Leitsatz (redaktionell)
Ein Übergang der Berufsunfähigkeitsrente auf die KK nach RVO § 183 Abs 5 findet nur dann statt, wenn die Berufsunfähigkeitsrente von einem Zeitpunkt an bewilligt wird, der in die Zeit des Anspruchs auf Krankengeld fällt, die Berufsunfähigkeitsrente also während des Bezuges von Krankengeld beginnt.
Normenkette
RVO § 183 Abs. 5 Fassung: 1961-07-12
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 9. Oktober 1963 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, an den Kläger 506,20 DM zu zahlen.
Die Beklagte und die Beigeladene haben dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits je zur Hälfte zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Rentenanspruch des Klägers auf rückwirkend gewährte Berufsunfähigkeitsrente (BU-Rente) nach § 183 Abs. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Art. 2 Nr. 4 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle vom 12. Juli 1961 (BGBl I 913) - 2. Novelle zum Leistungsverbesserungsgesetz - auf die beigeladene Kasse übergegangen ist.
Der Kläger wurde am 14. November 1961 arbeitsunfähig und bezog von der beigeladenen Krankenkasse vom 15. November 1961 bis 12. Februar 1962 Krankengeld. Am 29. November 1961 beantragte er bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA), ihm die Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit zu gewähren. Durch Bescheid der Beklagten vom 10. Mai 1962 gewährte diese dem Kläger für die Zeit vom 16. Mai 1962 bis 31. August 1962 die BU-Rente. Auf die gegen diesen Bescheid erhobene Klage schlossen die Beteiligten vor dem Sozialgericht (SG) Lübeck einen Vergleich. Danach gewährte die Beklagte dem Kläger unter Abänderung des angefochtenen Bescheides eine Versichertenrente wegen dauernder Berufsunfähigkeit seit November 1961. Diesen Vergleich führte die Beklagte mit Bescheid vom 26. April 1963 aus.
Daraufhin meldete die Beigeladene bei der Beklagten für die Zeit vom 15. November 1961 bis 12. Februar 1962 einen Ersatzanspruch gemäß § 183 Abs. 5 RVO in Höhe von 506,20 DM an. Diesen Ersatzanspruch befriedigte die Beklagte. Sie erteilte dem Kläger darüber eine Abrechnung.
Der Kläger erhob Klage vor dem SG Lübeck mit dem Antrag, die Beklagte zu verurteilen, an ihn 506,20 DM zu zahlen.
Das SG wies die Klage ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Es bestünden Bedenken, das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) über die Auslegung des Begriffs der "Zubilligung" im Rahmen des § 183 Abs. 3 RVO nF (BSG 19, 28) heranzuziehen. Danach sei unter Bezug der Rente jener Zeitraum zu verstehen, dessen Anfang durch den Beginn der Rente (§ 1290 RVO) bestimmt werde. Es bestünden grundlegende Unterschiede hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen. Im Falle des § 183 Abs. 3 RVO ende der Anspruch auf Krankengeld mit der Zubilligung der Rente, während nach § 183 Abs. 5 RVO der Anspruch auf Krankengeld fortbestehe, jedoch die Rente bis zur Höhe des gewährten Krankengeldes auf die Krankenkasse übergehe. So fehlten denn auch im Wortlaut des Gesetzes die Worte "von dem Tage an, von dem an Rente". Der unterschiedliche Wortlaut des Gesetzes und die anderweitige Regelung des in Betracht kommenden Tatbestandes verlange daher auch eine andere Auslegung des Gesetzes. Die Grundkonzeption des 2. Lohnfortzahlungsgesetzes gehe davon aus, daß wegen der Krankheit, die sowohl den Versicherungsfall der Arbeits- als auch der Erwerbsunfähigkeit begründe, einer der bestehenden Ansprüche entfalle (§ 183 Abs. 3 RVO) oder eingeschränkt (§ 183 Abs. 5 RVO) werden solle, um so einen Doppelbezug von Leistungen zu vermeiden. Dieser Wille des Gesetzgebers ergebe sich deutlich aus dem Bericht des sozialpolitischen Ausschusses des Bundestages (BT-Drucks. Nr. 2748). Danach solle der Versicherte, dem während der Arbeitsunfähigkeit eine BU-Rente zugebilligt werde, die Rente auf das Krankengeld angerechnet erhalten. Gehe aber der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit und der Arbeitsunfähigkeit auf die gleiche Ursache zurück, so müßte die Rente bis zur Höhe des gewährten Krankengeldes auf die Krankenkasse übergehen. Dieser Wille des Gesetzgebers habe auch im Gesetz seinen Ausdruck gefunden. Er ergebe sich zwar nicht aus dem Wortlaut der in Betracht kommenden Vorschrift allein, sondern unter Berücksichtigung der gesamten Änderungen der RVO durch das 2. Lohnfortzahlungsgesetz.
Das SG hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage die Berufung zugelassen.
Die Beteiligten haben in der mündlichen Verhandlung vor dem SG Lübeck vor Verkündung des Urteils übereinstimmend erklärt, sie seien damit einverstanden, daß für den Fall der Zulassung der Berufung der unterlegene Beteiligte die Entscheidung mit der Sprungrevision anfechten könne.
Der Kläger hat unter Beifügung einer beglaubigten Abschrift des genannten Protokolls Sprungrevision eingelegt mit dem Antrag,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger 506,20 DM zu zahlen.
Zur Begründung verweist er auf die Entscheidung des Senats vom 18. Dezember 1963 (BSG 20, 135).
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die beigeladene Kasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig und trägt ergänzend vor:
Die Auffassung des Senats in seinem Urteil vom 18. Dezember 1963 führe zu unvertretbaren Ergebnissen, da eine Lohnersatz-Kumulation insbesondere bei einem Arbeitsunfall eintrete.
Es würden dann zunächst nebeneinander bezogen:
das Krankengeld,
der Arbeitgeberzuschuß
und die BU-Rente.
Der Versicherte erhalte also erheblich mehr, als ihm durch die Arbeits- und Berufsunfähigkeit entgangen sei, später zwar nur Krankengeld und BU-Rente. Aber auch diese Leistungen machten im Regelfall insgesamt mehr aus als der ausgefallene Lohn. Sinn des § 183 Abs. 5 RVO sei es aber, mehrfache Leistungen zu verhindern. Im übrigen könne es trotz gleichen Tatbestandes dann zu verschiedenen Ergebnissen kommen, wenn der Träger der Rentenversicherung zunächst versuche, die BU durch ein Heilverfahren zu beheben. In diesem Falle werde zunächst nur Übergangsgeld gezahlt (§ 1241 RVO). Wegen der den Rentenbeginn hinausschiebenden Wirkung der Gewährung des Übergangsgeldes sei § 183 Abs. 5 RVO anzuwenden. Umgekehrt könne es auch zu einer nicht verständlichen Kürzung des Krankengeldes kommen. Dies nämlich dann, wenn die Antragsfrist des § 1290 Abs. 2 RVO (3 Monate) versäumt werde. Die Folge davon wäre, daß - obwohl Berufsunfähigkeit vor der Arbeitsunfähigkeit eingetreten sei - dennoch die Rente "während des Bezuges von Krankengeld" beginne. In diesem Falle werde das Krankengeld des Versicherten, das ohnehin schon aus einem infolge der Berufsunfähigkeit geminderten Lohn berechnet sei, um die BU-Rente gekürzt. Die Rückwirkung in § 183 Abs. 3 RVO ergebe sich auch nicht aus dem Wort: "zubilligen", sondern i.V.m. der Beifügung des Gesetzestextes "von dem Tage an, von dem an". Daraus sei zu entnehmen, daß der Zeitpunkt, in dem sich das Zubilligen vollziehe, von dem Zeitpunkt, auf den es zurückwirke, verschieden sei. Mithin sei § 183 Abs. 5 RVO immer dann anzuwenden, wenn die Berufsunfähigkeit mit oder während der Arbeitsunfähigkeit eingetreten sei.
Alle Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob der Rentenanspruch des Klägers gegen die beklagte LVA für die Zeit vom 15. November 1961 bis 12. Februar 1962 auf die beigeladene Krankenkasse übergegangen ist. Es handelt sich mithin um einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen (drei Monaten), bei dem die Berufung nach § 144 Abs. 1 SGG ausgeschlossen wäre, wenn nicht das SG die Berufung im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen hätte. In einem solchen Fall ist die Sprungrevision zulässig (vgl. BSG 1, 69). Alle Beteiligten haben in der mündlichen Verhandlung vor dem SG Lübeck vor Verkündung des Urteils übereinstimmend zu Protokoll erklärt, sie seien für den Fall der Zulassung der Berufung damit einverstanden, daß der unterlegene Beteiligte die Entscheidung mit der Sprungrevision anfechten könne. Eine beglaubigte Abschrift dieses Protokolls hat der Kläger innerhalb der Revisionsfrist dem BSG vorgelegt. Mithin ist dem Erfordernis des § 161 Abs. 1 Satz 2 SGG genügt (BSG 12, 230 = SozR SGG § 161 Bl. Da 6 Nr. 14).
Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 18. Dezember 1963 - 3 RK 29/63 - (BSG 20, 135) die Auffassung vertreten, ein Übergang des Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 183 Abs. 5 RVO finde nicht statt, wenn die Rente rückwirkend von einem Zeitpunkt an gewährt werde, der vor dem Beginn des Krankengeldes liege. Unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Senats in seinem zu § 183 Abs. 3 RVO ergangenen Urteil vom 26. März 1963 (BSG 19, 28) ist der Senat in der genannten Entscheidung zu der Ansicht gelangt, es bestehe kein hinreichender Grund für die Annahme, daß der Gesetzgeber den Begriff der "Zubilligung der Rente" in Absatz 3 und Absatz 5 des § 183 RVO in verschiedenem Sinne gebraucht habe. Dies wurde insbesondere unter Berücksichtigung des Umstandes ausgeführt, daß § 183 Abs. 5 RVO nicht ausdrücklich von "dem Tage, von dem an die Rente" von einem Träger der Rentenversicherung "zugebilligt" wird, spricht, sondern die Kürzung des Krankengeldes davon abhängig macht, daß der Träger der Rentenversicherung dem Versicherten während des Bezugs von Krankengeld Rente wegen Berufsunfähigkeit "zubilligt", ohne den Zeitpunkt der Zubilligung näher zu umschreiben.
Er hat dazu weiter ausgeführt, § 183 Abs. 5 RVO stelle gegenüber § 183 Abs. 2 RVO eine Ausnahmevorschrift dar, die einer erweiternden Auslegung nicht fähig sei. Unter dem Begriff der Zubilligung könne keinesfalls der Eintritt der Berufsunfähigkeit verstanden werden, der erst die Zubilligung der Rente zur Folge habe. Dagegen spreche vor allem die Erwägung, daß sich der genaue Zeitpunkt, in dem der Versicherte die Grenze der Berufsunfähigkeit erreicht habe, im allgemeinen nur schwer feststellen lasse, während der Zeitpunkt des Rentenbeginns dem Rentenbescheid eindeutig zu entnehmen sei (vgl. § 1290 RVO). So würden schwierige medizinische Feststellungen, nämlich das genaue Datum des Tages, an dem die Berufsunfähigkeit eingetreten ist, vermieden. Es sei dabei noch zu berücksichtigen, daß der Eintritt der Arbeitsunfähigkeit nicht immer mit dem Beginn der Berufsunfähigkeit zusammenfalle. Auch den Gesetzesmaterialien könne nicht entnommen werden, daß für die Kürzung des Krankengeldes nach § 183 Abs. 5 RVO nicht der Tag des Rentenbeginns, sondern der Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit entscheidend sein solle. Schließlich hat der Senat noch darauf hingewiesen, daß die von ihm vertretene Auslegung auch nicht dem Sinne des Gesetzes widerspreche. Dieser sei nämlich nicht darauf gerichtet, das Krankengeld immer dann zu kürzen, wenn Arbeitsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit im gleichen Monat einträte, es sei vielmehr zu berücksichtigen, daß auch in Fällen, in denen die Berufsunfähigkeit erst nach der Arbeitsunfähigkeit eintritt, der Rentenbeginn aber nach § 1290 RVO schon früher liegt, im allgemeinen schon in der Zeit vor der Arbeitsunfähigkeit eine geminderte Erwerbsfähigkeit des Versicherten vorgelegen haben werde, da die Berufsunfähigkeit - abgesehen bei Unfällen - nicht plötzlich einzutreten pflege. Sei aber im allgemeinen die Arbeitskraft eines Versicherten auch schon einige Zeit vor dem Eintritt der Berufsunfähigkeit gemindert, so werde er häufig auch geringeren Lohn und daher bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit ein entsprechend niedrigeres Krankengeld bezogen haben.
Die gegen dieses Urteil von der beigeladenen AOK erhobenen Bedenken, die im wesentlichen mit den Anmerkungen von Töns zu diesem Urteil in "Die Ortskrankenkasse" 1964, 143 übereinstimmen, vermochten den Senat nicht zu einer anderen Entscheidung zu veranlassen. Die AOK hält der vorstehend dargelegten Auffassung entgegen, daß sie zu einer sozialpolitisch unerwünschten Häufung von Leistungen, die gleichermaßen Lohnersatzfunktion hätten, führe und bei ihrer Ansicht nach unwesentlichen Änderungen der Sachlage unterschiedliche Ergebnisse zeitigen könne. Sie will deshalb § 183 Abs. 5 RVO in dem Sinne ausgelegt wissen, daß seine Rechtsfolgen eintreten sollen, wenn die Berufsunfähigkeit mit oder während der Arbeitsunfähigkeit eintritt. Eine solche - vom Ergebnis her begründete - Umdeutung des Normengehalts, die anstelle der vom Gesetzgeber gewählten Bezugsgrößen: "Krankengeld-Rente" wesentlich anders geartete Tatbestandselemente einführt, ist aber nicht mehr Auslegung.
Im übrigen verkennt auch die AOK nicht, daß § 183 Abs. 5 RVO entgegen einer den Sachverhalt häufig grob vereinfachenden Praxis, die den ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit mit dem Eintritt der Berufsunfähigkeit gleichsetzt, seiner Zwecksetzung gemäß besser zum Zuge käme und zur Anrechnung der BU-Rente auf das Krankengeld führte, wenn die Arbeitsunfähigkeit und die Berufsunfähigkeit schärfer auseinandergehalten würden. Wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 18. Dezember 1963 (BSG, aaO S. 137) näher dargelegt hat, unterscheiden sich diese Grundvoraussetzungen für zwei verschiedene Leistungen wesensmäßig, so daß sie nur ausnahmsweise - bei plötzlich eintretenden Ereignissen wie einem Unfallzusammenfallen können.
Es ergibt sich mithin, daß der Anspruch auf BU-Rente für die Zeit vom 15. November 1961 bis 12. Februar 1962 nicht auf die beigeladene Krankenkasse übergegangen ist. Die Beklagte hat deshalb diesen Teil der Rentennachzahlung an einen Nichtberechtigten - nämlich die Beigeladene - geleistet. Sie ist insoweit von ihrer Zahlungspflicht nicht befreit worden, weil der Kläger nicht die Beigeladene als Empfänger der Leistung in Anspruch genommen hat (vgl. § 816 Abs. 2 BGB), sondern die Beklagte als die Leistende.
Auf die Revision des Klägers war daher das angefochtene Urteil des SG aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, 506,20 DM an den Kläger zu zahlen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen