Leitsatz (redaktionell)
Für die Bestimmung des Unfallzeitpunkts ist wesentlich, wann die Minderung der Erwerbsfähigkeit einen rechtserheblichen, somit rentenberechtigten Grad, der in der Regel bei 20 % liegt, erreicht hat.
Normenkette
RVO § 551 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1963-04-30; BKVO 3 § 3 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1936-12-16; BKVO 6 Anl 1 Nr. 26 Fassung: 1961-04-28
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 9. Juli 1965 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der im Jahre 1902 geborene Kläger beansprucht Entschädigung für die Folgen einer durch Lärm verursachten Schwerhörigkeit.
Er war von 1939 bis 1951 als Maschinist in einem Bauunternehmen tätig und bediente einen Preßluft erzeugenden Dieselmotor, der sich in unmittelbarer Nähe von Preßlufthämmern befand. Hierbei war er einer erheblichen Lärmbelastung ausgesetzt. Im Feststellungsverfahren der Beklagten gab er an, Hörbeschwerden seien erstmals im Jahre 1941 aufgetreten. Nach den Angaben in einem im Februar 1964 erstatteten Gutachten gab er bei dieser Untersuchung an, seit etwa 1945 habe er eine allmählich zunehmende Hörverschlechterung auf beiden Ohren bemerkt und sei im Jahre 1947 erstmals bei einem Hals-, Nasen-, Ohrenarzt in Behandlung gewesen, wobei ihm erklärt worden sei, daß seine Ohren "verbraucht" seien; in diesem Sinne habe sich ihm gegenüber im Jahre 1954 auch ein anderer Hals-, Nasen-, Ohrenarzt geäußert.
Die Beklagte, bei welcher der Kläger im Dezember 1962 Entschädigungsansprüche geltend gemacht hatte, veranlaßte eine Untersuchung in der Hals-, Nasen-, Ohrenklinik der Universität F. In dem Gutachten vom 19. Februar 1964 (Prof. ... und Dr. ...) ist ausgeführt, daß bei dem Kläger eine beidseitig symmetrische Innenohrschwerhörigkeit vorliege, die als Folge der beruflich bedingten langdauernden Lärmbelastung anerkannt werden müsse, zumal da eine endogene Innenohrschwerhörigkeit ausgeschlossen werden könne; der Beginn der Berufskrankheit müsse auf das Jahr 1945 zurückdatiert werden, die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei auf 20 v. H. zu schätzen. Der Landesgewerbearzt im Hessischen Ministerium für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen schloß sich in einer Stellungnahme vom 8. Juni 1964 der Beurteilung durch diese Sachverständigen an, bemerkte aber, daß erst nach dem Inkrafttreten der Sechsten Berufskrankheitenverordnung (6. BKVO) im Jahre 1961 der Grad einer MdE von 20 v. H. erreicht worden sei.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 22. Juni 1964 den Entschädigungsanspruch des Klägers mit der Begründung ab, daß die Schwerhörigkeit bereits vor dem Inkrafttreten der 6. BKVO am 7. Mai 1961 vorgelegen habe.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) Speyer erhoben und u. a. vorgetragen, daß die Schwerhörigkeit ihn bis zum Ende des Jahres 1962 überhaupt nicht beeinträchtigt habe.
Das SG hat durch Urteil vom 26. Oktober 1964 die Klage abgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt, daß ein Entschädigungsanspruch nur bestände, wenn die Schwerhörigkeit nach dem Inkrafttreten der 6. BKVO eingetreten wäre; das sei jedoch nicht der Fall.
Mit der Berufung gegen dieses Urteil hat der Kläger u. a. vorgetragen, er sei sich bis zur Antragstellung Ende November 1962 nicht bewußt gewesen, an einer Schwerhörigkeit zu leiden.
Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat durch Urteil vom 9. Juli 1965 die Berufung gegen das Urteil des SG Speyer zurückgewiesen und die Revision zugelassen.
Zur Begründung hat das LSG u. a. ausgeführt: Ein Anspruch aus der Nr. 35 der 5. BKVO (vom 26. Juli 1952/BGBl. I S. 395) scheide von vornherein aus; denn der Kläger leide nicht an einer Taubheit oder einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit, sondern lediglich an einer durch seine Berufstätigkeit bedingten Beeinträchtigung des Hörvermögens im Grade einer Schwerhörigkeit. Eine Entschädigungspflicht ergebe sich auch nicht aus Nr. 26 der 6. BKVO (vom 28. April 1961/BGBl. I 505), die am 7. Mai 1961 in Kraft getreten sei. Die in der Nr. 26 bezeichnete neue Berufskrankheit Lärmschwerhörigkeit könne nur entschädigt werden, wenn die Erkrankung nach dem 6. Mai 1961 eingetreten sei. Das ergebe sich aus § 4 Abs. 2 der 6. BKVO, und dieser Ausschluß der Lärmschwerhörigkeit von der Rückwirkung der 6. BKVO sei auch nicht verfassungswidrig. Der Zeitpunkt des Versicherungsfalls bestimme sich nach § 3 Abs. 2 der 3. BKVO. Die ersten Hörbeschwerden seien bereits im Jahre 1941 aufgetreten, und seit etwa 1945 habe sich eine zunehmende Hörverschlechterung bemerkbar gemacht, so daß der Kläger schon 1947 sich in ohrenärztliche Behandlung begeben habe. Der Kläger sei also bereits im Jahre 1947 im Sinne der Krankenversicherung erkrankt gewesen. Als Erkrankung von jedenfalls meßbarem Krankheitswert habe die Schwerhörigkeit naturgemäß auch eine meßbare MdE im Sinne des Dritten Buches der Reichsversicherungsordnung (RVO) zur Folge gehabt. Damit liege der Eintritt des Versicherungsfalles unter Berücksichtigung beider Alternativen zweifelsfrei vor dem 7. Mai 1961, zumal da angenommen werden müsse, daß sich die Hörbeeinträchtigung im Laufe der Jahre seit 1941 bzw. 1945 ständig verstärkt habe. Ob die Schwerhörigkeit erst nach dem Inkrafttreten der 6. BKVO zu einer rentenberechtigenden MdE von 20 v. H. geführt habe, könne dahingestellt bleiben; denn § 3 der 3. BKVO und auch § 551 Abs. 3 RVO sprächen nur von "der Erwerbsunfähigkeit" bzw. "der MdE" schlechthin und nicht von einer rentenberechtigenden Erwerbsunfähigkeit bzw. rentenberechtigenden MdE. Das bedeute, daß mit dem Begriff der Erwerbsunfähigkeit bzw. MdE bereits jedwede meßbare Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit gemeint sei, ohne daß hieraus ein Anspruch auf Rente zu resultieren brauche. Da der Kläger bereits seit Jahren vor dem Inkrafttreten der 6. BKVO in der Erwerbsfähigkeit auf alle Fälle meßbar beeinträchtigt gewesen sei, sei der Versicherungsfall auch nach der 2. Alternative vor diesem Zeitpunkt eingetreten. Die Revision sei zugelassen worden, weil zur Frage des Beginns der Berufskrankheit über Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden gewesen sei.
Gegen das Urteil des LSG hat der Kläger in der gesetzlichen Form und Frist Revision eingelegt und sie innerhalb der nach § 164 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verlängerten Frist begründet. Der Kläger ist der Auffassung, das LSG habe es zu Unrecht unterlassen, - wie von ihm beantragt - darüber Beweis zu erheben, ob die durch die Schwerhörigkeit des Klägers verursachte MdE erst nach dem Inkrafttreten der 6. BKVO einen Grad von 20 v. H. erreicht habe; denn für die Bestimmung des Zeitpunktes des Versicherungsfalls sei nicht bereits jede meßbare MdE, sondern nur eine solche MdE von rechtlicher Bedeutung, die einen Anspruch auf Rente begründe.
Der Kläger beantragt
in erster Linie:
die Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen, dem Kläger wegen Lärmschwerhörigkeit Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren,
in zweiter Linie:
festzustellen, daß die Lärmschwerhörigkeit des Klägers Folge einer Berufskrankheit ist, und den Rechtsstreit wegen der Höhe der Entschädigungsleistung an das LSG zurückzuverweisen,
hilfsweise:
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die - durch Zulassung statthafte (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) - Revision hatte insofern Erfolg, als das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen worden ist.
Der Kläger leidet, wie auch die Beklagte nicht bestreitet, an einer beidseitigen Innenohrschwerhörigkeit, die eine Folge langdauernder berufsbedingter Lärmbelastung ist. Andererseits sind aber nach den - von der Revision nicht angegriffenen (§ 163 SGG) - Feststellungen des LSG die Voraussetzungen für einen Entschädigungsanspruch nach Nr. 35 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) i. d. F. der 5. BKVO (vom 26.7.1952/BGBl. I 395) schon deshalb nicht gegeben, weil der Kläger nicht taub ist und die Beeinträchtigung seines Hörvermögens noch nicht an Taubheit grenzt; deshalb kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger in einem Unternehmen der Art beschäftigt war, wie sie in der Anlage zur 5. BKVO bei Nr. 35 in der Spalte III aufgeführt sind. Beim Kläger besteht vielmehr eine "Lärmschwerhörigkeit" im Sinne der Nr. 26 der Anlage zur BKVO idF der 6. BKVO (vom 28.4.1961/BGBl. I 505). Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, ist infolge des Ausschlusses der Krankheiten im Sinne der Nr. 26 von der Rückwirkung der 6. BKVO bis zum 1. Januar 1952 (§ 4 Abs. 2 der 6. BKVO) der Entschädigungsanspruch nach den Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung über die Entschädigung von Berufskrankheiten für eine Erkrankung an Lärmschwerhörigkeit davon abhängig, daß der Versicherungsfall ("Zeitpunkt des Unfalls", vgl. 3. BKVO vom 16.12.1936/RGBl. I 1117, § 3 Abs. 2, § 551 Abs. 3 RVO) nach dem Inkrafttreten der 6. BKVO am 7. Mai 1961 eingetreten ist. Der erkennende Senat hat auch bereits wiederholt entschieden, daß die Ausnahme der neu als Berufskrankheit bezeichneten Krankheit "Lärmschwerhörigkeit" von jeglicher Rückwirkung nicht verfassungswidrig ist. Im einzelnen wird hierzu auf das Urteil des erkennenden Senats vom 30. Oktober 1964 (BSG 22, 63) und das ergänzende Urteil vom 21. September 1967 (SozR Nr. 4 zur 6. BKVO § 4) Bezug genommen.
Das LSG hat nicht verkannt, daß von den verschiedenen Zeitpunkten, die sich nach § 3 Abs. 2 der 3. BKVO und § 551 Abs. 3 RVO aus dem Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung oder dem Beginn der MdE als Zeitpunkt des ("fingierten") Unfalls ergeben können, nicht jeweils der frühestmögliche, sondern nach der Lage des Einzelfalles auch der spätestmögliche als für den Versicherten "günstiger" der Entscheidung über den Zeitpunkt des Versicherungsfalls zugrunde zu legen ist (vgl. hierzu BSG 26, 230). Das LSG hat deshalb, obwohl seiner Auffassung nach der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung bereits weit zurückliegt (vgl. hierzu auch BSG 26, 230, 233), zutreffend geprüft, seit wann beim Kläger eine "Minderung der Erwerbsfähigkeit" bestand und hierbei mit Recht die Begriffe "Beginn der Erwerbsunfähigkeit" (§ 3 Abs. 2 der 3. BKVO) und "Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit" (§ 551 Abs. 3 RVO) als gleichbedeutend ausgelegt.
Dagegen stimmt der erkennende Senat mit der Auffassung des LSG nicht überein, daß der für die Bestimmung des Zeitpunktes des Versicherungsfalls maßgebende "Beginn" der MdE schon vorliege, sobald die MdE "meßbar" geworden sei. Auch wenn hierunter das Erreichen eines Ausmaßes der Auswirkungen der Hörbeeinträchtigungen verstanden wird, das eine Einschätzung der MdE auf wenigstens 10 v. H. rechtfertigt (vgl. Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm. 8 b zu § 581 RVO mit weiteren Nachweisen), vermag sich der erkennende Senat dieser Auffassung nicht uneingeschränkt anzuschließen. Wie der erkennende Senat im Urteil vom 28. April 1967 (BSG 26, 230, 232) entschieden hat, kommt es für die Bestimmung des "Zeitpunktes des Unfalls" im Sinne von § 3 Abs. 2 der 3. BKVO, § 551 Abs. 3 RVO darauf an, wann die MdE einen rechtserheblichen, d. h. zum Bezuge einer Rente berechtigenden Grad erreicht hat. Das ist aber im Regelfall, wie er nach den vom LSG bisher getroffenen Feststellungen wohl vorliegt, eine MdE um 20 v. H. (§ 559 a RVO aF, § 581 RVO).
Die Revision rügt deshalb nach der Auffassung des erkennenden Senats mit Recht, daß das LSG es dahingestellt gelassen hat, ob die durch die Lärmschwerhörigkeit verursachte MdE des Klägers erst nach dem Inkrafttreten der 6. BKVO einen Grad von 20 v. H. erreicht hat.
Da das LSG hierzu auch keine ausdrücklichen Feststellungen getroffen hat, ist der erkennende Senat nicht in der Lage, auf die - begründete - Revision des Klägers selbst darüber zu entscheiden, ob der für den Entschädigungsanspruch des Klägers maßgebende Versicherungsfall nach dem Inkrafttreten der 6. BKVO eingetreten ist. Der Senat hat deshalb das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen