Entscheidungsstichwort (Thema)
Höhe von Übergangsgeld nach § 1241 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO)
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 1967 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 7. Dezember 1965 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird unter entsprechender Abänderung ihres Verwaltungsakts vom 27. Oktober 1964 verurteilt, der Klägerin als Rechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes das für die Zeit vor den 17. Mai 1963 festgesetzte Übergangsgeld bis zum 23. Juli 1964 weiterzuzahlen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
Der Rechtsstreit, den die Klägerin als Rechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes - des Versicherten - aufgenommen hat, wird über die Höhe des Übergangsgeldes geführt, das dem Versicherten während der Durchführung einer Heilbehandlung zustand.
Die Beklagte gewährte dem Versicherten in der Zeit vom 29. April 1963 bis zum 10. Juli 1964 wegen einer Lungentuberkulose stationäre und anschließend bis zum 23. Juli 1964 ambulante Heilbehandlung. Die Höhe des Übergangsgeldes setzte sie am 19. Juli 1963 unter Berücksichtigung von vier überwiegend unterhaltenen Familienangehörigen - Ehefrau, drei Kinder - fest. Zu dieser Zeit befanden sich die Kinder - ebenfalls auf Kosten der Beklagten - bereits in stationärer Behandlung. Am 27. Oktober 1964 berechnete die Beklagte das Übergangsgeld neu. Sie rechnete zugunsten des Versicherten ein höheres Bruttoarbeitsentgelt an, auf der anderen Seite kürzte sie die Leistung für die Zeit, in der die Kinder sich in stationärer Heilbehandlung befunden hatten (vom 17. Mai 1963 an), um den Kinderanteil. Die Beschlüsse der Organe der Beklagten enthalten für Fälle dieser Art keine ausdrückliche Regelung; bei ihrer Leistungszusage hatte sich auch die Beklagte eine Änderung nicht vorbehalten.
Die gegen die Kürzung des Übergangsgeldes erhobene Klage ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts - SG- Dortmund vom 7. Dezember 1965). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen. Bei seiner Entscheidung ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß dem Versicherten ein Anspruch auf Übergangsgeld nach § 1244 a Abs. 6 Buchstaben a und b der Reichsversicherungsordnung (RVO) zustand und daß die Höhe des Übergangsgeldes sich nach § 1241 Abs. 2 RVO bestimmt. Vor Beginn der Heilbehandlung habe er den überwiegenden Unterhalt für vier Personen (Ehefrau und drei Kinder) getragen. Jedoch dürfe nicht allein auf diese Zeit abgestellt werden. Der Wortlaut des Gesetzes zwinge nicht zu einer solchen Auslegung. Im übrigen bedeute die im Gesetz vorgeschriebene "Berücksichtigung" einer bestimmten Zahl von Familienangehörigen nicht, daß damit ein unveränderlicher Haßstab für die Berechnung des Übergangsgeldes gesetzt sei. Lediglich der Ausgangspunkt für die Berechnung sei damit festgelegt worden. Auch wenn man der vorbezeichneten Auslegung nicht folgen wolle, gelange man nicht zu einem anderen Ergebnis. Man müsse dann von einer Lücke im Gesetz ausgehen, weil anzunehmen sei, der Gesetzgeber habe den Fall, daß sich hinsichtlich der Anzahl der unterhaltenen Familienmitglieder während der Durchführung der Heilbehandlung etwas ändere, nicht beachtet. Diese Lücke sei aus dem Grundgedanken des Gesetzes auszufüllen,
Gegen diese Entscheidung richtet sich die - zugelassene - Revision der Klägerin. Sie geht vom Wortlaut des Gesetzes aus. Wenn auch § 1241 Abs. 2 RVO hinsichtlich der Höhe des Übergangsgeldes nur eine Rahmenvorschrift darstelle, so sei doch in Satz 1 a.a.O. eindeutig bestimmt, daß es in jedem Fall auf die Anzahl der vor, Beginn der Maßnahmen unterhaltenen Personen ankomme. Die Gewährung des Übergangsgeldes ziele auf die wirtschaftliche Sicherung der Angehörigen des Versicherten hin. Dazu gehörten nicht nur Unterkunft und Verpflegung, sondern auch alle sonstigen Unterhaltsleistungen (insbesondere Aufwendungen für Bekleidung, für Besuche der Kinder u. dergl.). Eine Kürzung des Übergangsgeldes könne deshalb allenfalls in Betracht gezogen werden, wenn ein vom Versicherten unterhaltener Familienangehöriger während der Dauer der Heilbehandlung sterbe. Schließlich sei weder von der Beklagten noch von den Vorinstanzen hinreichend beachtet worden, daß sich die Kinder des Versicherten zur Zeit der Festsetzung des Übergangsgeldes am 19. Juli 1963 bereits in stationärer Heilbehandlung befunden hätten.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und entsprechender Abänderung des Verwaltungsakts der Beklagten vom 27. Oktober 1964 diese zur Gewährung des höheren Übergangsgeldes zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie bezieht sich im wesentlichen auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils. Ergänzend weist sie darauf hin, daß ihr Verwaltungsakt vom 19. Juli 1963 zwar bindend geworden sei, daß er jedoch die Veränderungen, die seit Beginn der stationären Heilbehandlung in den Familienverhältnissen des Versicherten eingetreten sei, außer acht gelassen habe.
Die Revision ist begründet. Die Beklagte war nicht berechtigt, das dem Versicherten am 19. Juli 1963 in Anwendung der §§ 1244 a Abs. 6, 1241 Abs. 2 RVO bewilligte Übergangsgeld während der Dauer der stationären Heilbehandlung zu kürzen.
Zwar ist eine nachträgliche Änderung der Höhe des Übergangsgeldes während der Durchführung von Rehabilitationsmaßnahmen nicht schlechthin ausgeschlossen. Dies hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 30. Juni 1969 - Az. 4 RJ 23/69 - ausgesprochen. Dort ist dargelegt, daß der Wortlaut des Gesetzes, wonach das Übergangsgeld unter Berücksichtigung der von dem Betreuten "vor Beginn der Maßnahmen" überwiegend unterhaltenen Familienangehörigen festzusetzen ist (§ 1241 Abs. 2 Satz 1 RVO), dieser Interpretation nicht entgegensteht. Das Gesetz zieht vielmehr einen weiten Rahmen, der durch die Anwendung sachgemäßen Ermessens vom Versicherungsträger auszufüllen ist. "Vor Beginn der Maßnahmen" bedeutet, daß die Entscheidung des Versicherungsträgers sich an diesem Zeitpunkt zu orientieren hat. Hiernach kommt - während der Durchführung einer Heilbehandlung von nicht absehbarer Dauer - eine Erhöhung des Übergangsgeldes bei Geburt eines Kindes oder eine Kürzung beim Tode eines vorher überwiegend unterhaltenen Familienangehörigen in Betracht. Diese Auslegung folgt aus dem Zweck, der mit der Ausgabe des Übergangsgeldes erreicht werden soll. Mit der Gewährung dieser Leistung soll der Unterhalt des Betreuten und seiner Familienangehörigen in dem gewohnten Umfang sichergestellt werden. Eine Schlechterstellung dieses Personenkreises muß vermieden, ein ungerechtfertigter Vorteil aber auch verhindert werden. Das bedeutet, daß die Leistung einer wesentlichen Änderung der für sie maßgeblichen Verhältnisse muß angepaßt werden können.
Wenn ein Familienangehöriger, der zuvor vom Träger der Rentenversicherung betreut worden ist, während der Durchführung der Maßnahmen im Sinne des § 1241 Abs. 1 RVO in den Familienverband entlassen wird, so stehen dem Betreuten in der Regel höhere Unterhaltsbedürfnisse der Familie gegenüber. Mit einer Verminderung kann dagegen gerechnet werden, wenn später ein Familienangehöriger vom Rentenversicherungsträger ebenfalls in stationäre Heilbehandlung genommen wird. Einen weiteren Fingerzeig dafür, daß auch in solchen Fällen beim Vorliegen der übrigen Voraussetzungen eine nachträgliche Änderung der Höhe des Übergangsgeldes möglich sein muß, gibt außer den bereits angezeigten Erwägungen die Vorschrift des § 1241 Abs. 3 RVO. Hiernach wird u.a. Übergangsgeld insoweit nicht gewährt, als der Betreute während der Durchführung der Maßnahmen eine Rente aus der Rentenversicherung der Arbeiter bezieht. Der Rentenversicherungsträger ist also zur Kürzung oder gar zur Entziehung des Übergangsgeldes verpflichtet, wenn er selbst eine Leistung erbringt. Es liegt nahe, ihm dieses Recht im Hinblick auf den dem Übergangsgeld innewohnenden Zweck auch dann zuzubilligen, wenn ein vom Betreuten überwiegend unterhaltener Familienangehöriger später aus Mitteln der Rentenversicherung versorgt wird.
Die im vorliegenden Fall anzuwendenden Beschlüsse der Organe der Beklagten (vgl. § 1241 Abs. 2 Satz 1 RVO) treffen allerdings insoweit keine ausdrückliche Regelung. Es kann jedoch unentschieden bleiben, ob allein dieser Umstand bereits dazu führt, daß die Beklagte an einer Kürzung des Übergangsgeldes gehindert ist. Immerhin ist in diesem Zusammenhang zu erwägen, daß auch Beschlüsse der Organe des Versicherungsträgers der Auslegung fähig sind und daß sogar eine Lückenausfüllung denkbar sein mag. Selbst wenn man aber davon ausgeht, daß im Wege der Lückenausfüllung auch für Fälle der vorliegenden Art die Kürzung des Übergangsgeldes in Betracht kommen könnte, so ist eine Änderung des am 19. Juli 1963 ergangenen Verwaltungsaktes zuungunsten des Betreuten dennoch ausgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Kinder des Betreuten bereits seit etwa zwei Monaten auf Kosten der Beklagten wegen einer Tuberkuloseerkrankung ebenfalls in stationärer Heilbehandlung. Eine bedeutsame Änderung in den Familienverhältnissen des Betreuten ist bis zum Abschluß der Heilbehandlung nicht mehr eingetreten. Der Kürzung des Übergangsgeldes steht daher die Bindungswirkung (§ 77 SGG) des Verwaltungsaktes der Beklagten vom 19. Juli 1963 entgegen. Eine Durchbrechung der Bindungswirkung hält der Senat im vorliegenden Fall für ausgeschlossen. Die Beklagte war - jedenfalls unter den Besonderheiten des zu entscheidenden Falles - nicht berechtigt, ihre Leistungszusage vom 19. Juli 1963 der Höhe nach zu ändern. Die Tatsache, daß die Kinder des Betreuten in stationäre Heilbehandlung genommen worden sind, schließt nämlich nicht aus, daß der Versicherte insoweit weitere Unterhaltsleistungen zu erbringen hatte. Abgesehen von den Aufwendungen für Bekleidung und dergleichen sind die durch die gemeinsame Wohnung notwendigen Verpflichtungen bestehen geblieben. Die Unterhaltsverpflichtung des Betreuten ist - anders als in dem unter dem Aktenzeichen 4 RJ 23/69 entschiedenen Fall - nicht in vollem Umfang entfallen. Das vom Versicherungsträger auszuübende Ermessen wird daher in der Regel nicht dazu führen können, daß in Fällen dieser Art das anteilmäßig gewährte Übergangsgeld in vollem Umfang zu versagen ist; es wird allenfalls eine Kürzung dieses Anteils vorgenommen werden dürfen. Dafür spricht auch die Vorschrift des § 1244 a Abs. 6 Buchst. c RVO. Hiernach erhalten Versicherte Übergangsgeld für ihren Ehegatten oder für ihre Kinder für die Dauer der stationären Heilbehandlung nach Abs. 3 zur Bestreitung ihrer persönlichen Bedürfnisse, soweit diese nicht durch Sachleistungen befriedigt werden. Der Gesetzgeber geht demnach davon aus, daß die Unterhaltsbedürfnisse durch die stationäre Heilbehandlung nicht in vollem Umfang befriedigt werden und daß im Einzelfall sogar höhere Aufwendungen erforderlich sein können. Das vom Versicherungsträger anzuwendende pflichtgemäße Ermessen kann daher dazu führen, daß auch in Fällen der vorliegenden Art das von Anfang an gewährte Übergangsgeld trotz der stationären Heilbehandlung von Familienangehörigen weitergezahlt wird. Die am 19. Juli 1963 vom Versicherungsträger ergangene Entscheidung, Übergangsgeld unter Berücksichtigung von vier vom Betreuten überwiegend unterhaltenen Personen zu gewähren, konnte daher auch bei Anwendung eines sachgemäßen Ermessens als gerechtfertigt erscheinen. In einem solchen Fall bleibt für eine spätere - abweichende - Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers kein Raum mehr, wenn es - wie hier - an einer nach der Leistungszusage eingetretenen, relevanten Änderung in den Familienverhältnissen des Betreuten fehlt.
Hiernach kann offenbleiben, ob dem Umstand, daß die Beklagte sich eine Änderung der Höhe des Übergangsgeldes bei ihrer Leistungszusage nicht vorbehalten hat, Bedeutung zukommt. Sie ist verpflichtet, das Übergangsgeld unter Berücksichtigung von vier vom Betreuten überwiegend unterhaltenen Familienangehörigen über den 17. Mai 1963 hinaus weiterzuzahlen. Die Urteile der Vorinstanzen sind daher aufzuheben, der Verwaltungsakt der Beklagten vom 27. Oktober 1964 muß entsprechend abgeändert werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Unterschriften
Dr. Ecker
Dr. Straub
Müller
Fundstellen