem Kläger persönlich zugestellt. Die Prozeßbevollmächtigten des Klägers sind im Berufungsverfahren nicht aufgetreten. Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung allein erschienen; nachdem er erklärt hatte, daß er sich für berufsunfähig halte, hat er beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen. Auf Antrag der Beklagten hat das LSG in dem angefochtenen Urteil auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; es hat sein Urteil ebenfalls dem Kläger persönlich zugestellt.
Mit Recht rügt die Revision als wesentliche Mängel im Verfahren des Berufungsgerichts, daß es die Berufungsschrift der Beklagten und die Ladung zu dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 14. April 1966 an den Kläger persönlich und nicht an seine bestellten Bevollmächtigten zugestellt hat.
Nach § 73 Abs. 3 Satz 1 SGG sind die Mitteilungen des Gerichts an den Bevollmächtigten zu richten, wenn ein Bevollmächtigter bestellt ist. Gemäß § 63 Abs. 2 SGG wird in den Verfahren vor den SG'n von Amts wegen nach den Vorschriften der §§ 2 bis 15 VwZG zugestellt. § 8 Abs. 4 VwZG schreibt vor, daß Zustellungen in einem anhängigen verwaltungs-, sozial- oder finanzgerichtlichen Verfahren an den bestellten Prozeßbevollmächtigten bewirkt werden müssen.
Nach diesen zwingenden Vorschriften konnte die Zustellung der Berufungsschrift der Beklagten und die Zustellung der Ladung des LSG zum Termin zur mündlichen Verhandlung wirksam nur an die Prozeßbevollmächtigten des Klägers erfolgen. Dadurch daß sie als Bevollmächtigte des Klägers die Klage beim SG erhoben und gleichzeitig die schriftlich erteilte Prozeßvollmacht zu den Prozeßakten eingereicht haben, haben sie sich ordnungsgemäß als Prozeßbevollmächtigte des Klägers bestellt (Wieczorek, ZPO und GVG, 2. Aufl., § 176 Anm. B I a 1). Allerdings müssen im Verfahren nach der ZPO Zustellungen, die in einem anhängigen Rechtsstreit bewirkt werden sollen, an den für den Rechtszug bestellten Prozeßbevollmächtigten erfolgen (§ 176 ZPO). Auch wenn das LSG angenommen haben sollte, daß die Bevollmächtigten des Klägers für den Rechtszug des Berufungsverfahrens nicht bestellt waren, und selbst wenn dies zuträfe, hätten auch nach den Vorschriften der ZPO die Mitteilungen des Gerichts den Prozeßbevollmächtigten des ersten Rechtszuges zugestellt werden müssen, da die Bestellung der Bevollmächtigten des Klägers durch die Bestellung neuer Bevollmächtigter für das Rechtsmittelverfahren oder durch entsprechende Anzeige an das Gericht nicht geendet hatte (vgl. Wieczorek aaO § 176 Anm. C II c). Nach § 210 a Abs. 1 Satz 1 ZPO ist ein Schriftsatz, durch den ein Rechtsmittel eingelegt wird, dem Prozeßbevollmächtigten des Rechtszuges, dessen Entscheidung angefochten wird, in Ermangelung eines solchen dem Prozeßbevollmächtigten des ersten Rechtszuges zuzustellen. Das gleiche gilt aber auch für die Zustellung der Ladung zu dem Termin zur mündlichen Verhandlung des LSG am 14. April 1966. Auch diese Ladung hätte nicht dem Kläger persönlich, sondern seinen Prozeßbevollmächtigten des ersten Rechtszuges zugestellt werden müssen; denn aus der Vorschrift des § 210 a ZPO folgt der allgemeine Grundsatz, daß auch weitere Zustellungen des oberen Rechtszuges solange an den Prozeßbevollmächtigten der nächst unteren Instanz zu erfolgen haben, als in dem Rechtszug ein Prozeßbevollmächtigter nicht vorhanden ist (RG 103, 334; Stein/Jonas, ZPO, 18. Aufl., § 176 Anm. IV, 2).
In § 73 Abs. 3 Satz 1 SGG, der im Verfahren vor den SG'n anstelle des § 176 ZPO gilt, fehlen zudem die in § 176 ZPO verwendeten Worte, daß Zustellungen "an den für den Rechtszug bestellten", d. h. für die Instanz bestellten Prozeßbevollmächtigten erfolgen müssen. Auch in § 8 Abs. 4 VwZG und in § 67 Abs. 3 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist dieser Zusatz nicht enthalten. Das Fehlen der Worte: "für den Rechtszug" in § 73 Abs. 3 Satz 1 SGG und in § 8 Abs. 4 VwZG kann dafür sprechen, daß dieser Zusatz bewußt weggelassen ist und daß in den Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit in Abweichung von der Vorschrift des § 176 ZPO Zustellungen nicht nur an den für den Rechtszug bestellten Prozeßbevollmächtigten erfolgen müssen, sondern ohnehin stets an den Prozeßbevollmächtigten, der bestellt ist. Dies kann seinen Grund darin haben, daß es nach dem SGG keine besonderen nur beim SG oder LSG als Prozeßgericht zugelassenen Prozeßbevollmächtigten gibt, durch die sich die Beteiligten vertreten lassen müssen. Da weder § 73 Abs. 3 Satz 1 SGG noch § 8 Abs. 4 VwZG die Beschränkung enthalten, daß an den für den Rechtszug bestellten Prozeßbevollmächtigten zuzustellen ist, kann daraus geschlossen werden, daß die Bestellung als Prozeßbevollmächtigter im Sozialgerichtsverfahren nicht in der Instanz endet, sondern für den ganzen Rechtsstreit, also für alle Rechtszüge gilt. Diese Auffassung wird zu den entsprechenden Vorschriften der §§ 56 Abs. 2 und 67 Abs. 3 Satz 2 VwGO vertreten (vgl. Eyermann/Fröhler, VwGO, Komm. 4. Aufl. 1965, § 181 Anm. 4; Ule, Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2. Aufl. 1962, § 181 Anm.).
Jedoch braucht der Senat in dem gegenwärtigen Fall nicht abschließend darüber zu entscheiden, welche Bedeutung den von § 176 ZPO abweichenden Fassungen des § 73 Abs. 3 Satz 1 SGG und des § 8 Abs. 4 VwZG zuzumessen ist. Auch wenn angenommen wird, daß nach § 73 Abs. 3 Satz 1 SGG und § 8 Abs. 4 VwZG die Zustellung in einem anhängigen sozialgerichtlichen Verfahren ebenso wie nach § 176 ZPO an den für den Rechtszug bestellten Prozeßbevollmächtigten erfolgen müsse, ergibt sich keine andere Rechtslage, weil die Mitteilungen des LSG auch in entsprechender Anwendung des § 210 a ZPO i. V. m. § 202 SGG den Prozeßbevollmächtigten des Klägers hätten zugestellt werden müssen, die für den ersten Rechtszug bestellt waren.
Der Senat braucht aus diesen Gründen auch nicht dazu Stellung zu nehmen, ob die Bevollmächtigten des Klägers auf Grund der ihnen erteilten und zu den Prozeßakten eingereichten Prozeßvollmacht sowohl für den ersten als auch für den zweiten Rechtszug bestellt waren.
Die Zustellung der Berufungsschrift und der Ladung zur mündlichen Verhandlung durch das LSG an den Kläger persönlich sind sonach unter Verletzung bindender Zustellungsvorschriften erfolgt und unwirksam. Insoweit leidet das Berufungsverfahren an wesentlichen Mängeln.
Allerdings enthält § 73 Abs. 3 Satz 1 SGG eine Vorschrift, auf deren Befolgung ein Beteiligter wirksam verzichten kann (BSG in SozR SGG § 73 Nr. 5). Auch wegen der Verletzung des § 210 a ZPO kann gemäß § 295 ZPO eine Heilung eintreten (Baumbach/Lauterbach, ZPO, 28. Aufl. § 210 a Anm. 1). Nach § 295 ZPO, der in den Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gemäß § 202 SGG entsprechend gilt (BSG in SozR ZPO § 295 Nr. 3), kann die Verletzung einer das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozeßhandlung betreffenden Vorschrift nicht mehr gerügt werden, wenn der Beteiligte auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet, oder wenn er bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die auf Grund des betreffenden Verfahrens stattgefunden hat oder in der darauf Bezug genommen ist, den Mangel nicht gerügt hat, obgleich er erschienen ist und ihm der Mangel bekannt war oder bekannt sein mußte. Der Kläger hat die Verletzung des § 73 Abs. 3 Satz 1 SGG und des § 8 Abs. 4 VwZG in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 14. April 1966 ausweislich des Sitzungsprotokolls ebensowenig gerügt wie die Verletzung des § 210 a ZPO i. V. m. § 202 SGG, obgleich er erschienen war. Für den Rügeverlust muß es grundsätzlich genügen, daß dem Beteiligten der Mangel den Tatsachen nach bekannt war oder bekannt sein mußte, wobei jeder Rechtsirrtum unbeachtlich zu bleiben hat (vgl. Wieczorek, ZPO § 295 Anm. C II d 3). Die Voraussetzungen des § 295 Abs. 1 ZPO sind indessen nicht erfüllt, weil es an Anhaltspunkten dafür fehlt, daß dem Kläger die Tatsachen, die den Mangel der Zustellungen ergeben, zur Zeit der mündlichen Verhandlung bekannt waren oder bekannt sein mußten; denn daß der Kläger gewußt hat, daß die Berufungsschrift und die Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung nur ihm und nicht auch seinem Prozeßbevollmächtigten des ersten Rechtszuges zugestellt worden waren, läßt sich weder den Umständen noch dem Akteninhalt entnehmen. Daß der Kläger, der in dem Berufungsverfahren durch seine Prozeßbevollmächtigten nicht vertreten war, von dem Vorsitzenden über die Tatsachen, die den Mangel der Zustellung der Berufungsschrift und der Ladung zur mündlichen Verhandlung ergeben, und über die Bedeutung der Zustellungsvorschriften belehrt worden ist, ergibt sich aus der Sitzungsniederschrift nicht. Wie das Bundessozialgericht bereits ausgesprochen hat, wäre aber eine solche Belehrung oder ein anderer klarer Hinweis zu fordern, um annehmen zu können, daß der Kläger den Mangel trotz Kenntnis oder Kennenmüssens nicht gerügt hätte (BSG 1, 126, 131). Der Kläger hat demnach sein Recht, die wesentlichen Mängel im Berufungsverfahren zu rügen, nicht nach § 295 ZPO i. V. m. § 202 SGG verloren.
Da das Berufungsverfahren schon insoweit an wesentlichen Mängeln leidet und die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft ist, bedarf es keiner Prüfung, ob die weiteren von der Revision gerügten Verfahrensmängel vorliegen. Die danach zulässige Revision ist auch begründet, weil die Möglichkeit gegeben ist, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es gesetzmäßig verfahren wäre. Das Bundessozialgericht kann in der Sache selbst nicht entscheiden, weil dem LSG zunächst Gelegenheit gegeben werden muß, den Vorschriften über die Zustellung der Berufungsschrift und der Ladung zur mündlichen Verhandlung zu genügen.
Aus diesen Gründen ist das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten im Revisionsverfahren bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen