Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 06.02.1958)

SG Lübeck (Urteil vom 28.10.1957)

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Schleswig vom 6. Februar 1958 und des Sozialgerichts Lübeck vom 28. Oktober 1957 sowie der Bescheid der Beklagten vom 17. Dezember 1956 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger wegen seines Arbeitsunfalls vom 27. August 1956 die Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I

Der als Schriftsetzer bei der „Lübecker Nachrichten” beschäftigte Kläger erlitt am Morgen des 27. August 1956 durch Unfall einen Schädelbruch mit Gehirnerschütterung. Er hatte sich gegen 6.20 Uhr mit dem Fahrrad auf den Weg von seiner Wohnung zur Druckerei begeben, wo seine Arbeit um 7.00 Uhr beginnen sollte. In der in einer Seitenstraße neben dem Druckereigebäude gelegenen Betriebsgarage hatte er sein Fahrrad abgestellt und seinen Weg zu Fuß in die Königstraße fortgesetzt, wo sich auf der linken Seite – aus seiner Gehrichtung betrachtet – der Eingang der Druckerei befand. Vor dem Eingang angelangt, ging er nicht sofort hinein an seinen Arbeitsplatz, sondern betrat den Fahrdamm der Königstraße, um von einem gegenüber dem Druckereieingang auf der anderen Straßenseite befindlichen Automaten Zigaretten zu holen. Hierbei wurde er um 6.50 Uhr vor Erreichung des gegenüberliegenden Bürgersteiges von einem Motorradfahrer angefahren und zu Boden gerissen.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 17. Dezember 1956 die Gewährung einer Entschädigung ab mit der Begründung, die Abweichung des Klägers vom direkten Weg zur Arbeitsstätte zwecks Vornahme einer „eigenwirtschaftlichen” Tätigkeit habe eine Lösung vom Betrieb bewirkt.

Das Sozialgericht (SG.) hat mit Urteil vom 28. Oktober 1957 die Klage abgewiesen: Der Kläger habe seinen nach § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Versicherungsschutz stehenden Weg zur Arbeitsstätte unterbrochen, als er den linken Gehweg der Königstraße verlassen und den Fahrdamm betreten habe. Diese zwar nur vorübergehende Unterbrechung sei hier wesentlich, da sie privaten Interessen gedient und eine erhöhte Gefahr geschaffen habe. Der Zigaretteneinkauf hätte nur dann als geringfügig und rechtlich nicht ins Gewicht fallend angesehen werden können, wenn die Besorgung im Vorbeigehen an einem auf derselben Straßenseite befindlichen Verkaufsstand erfolgt wäre. Der Zigaretteneinkauf liege nicht im betrieblichen Interesse; vielmehr diene das Rauchen ausschließlich der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse.

Auch die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG.) hat in seinem Urteil vom 6. Februar 1958 ausgeführt, der in § 543 RVO vorausgesetzte Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit sei schon in örtlicher Hinsicht nicht gewahrt, da die Strecke vom Betriebseingang bis zum Zigarettenautomaten um ein Mehrfaches länger sei als diejenige vom Eingang bis zum Inneren des Betriebsgebäudes. Maßgebend sei jedoch, daß der vom Kläger verfolgte Zweck – der Zigaretteneinkauf – dem Überqueren der Königstraße das Gepräge gegeben und die unter Versicherungsschutz stehende Erreichung des Betriebes verdrängt habe. Der Standpunkt des Klägers, der Zigaretteneinkauf hänge mit Betriebsinteressen zusammen, da Tabakgenuß dem Betrieb dienlich sei, treffe nicht zu. Mithin fehle es an einem rechtserheblichen Zusammenhang zwischen dem Betreten des Fahrdamms und der bevorstehenden Arbeit des Klägers.

Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 12. März 1958 zugestellte Urteil hat der Kläger am 3. April 1958 Revision eingelegt und sie am 11. April 1958 mit der Rüge unrichtiger Anwendung des § 543 RVO begründet: Der Gang zum Zigarettenautomaten sei wesentlich durch betriebliche Interessen beeinflußt gewesen, da Tabakgenuß geeignet sei, die Arbeitsfreudigkeit anzuregen. Davon abgesehen, sei der Versicherungsschutz aber auch deshalb zu bejahen, weil das Überqueren der Königstraße keine erhebliche Unterbrechung des Weges zur Arbeitsstätte dargestellt habe. Versicherungsrechtlich sei bei dem Weg im Sinne des § 543 RVO stets die gesamte Breite der vom Beschäftigten begangenen Straße – einschließlich beider Bürgersteige und des Fahrdammes – geschützt und stehe unter „Versicherungsbann”. Im Unterschied zu dem vom erkennenden Senat am 16. April 1957 entschiedenen Fall (SozR. RVO § 543 Bl. Aa 2 Nr. 5) habe der Kläger hier nicht ein Geschäftsgrundstück betreten, sondern sich nur aus dem auf der Straße angebrachten Automaten die Zigaretten besorgen wollen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der Urteile des LSG. und des SG. sowie des Bescheides der Beklagten diese zu verurteilen, dem Kläger Unfallrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist statthaft durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Bei der versicherungsrechtlichen Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts ist im Anschluß an die vom erkennenden Senat aufgestellten Begriffsbestimmungen (vgl. SozR. RVO § 543 Bl. Aa 2 Nr. 5) davon auszugehen, daß der Kläger in dem Augenblick, als er die Königstraße in Richtung auf den Zigarettenautomaten überquerte, den Weg zur Arbeitsstätte vorübergehend unterbrach, denn der Gang zum Automaten führte den Kläger von dem bereits erreichten Punkt unmittelbar vor der Druckerei wieder von dieser hinweg, es handelte sich also nicht mehr um eine Fortbewegung zur Arbeitsstätte hin, sondern um eine dazwischen eingeschobene Verrichtung des Klägers, die nicht die Erreichung des Druckereigebäudes zum Ziel hatte.

Für die Frage, ob eine solche private Besorgung den Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO beeinträchtigt, kommt es darauf an, ob die Besorgung hinsichtlich ihrer zeitlichen Dauer und der Art ihrer Erledigung eine rechtlich ins Gewicht fallende Unterbrechung des Weges zur Arbeitsstätte bedeutet oder aber nur als geringfügig anzusehen ist (vgl. SozR. a.a.O.). Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA.), das mit Recht für die Beurteilung die allgemeine Verkehrsauffassung als maßgebend bezeichnet hat (vgl. EuM. Bd. 30 S. 321; Bd. 33 S. 268); danach sind dem versicherten Weg solche Unterbrechungen zuzurechnen, die üblicherweise Örtlich und zeitlich noch als Teile des Weges in seiner Gesamtheit angesehen werden.

Den Erwägungen der Vorinstanzen, die eine rechtlich erhebliche Unterbrechung angenommen haben, konnte der Senat bei Zugrundelegung dieses Maßstabes nicht beipflichten.

Der vorliegende Sachverhalt ist dadurch gekennzeichnet, daß der Kläger seine Besorgung nicht in einem Ladengeschäft, sondern an einem Automaten erledigen wollte, welcher in der als Weg benutzten Straße, allerdings auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig, aufgestellt war. Hierzu hat das SG. die Auffassung vertreten, als geringfügig könne eine Besorgung im Vorbeigehen an einem Straßenverkaufsstand nur dann angesehen werden, wenn sich der Verkaufsstand auf der vom Beschäftigten für die Zurücklegung des Weges ohnehin benutzten Straßenseite befunden habe. Diese Einschränkung erscheint dem Senat nicht geboten; denn nach allgemeiner Verkehrsauffassung ist es für die Beurteilung der Natur und Zweckbestimmung eines Weges gewöhnlich ohne Bedeutung, auf welcher Straßenseite er zurückgelegt wird, und ebenso kommt es nicht darauf an, aus welchen Gründen etwa der Beschäftigte von der einen auf die andere Straßenseite hinüberwechselt (vgl. RVA. EuM. Bd. 30 S. 321). Ob die Verkehrsauffassung so weit reicht, daß mit dem von der Revision vertretenen Standpunkt ein „Versicherungsbann” anzuerkennen ist, der sich auf die gesamte Ausdehnung der für den Weg benutzten Straße – also einschließlich des Fahrdamms und beider Gehsteige – erstrecken soll, kann anlässlich des hier zu entscheidenden Falles dahingestellt bleiben. Denn der Kläger hatte an dem betreffenden Morgen auf der von ihm begangenen Straße nicht fortgesetzt einen Wechsel der Gehsteige vollzogen, vielmehr beabsichtigte er lediglich, zu einem bestimmten Zweck die Königstraße zweimal – zum gegenüber befindlichen Automaten und wieder zurück – zu überqueren. Er wäre dabei auch – im Unterschied zu vergleichbaren, vom erkennenden Senat entschiedenen Fällen (vgl. SozR. RVO § 543 Bl. Aa 2 Nr. 5; Aa 8 Nr. 12; BSG. 11 S. 154) – imstande gewesen, seine private Besorgung im Bereich der Straße selbst zu erledigen, ohne ein von der Straße abgesondertes Grundstück zu betreten; die Besorgung hätte mithin so „im Vorbeigehen” erfolgen können, wie etwa der Einwurf eines Briefes in den Postkasten; auch hatte sich der Kläger – anders als bei dem in SozR. RVO § 543 Bl. Aa 8 Nr. 12 entschiedenen Sachverhalt – nicht nennenswert von der Arbeitsstätte entfernt.

Räumlich und zeitlich war die kurzfristige Verrichtung, bei welcher der Kläger den Unfall erlitt, im Verhältnis zum Gesamtumfang des Weges zur Arbeitsstätte so geringfügig, daß hierdurch eine Unterbrechung des Versicherungsschutzes noch nicht eintrat. Bei der Erwägung des LSG., im Vergleich zu den wenigen Schritten, die der Kläger noch vom Bürgersteig vor dem Betriebseingang in die Druckerei hinein zurückzulegen gehabt hätte, sei der Gang zum Automaten auf der anderen Straßenseite und wieder zurück um ein Mehrfaches länger gewesen, wird verkannt, daß nach der Verkehrsauffassung nicht nur der letzte Abschnitt des Weges zur Arbeitsstätte berücksichtigt werden darf, es vielmehr auf die Gesamtstrecke dieses Weges ankommt. Die Gesamtstrecke war aber im vorliegenden Fall von erheblicher Länge, denn nach den Feststellungen des LSG. war der Kläger bis zum Erreichen der Betriebsgarage schon eine halbe Stunde mit dem Fahrrad unterwegs gewesen; hiermit verglichen war der Gang quer über die Königstraße hinweg und wieder zurück zweifellos nur von ganz unwesentlicher Ausdehnung.

Da hiernach in der zum Unfall führenden Verrichtung des Klägers eine rechtlich ins Gewicht fallende Unterbrechung des Weges zur Arbeitsstätte nicht zu erblicken ist, haben die Vorinstanzen den Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO zu Unrecht verneint. Auf die in ihren Entscheidungen weiterhin erörterte Frage, ob der vom Kläger beabsichtigte Zigaretteneinkauf den Betriebsbelangen förderlich gewesen sei, kommt es nicht mehr an; somit erübrigte sich für den erkennenden Senat eine Prüfung, ob und unter welchen Voraussetzungen die Besorgung von Genußmitteln während der Zurücklegung des Weges zur Arbeitsstätte noch der Tätigkeit im Unternehmen zugerechnet werden kann.

Der Senat hat in dem Klagebegehren – unter Würdigung des vom Kläger im Berufungsverfahren gestellten Sachantrages – eine zusammengefaßte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) erblickt. Diese Klage ist dem Grunde nach gerechtfertigt; unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und des angefochtenen Bescheides war deshalb die, Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die Folgen seines Arbeitsunfalls die Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren (§ 130 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Senatspräsident Brackmann ist infolge Urlaubs verhindert, das Urteil zu unterschreiben.

 

Unterschriften

Dr. Baresel, Schmitt, Dr. Baresel

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926330

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