Orientierungssatz

Entscheidend für RVO § 183 Abs 5 ist nicht der Zeitpunkt, in dem der Versicherte berufsunfähig geworden ist, sondern der Zeitpunkt der Zubilligung der Rente, dh der Tag des Rentenbeginns.

 

Normenkette

RVO § 183 Abs. 5 Fassung: 1961-07-12

 

Verfahrensgang

SG Aachen (Entscheidung vom 19.03.1963)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 19. März 1963 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin hat dem Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Anspruch des Beigeladenen Werner B. (B.) auf rückwirkend gewährte Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU-Rente) nach § 183 Abs. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Fassung des Art. 2 Nr. 4 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle vom 12. Juli 1961 (BGBl I 913) - Zweite Novelle zum Leistungsverbesserungsgesetz - auf die klagende Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) übergegangen ist.

Der Beigeladene B. war vom 17. November 1960 bis zum 13. Oktober 1961 bei der Firma K., W. & P. beschäftigt. In der Zeit vom 13. Oktober bis zum 14. November 1961 war er arbeitsunfähig erkrankt und bezog vom 14. Oktober bis zum 14. November 1961 von der klagenden Kasse Krankengeld in Höhe von 13,81 DM täglich. Auf Grund seines Antrags vom 16. Oktober 1961 gewährte ihm die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) durch Bescheid vom 30. März 1962 Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Oktober 1961 an in Höhe von monatlich 134,10 DM. Der im Rentenverfahren gehörte Obermedizinalrat Dr. Sch. hatte in seinem Gutachten vom 23. Dezember 1961 ausgeführt, der Beigeladene sei seit dem Tage der Stellung des Rentenantrags berufsunfähig. Die AOK machte gegenüber der LVA geltend, der Anspruch des Versicherten auf die BU-Rente sei nach § 183 Abs. 5 RVO in Höhe von 138,60 DM auf sie übergegangen. Die LVA lehnte jedoch den von der AOK erhobenen Anspruch ab und zahlte den vollen rückständigen Rentenbetrag an den Beigeladenen B. aus.

Die AOK erhob darauf Klage beim Sozialgericht (SG) Aachen mit dem Antrag, die beklagte LVA zu verurteilen, 138,60 DM an die Klägerin zu zahlen. Die Beklagte und der Beigeladene beantragten, die Klage abzuweisen. Sie vertraten die Auffassung, § 183 Abs. 5 RVO komme im vorliegenden Falle nicht zur Anwendung, weil die Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Oktober 1961 an gewährt worden sei, während die AOK Krankengeld erst vom 14. Oktober 1961 an gezahlt habe.

Das SG verurteilte die LVA entsprechend dem Klagantrag und führte zur Begründung im wesentlichen aus:

§ 183 Abs. 5 RVO sei unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Vorschrift entgegen seinem Wortlaut dahin auszulegen, daß der Rentenanspruch des Versicherten für einen Zeitraum, für den Krankengeld gezahlt wurde, bis zur Höhe des gewährten Krankengeldes auf die Krankenkasse übergehe, wenn die Berufsunfähigkeit mit oder während der Arbeitsunfähigkeit eingetreten sei. Aus dem Sinnzusammenhang ergebe sich, daß das Krankengeld neben einer Rente wegen Berufsunfähigkeit nur dann gewährt werden solle, wenn es nach einem durch die Berufsunfähigkeit verminderten Lohn berechnet werde, daß es jedoch um die BU-Rente zu kürzen sei, "wenn das Krankengeld und die BU-Rente vom gleichen Lohn berechnet würden"; andernfalls erhalte der Versicherte für denselben Lohnausfall doppelten Ersatz. Als Regelfall des § 183 Abs. 5 RVO sei anzusehen, daß der Versicherte auf Grund der gleichen Erkrankungen zum gleichen Zeitpunkt berufsunfähig und arbeitsunfähig werde. Für die Richtigkeit dieser Auffassung spreche auch der Entwurf eines Krankenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (KVNG) - BT-Drucks. Nr. 342/62 -. Diese Voraussetzungen seien im vorliegenden Falle erfüllt.

Der Beigeladene B. sei seit dem 13. Oktober 1961 arbeitsunfähig. Die Berufsunfähigkeit sei, wie sich aus dem Gutachten des Obermedizinalrats Dr. Sch. ergebe, am gleichen Tage oder an einem späteren Tage eingetreten; jedenfalls sei der Beigeladene vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit noch nicht berufsunfähig gewesen, wenn er auch dem Rentenantrag eine Bescheinigung des Dr. G. vom 5. September 1961 beigefügt habe, wonach er bereits damals berufsunfähig gewesen sei. Das SG hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Rechtsstreits die Revision zugelassen.

Die beklagte LVA hat mit Einwilligung der Klägerin Sprungrevision eingelegt mit dem Antrag,

das Urteil des SG Aachen vom 19. März 1963 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Revision rügt, das SG habe § 183 Abs. 5 RVO unrichtig angewandt. Seine Auslegung lasse sich mit dem Gesetzestext nicht vereinbaren. Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 183 Abs. 5 RVO sei allein, daß dem Versicherten während des Bezugs von Krankengeld BU-Rente von einem Träger der Rentenversicherung zugebilligt werde. Maßgebend sei daher der Zeitpunkt des Beginns der Rente. Habe der Versicherte bei Beginn einer BU-Rente noch kein Krankengeld bezogen, sondern werde es erst nach Beginn der Rente gewährt, sei § 183 Abs. 5 RVO nicht anwendbar. Dabei sei es ohne Bedeutung, ob die Berufsunfähigkeit mit oder nach der Arbeitsunfähigkeit eingetreten sei.

Die beklagte AOK beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Gegenstand des Rechtsstreits ist der Rentenanspruch des Versicherten B., den die AOK unter dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Forderungsübergangs gegenüber der beklagten LVA geltend macht. Die Klage umfaßt den Rentenanspruch des Beigeladenen B. für die Zeit vom 14. Oktober bis zum 14. November 1961. Es handelt sich danach um einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu dreizehn Wochen (drei Monate), bei dem die Berufung nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen wäre, wenn nicht das SG die Berufung im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen hätte. Es bestehen daher gegen die Zulässigkeit der Sprungrevision keine Bedenken (§ 161 SGG; BSG 1, 69). Die von der LVA eingelegte Revision ist auch sachlich begründet, weil das SG § 183 Abs. 5 RVO unrichtig angewandt hat.

Der Versicherte gehörte im Zeitpunkt seiner Erkrankung (13. Oktober 1961) zum Kreis der nach § 165 Abs. 1 Nr. 1 RVO versicherungspflichtigen Personen. Er hatte deshalb im Falle der Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich Anspruch auf Krankengeld ohne zeitliche Begrenzung (vgl. § 183 Abs. 2 RVO). Jedoch wird nach § 183 Abs. 5 RVO bei einem Versicherten, dem während des Bezuges von Krankengeld BU-Rente (oder Bergmannsrente nach § 45 Abs. 1 Nr. 1 des Reichsknappschaftsgesetzes - RKG -) zugebilligt wird, das Krankengeld um den Betrag der für den gleichen Zeitraum gewährten Rente gekürzt; insoweit geht bei rückwirkender Gewährung der Rente der Rentenanspruch auf die Kasse über. - Die Kürzung des Krankengeldes oder - bei rückwirkender Gewährung der Rente - der Übergang des Rentenanspruchs auf die Kasse tritt somit nur ein, wenn der Träger der Rentenversicherung dem Versicherten "während des Bezuges von Krankengeld" Rente wegen Berufsunfähigkeit "zubilligt". Dem SG ist darin beizutreten, daß der Gesetzgeber bei dieser - zunächst schwer verständlichen - Regelung offenbar von der Erwägung ausgegangen ist, daß bei Zubilligung der BU-Rente während des Bezuges von Krankengeld dieses im allgemeinen noch auf Grund des Lohnes berechnet worden ist, den der Versicherte vor Eintritt der Berufsunfähigkeit, also meist noch bei ungeminderter Arbeitskraft verdient hat. Die Auffassung des SG, die Voraussetzungen für die Kürzung des Krankengeldes seien stets dann gegeben, wenn die Berufsunfähigkeit mit dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder während der Arbeitsunfähigkeit eintrete, ist jedoch mit dem Wortlaut des Gesetzes nicht vereinbar und läßt sich auch nicht mit dem Hinweis auf den Zweck des Gesetzes und seine Entstehungsgeschichte rechtfertigen.

§ 183 Abs. 5 RVO stellt gegenüber § 183 Abs. 2 RVO eine Ausnahmevorschrift dar, die als solche nicht erweiternd in dem von dem SG gemeinten Sinne ausgelegt werden kann. Das Gesetz schreibt ausdrücklich vor, daß die Rente wegen Berufsunfähigkeit nur dann eine Kürzung des Krankengeldes bewirkt, wenn sie während des Bezuges von Krankengeld "zugebilligt" wird. Mag es auch sprachlich zweifelhaft sein, ob unter "Zubilligung" einer Rente schon der Zeitpunkt des Rentenbeginns (so BSG 19, 28), des Rentenbescheides oder der Aufnahme der tatsächlichen Rentenzahlung zu verstehen ist, so kann doch darunter keinesfalls der Eintritt der Berufsunfähigkeit verstanden werden, der erst die Zubilligung der Rente zur Folge hat. Entscheidend ist also nach der gesetzlichen Regelung nicht der Zeitpunkt, in dem der Versicherte berufsunfähig geworden ist (§ 1246 Abs. 2 RVO), sondern der Zeitpunkt der Zubilligung der Rente, und das ist, wie der Senat in BSG 19, 28 zu § 183 Abs. 3 RVO näher dargelegt hat, der Tag des Rentenbeginns (§ 1290 Abs. 1 und 2 RVO). Für die Übernahme dieser Inhaltsbestimmung des Begriffs "Zubilligung der Rente" auch bei der Auslegung des § 183 Abs. 5 RVO spricht - abgesehen von dem im wesentlichen gleichlautenden Wortlaut - vor allem die Erwägung, daß sich der genaue Zeitpunkt, in dem der Versicherte die Grenzen der Berufsunfähigkeit erreicht hat, im allgemeinen - abgesehen von Sonderfällen, wie zum Beispiel bei einem Unfall - nur schwer feststellen läßt, während der Zeitpunkt des Rentenbeginns dem Rentenbescheid eindeutig zu entnehmen ist. Im vorliegenden Falle hatte der von der LVA gehörte ärztliche Sachverständige - ohne nähere Begründung - in seinem Gutachten vom 23. Dezember 1961 angenommen, daß der Beigeladene seit dem Tag der Stellung des Rentenantrags - das ist der 16. Oktober 1961 - berufsunfähig sei, während nach der dem Rentenantrag beigefügten ärztlichen Bescheinigung vom 5. September 1961 der Beigeladene bereits damals berufsunfähig gewesen sein soll. Der Träger der Rentenversicherung ist im allgemeinen der Feststellung des genauen Zeitpunktes des Eintritts der Berufsunfähigkeit enthoben, weil die Rente nach § 1290 RVO immer vom Beginn eines Monats an zu gewähren ist. Wollte man sich der Rechtsansicht der klagenden Krankenkasse anschließen, der das SG gefolgt ist, so müßte allein wegen der Frage der Kürzung des Krankengeldes und der Abrechnung zwischen Krankenkasse und Träger der Rentenversicherung festgestellt werden, an welchem Tage die Berufsunfähigkeit eingetreten ist, es müßte jedenfalls genau geklärt werden, ob Berufsunfähigkeit nicht bereits vor dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit vorgelegen hat. Diese Frage ist medizinisch oft schwer zu klären. Dabei dürfte nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß der Eintritt der Arbeitsunfähigkeit mit dem Beginn der Berufsunfähigkeit zusammenfällt. Während es bei Beurteilung der Berufsunfähigkeit des Versicherten, die in der Regel einen Dauerzustand darstellt, auf einen Vergleich mit der Erwerbsfähigkeit eines gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen ankommt (§ 1246 Abs. 2 RVO), liegt Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 RVO) vor, wenn der Versicherte infolge einer Krankheit nicht imstande ist, die bisher von ihm ausgeübte Beschäftigung weiter auszuüben. Ein Versicherter, der wegen einer Krankheit selbst während einer längeren Zeit nicht in der Lage ist, seiner bisherigen Beschäftigung nachzugehen, braucht deswegen nicht berufsunfähig zu sein. Andererseits kann Berufsunfähigkeit eintreten, ohne daß der Versicherte vorher an einer Krankheit gelitten hat, die Arbeitsunfähigkeit bedingte. Es kann also nicht allgemein davon ausgegangen werden, daß in Fällen, in denen der Versicherte die Rente kurz vor oder nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit beantragt hat, die Arbeitsunfähigkeit und die Berufsunfähigkeit auf der gleichen Ursache beruhen und daß der Beginn der Berufsunfähigkeit mit dem Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit zusammenfällt. Es mag sein, daß dies öfter der Fall ist und daß es in solchen Fällen dem Zweck des Gesetzes mehr entsprechen würde, nicht auf die "Zubilligung der BU-Rente", sondern auf den Eintritt der Berufsunfähigkeit abzustellen. Indessen wird es auch nicht selten vorkommen, daß bei einer solchen zeitlichen Nähe zwischen Eintritt der Arbeitsunfähigkeit und Rentenantrag die Berufsunfähigkeit - die nicht durch die oft akute Krankheit herbeigeführt zu sein braucht - erheblich früher oder später beginnt als die Arbeitsunfähigkeit. Es ist daher verständlich, daß das Gesetz nicht auf den Eintritt der Berufsunfähigkeit, sondern auf die Zubilligung der Rente abgestellt hat. Auch den Gesetzesmaterialien kann, wie der Senat in seinem Urteil vom 18. Dezember 1963 - 3 RK 29/63 - dargelegt hat, nicht entnommen werden, daß für die Kürzung des Krankengeldes nach § 183 Abs. 5 RVO nicht der Tag des Rentenbeginns, sondern der Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit entscheidend sein solle. Diese dem Wortlaut des § 183 Abs. 5 RVO folgende Auslegung widerspricht auch nicht dem Sinn des Gesetzes, wie ebenfalls in der Entscheidung in der Sache 3 RK 29/63 näher ausgeführt ist.

Da eine Kürzung des Krankengeldes nach § 183 Abs. 5 RVO somit nur eintritt, wenn die BU-Rente von einem Zeitpunkt an bewilligt wird, der während des Bezuges von Krankengeld liegt, diese Voraussetzung in dem hier streitigen Falle aber nicht gegeben ist, muß das angefochtene Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380526

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