Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 17.01.1958) |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 17. Januar 1958 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I
Der Kläger war bei einer amerikanischen Dienststelle auf dem Flugplatz Bitburg als Kellner im Offiziersclub beschäftigt. Sein Dienst endete in der Regel um 20 Uhr. Um diese Zeit hatte er Gelegenheit, mit einem Omnibus zum Bahnhof zu fahren und dort einen Zuganschluß nach seinem damaligen Wohnort Mürlenbach zu erreichen. Am 27. Februar 1955 mußte der Kläger unvorhergesehenerweise bis 21 Uhr arbeiten. Da er nicht mehr zu seiner Wohnung zurückkehren konnte und am folgenden Tage sein Dienst bereits wieder um 6 Uhr begann, sah er sich gezwungen, am Arbeitsplatz zu übernachten. Für solche Fälle stand ihm ein Feldbett in einer Baracke hinter dem Club-Gebäude zur Verfügung. Das Abendessen nahm der Kläger nach 21 Uhr in der Kantine in Bitburg, Mötscherstraße, ein; im Offiziersclub konnte er nicht essen, weil er dort täglich nur eine Mahlzeit zu beanspruchen und diese bereits am Mittag eingenommen hatte. Wie lange der Kläger sich in der Kantine aufgehalten hat, ist nicht festgestellt worden: nach der Behauptung des Beklagten waren es zwei bis zweieinviertel Stunden. Ebensowenig steht fest, ob der Kläger sich vom Flugplatz zunächst zum Bahnhof begeben und sich erst dort davon überzeugt hat, daß er keine Gelegenheit mehr zur Heimfahrt hatte. Auf dem Rückweg von der Kantine zur Schlafbaracke – kurz vor Mitternacht – rutschte er auf der vereisten Straße aus und zog sich knöcherne Verletzungen am rechten Unterschenkel zu.
Der Beklagte lehnte durch Bescheid vom 26. Januar 1956 die Entschädigungsansprüche des Klägers ab, weil dessen Aufenthalt in der Kantine eine eigenwirtschaftliche Betätigung gewesen sei und deshalb der diesem Zweck dienende Weg in keinem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden habe.
Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG.) Trier den ablehnenden Bescheid aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger wegen des Unfalls vom 27. Februar 1955 die Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Es ist in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen, der Kläger habe sich zunächst zum Bahnhof und von dort zur Kantine begeben, nachdem er festgestellt gehabt habe, daß der letzte Zug abgefahren gewesen sei. In rechtlicher Hinsicht hat das SG. ausgeführt: Der Kläger habe den – versicherungsrechtlich geschützten – Heimweg nach Mürlenbach angetreten gehabt, aber nicht ganz durchführen können. An die Stelle seiner Wohnung sei, weil der Kläger aus dienstlichen Gründen nicht nach Hause gekommen sei, die Schlafstelle getreten. Deshalb müsse der Weg dorthin ebenso als versichert angesehen werden wie es der Weg zu seiner Wohnung gewesen wäre. Den Heimweg habe der Kläger allerdings durch den Kantinenbesuch unterbrochen; da der Aufenthalt in der Kantine jedoch nicht übermäßig lange gedauert habe, sei der Versicherungsschutz auf dem Wege von der Kantine bis zur Schlafstelle nicht entfallen.
Das Landessozialgericht (LSG.) Rheinland-Pfalz hat die Berufung des Beklagten durch Urteil vom 17. Januar 1958 zurückgewiesen. Es hat dahingestellt sein lassen, ob sich der Kläger zuerst zum Bahnhof und dann zur Kantine begeben und ob er sich dort – wie er behauptet – nur eine Stunde oder bis zu zweieinviertel Stunden aufgehalten hat. Das LSG. hat zur Begründung ausgeführt: Der Weg zur Kantine und zurück sei, da der Kläger aus betriebsbedingten Gründen am Abend des 27. Februar 1955 auf dem Flugplatz habe bleiben müssen, nach § 543 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unfallgeschützt gewesen. Dem stehe nicht entgegen, daß der Weg zur Einnahme der Abendmahlzeit, also zur Vornahme einer an sich rein eigenwirtschaftlichen Tätigkeit, zurückgelegt worden sei. Von dem Grundsatz, daß eigenwirtschaftliche Betätigungen nicht unter Versicherungsschutz ständen, müsse eine Ausnahme gemacht werden, wenn der Versicherte durch besondere Umstände, unter denen sich die notwendige Bedürfnisbefriedigung vollziehe, aus betriebsbedingten Gründen gewissen Gefahren ausgesetzt sei. Dies treffe hier zu; denn der Kläger sei nur deshalb verunglückt, weil er aus Gründen seines Beschäftigungsverhältnisses nicht mehr habe nach Hause fahren können und demzufolge auf eine Stärkung in Bitburg angewiesen gewesen sei. Der Hin- und Rückweg zur Kantine sei demgemäß der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Der Aufenthalt in der Kantine habe selbst dann nicht zur Lösung vom Betrieb geführt, wenn er nicht nur eine, sondern mehr als zwei Stunden gedauert haben sollte. – Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist dem Beklagten am 5. April 1958 zugestellt worden. Er hat hiergegen am 28. April 1958 Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet. Die Revision führt im wesentlichen aus: Der unfallbringende Weg sei weder ein unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehender Weg nach noch ein solcher von der Arbeitsstätte gewesen. Um einen Weg von der Arbeitsstätte habe es sich zwar insofern gehandelt, als er von dort seinen Ausgang genommen und auf dem Umweg über die Kantine zur Schlafbaracke weitergeführt habe; der langdauernde Kantinenaufenthalt habe jedoch die Lösung vom Betrieb zur Folge gehabt. Als Weg nach der Arbeitsstätte habe der unfallbringende Weg den Versicherungsschutz nicht begründen können, weil der Kläger im Anschluß an den Weg nicht alsbald habe arbeiten, sondern schlafen, sich also eigenwirtschaftlich betätigen wollen. Schon aus diesem Grunde fehle es an dem erforderlichen Zusammenhang mit der bis 21 Uhr ausgeführten und für den nächsten Morgen wieder beabsichtigten versicherten Tätigkeit. Dies gelte auch insofern, als der amerikanischen Dienststelle hinreichend Arbeitskräfte zur Verfügung gestanden hätten, so daß nicht sie, sondern ausschließlich der Kläger daran interessiert gewesen sei, daß er am nächsten Morgen um 6 Uhr den Dienst wieder habe antreten können. Zudem habe die Straßenglätte, die den Kläger zum Ausrutschen gebracht habe, keine mit dem Flugplatz und der Kellnertätigkeit des Klägers in Beziehung stehende typische Betriebsgefahr dargestellt.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er pflichtet der Auffassung des LSG. mit folgenden Ausführungen bei: Es liege ein Wegeunfall im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO vor, weil er sich auf dem Wege zur Arbeitsstätte ereignet habe. Dem stehe nicht entgegen, daß die Arbeit nicht im unmittelbaren Anschluß an den Weg, vielmehr erst am nächsten Morgen habe aufgenommen werden sollen. Wortlaut und Sinn des Gesetzes ließen es zu, daß die Ankunft an der Arbeitsstätte und der Arbeitsbeginn zeitlich auseinanderfielen. Entscheidend sei der innere Zusammenhang des Weges mit der versicherten Tätigkeit; dieser Zusammenhang sei hier gegeben. Schließlich habe das LSG. Mit Recht angenommen, daß durch den Kantinenbesuch keine Lösung vom Betrieb eingetreten sei, wobei es zutreffend nicht allein auf die Dauer des Aufenthalts, sondern auf die konkreten Umstände des Falles abgestellt habe.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–), auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig; sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Die Meinung der Revision, das LSG. habe den Weg des Klägers zur Kantine, die Einnahme des Abendessens und den Rückweg zum Flugplatz als eine versicherte Tätigkeit nach § 537 Nr. 1 RVO und demgemäß den Unfall als einen Arbeitsunfall nach § 542 Abs. 1 RVO angesehen, findet in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils keine Stütze. Das LSG. hat vielmehr den von ihm festgestellten Sachverhalt, der von der Revision nicht angegriffen worden und deshalb für das Bundessozialgericht (BSG.) bindend ist (§ 163 SGG), unmißverständlich unter § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO eingeordnet. Darin ist dem Berufungsgericht jedenfalls im Ergebnis beizupflichten.
Der Kläger ist auf dem Wege zum Flugplatz, also zu seiner Arbeitsstätte, verunglückt. Der Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO ist, wie der erkennende Senat bereits in BSG. 1 S. 171 [172] ausgeführt hat und auch die Revision nicht in Zweifel zieht, nicht auf die Wege von der Wohnung nach der Arbeitsstätte – oder umgekehrt – beschränkt, vielmehr genügt es, wenn die Arbeitsstätte Ziel des Weges ist. Der Weg zu diesem Ziel muß jedoch mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängen, d. h., mit ihr in einem rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang stehen. Die ursächliche Verknüpfung mit der versicherten Tätigkeit muß so erheblich sein, daß andere, mit dieser Tätigkeit nicht zusammenhängende Ursachen für das Zurücklegen des Weges demgegenüber unberücksichtigt bleiben können, Gegenstand der Beurteilung ist in dem hier zu entscheidenden Falle ein Weg, welcher der Einnahme des Abendessens gedient hatte. Das Essen ist in der Regel eine dem persönlichen und daher unversicherten Bereich zuzurechnende Betätigung. Es kann jedoch, wenn es zur Wiedererlangung und Erhaltung der Arbeitsfähigkeit unumgänglich ist, unter bestimmten Voraussetzungen den ursächlichen Zusammenhang mit der nachfolgenden Arbeitstätigkeit begründen. So hat z. B. das Reichsversicherungsamt (RVA.) einen während der Mittagspause angetretenen Weg, welcher dem Ankauf von Äpfeln als Beikost zum Butterbrot dienen sollte, als einen mit der Beschäftigung im Unternehmen zusammenhängenden Weg von der Arbeitsstätte angesehen (EuM. Bd. 21 S. 281; vgl. auch Bd. 23 S. 424; Bd. 47 S. 415 und 417; Bd. 48 S. 162). Die angeführte Rechtsprechung hat der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 22. Januar 1957 (BSG. 4 S. 219 [223]) grundsätzlich gebilligt und zum Ausdruck gebracht, daß Wege von und zur Arbeitsstätte, die erforderlich sind, damit der Versicherte die zur Erhaltung seiner Arbeitskraft nötige Ruhe und Ernährung findet, unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehen. Hiernach wäre Versicherungsschutz ohne weiteres anzunehmen, wenn der Fall so läge, daß die Arbeitsschicht des Klägers beispielsweise um 13 Uhr geendet hätte, er unvorhergesehenerweise zu einer weiteren Schicht von 14 bis 20 Uhr eingeteilt worden wäre und sich zur Einnahme des Mittagessens in der Pause zwischen 13 und 14 Uhr hätte nach Bitbrug begeben müssen und auf diesem Wege verunglückt wäre. Demgegenüber ist der zu entscheidende Fall dadurch gekennzeichnet, daß dem Kläger zwischen der beendeten und der nächsten Arbeitsschicht ein freier Abend und eine Nacht zur Wiedererlangung seiner Arbeitskraft zur Verfügung standen, daß er also nach der Rückkehr zum Flugplatz nicht sofort mit der Arbeit beginnen mußte, sondern noch für mehrere Stunden eine Schlafstelle aufsuchen konnte. Nach der Auffassung des Senats wird jedoch hierdurch nach der besonderen Lage des zu entscheidenden Falles der Versicherungsschutz nicht in Frage gestellt. Der Kläger bedurfte zur Wiedererlangung seiner Arbeitskraft bis zum nächsten Morgen sowohl der Nahrung als auch des Schlafes, ohne daß er Gelegenheit gehabt hätte, für die Beschaffung der Nahrung rechtzeitig Vorsorge zu treffen. Ihm blieb daher, wie das LSG. zutreffend ausgeführt hat, aus Gründen, die seinem Arbeitsverhältnis entsprangen, keine andere Möglichkeit, als in den späten Abendstunden außerhalb des Flugplatzes ein Essen zu sich zu nehmen. Abgesehen davon, daß es ihm nicht zuzumuten gewesen wäre, mit der Nahrungsaufnahme bis unmittelbar vor Dienstbeginn zu warten, hätte er auch in den frühen Morgenstunden vor 6 Uhr in keiner Kantine oder Gastwirtschaft eine Mahlzeit erhalten. Es lag daher in seinem Arbeitsverhältnis begründet, daß er zur Unfallzeit an den Unfallort geführt wurde und dort verunglückte. Damit ist der vom Gesetz geforderte Zusammenhang zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit gegeben, ohne daß zu prüfen gewesen wäre, ob die amerikanische Dienststelle – wie der Beklagte ausgeführt hat – für den Fall daß der Kläger am nächsten Morgen nicht rechtzeitig zum Dienst erschienen wäre, jederzeit eine Ersatzkraft hätte erhalten können. Der Anwendung des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO steht nach der besonderen Lage des zu entscheidenden Falles auch nicht entgegen, daß der Kläger auf seiner Arbeitsstätte zugleich eine Schlafgelegenheit hatte (vgl. hierzu OVA. Freiburg, Breith. 1948 S. 132); die Entscheidung des RVA. vom 13. März 1929 (EuM. Bd. 24 S. 340), die einem Seemann wegen eines auf dem Rückweg vom Landaufenthalt in der Nacht erlittenen Unfalls den Versicherungsschutz versagt hat, betrifft im Unterschied zum vorliegenden Fall keinen Weg, der mit der versicherten Tätigkeit zusammenhing.
Dem LSG. ist auch darin beizupflichten, daß der Versicherungsschutz durch die Dauer des Kantinenaufenthalts von möglicherweise zweieinviertel Stunden nicht beeinträchtigt worden ist. Die Zeitdauer allein vermochte den Zusammenhang zwischen der Einnahme einer Stärkung und dem Ausruhen einerseits und der versicherten Tätigkeit andererseits nicht auszuschließen; sie hätte allenfalls ein Anhaltspunkt dafür sein können, daß es dem Kläger nicht nur oder nicht wesentlich auf die Erholung und Kräftigung angekommen wäre, sondern, daß er andere, mit dem Unternehmen nicht zusammenhängende persönliche Dinge verrichtet hätte, was zur Folge gehabt hätte, daß der Rückweg von der Kantine zum Flugplatz nicht als Weg nach der Arbeitsstätte, sondern als Rückweg von einer rein persönlichen Verrichtung anzusehen wäre. Da der Kläger jedoch, wie feststeht, lediglich eine Mahlzeit und Getränke in nicht übermäßigen Mengen zu sich genommen und sich ausgeruht hat, ist das LSG. mit Recht zu dem Schluß gelangt, der Aufenthalt in der Kantine habe wesentlich der Erhaltung und Wiedererlangung der Arbeitskraft gedient und erfülle somit das Erfordernis des Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit.
Das Vorbringen der Revision, die unfallbringende Straßenglätte sei keine für die Kellnertätigkeit des Klägers typische Betriebsgefahr gewesen, geht schon insofern fehl, als nicht ein Arbeitsunfall im Sinne des § 542 RVO zur Beurteilung steht, sondern ein Wegeunfall; die Straßenglätte bildet auf einem Wege nach der Arbeitsstätte, der über eine Straße führt, eine in der Winterzeit durchaus übliche Gefahr.
Nach alledem hat das LSG. den Beklagten mit Recht als entschädigungspflichtig angesehen. Seine Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 SGG.
Unterschriften
Brackmann, Bundesrichter Dr. Baresel ist infolge Erkrankung verhindert, das Urteil zu unterschreiben, Schmitt, Brackmann
Fundstellen