Leitsatz (amtlich)

Ein Bäckermeister, der Inhaber eines größeren Bäckereibetriebes mit 3 Verkaufsstellen ist und 9 Hilfskräfte beschäftigt, hat nicht seine "berufliche Beschäftigung aufgegeben" (3. BKVO Anl Nr 41 idF der 6. BKVO vom 1961-04-28), wenn er wegen eines Bronchialasthmas nur seine handwerkliche Tätigkeit in der Backstube hat einstellen müssen, aber weiterhin das Unternehmen leitet und diese Tätigkeit infolge der Freistellung von der handwerklichen Arbeit noch intensiviert.

 

Normenkette

BKVO 6 § 1 Fassung: 1961-04-28; BKVO 3 Anl 1 Nr. 41 Fassung: 1961-04-28

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 10. Juni 1966 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 20. November 1964 werden aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der im Jahre 1925 geborene Kläger hat das Bäckerhandwerk erlernt. Nach Abschluß seiner Lehrzeit arbeitete er seit Januar 1947 in dem im Jahre 1880 vom Großvater gegründeten und vom Vater weitergeführten Bäckereibetrieb, den er, als sein Vater im Jahre 1954 starb, übernahm. Es handelt sich um einen größeren, in der Nähe des Hauptbahnhofes in Hamburg gelegenen Bäckereibetrieb mit zwei weiteren Verkaufsstellen in der S-straße und in der L. In diesem Betrieb beschäftigt der Kläger, der im Jahre 1952 die Meisterprüfung bestanden hat, neun Hilfskräfte, darunter einen Bäckermeister und einen Konditormeister. Bis Juni 1961 arbeitete der Kläger in der Backstube mit. Im Frühjahr 1950 erkrankte er erstmalig an Asthmaanfällen. In der Folgezeit wiederholten sich diese Anfälle. Vom 7. bis zum 20. Juli 1961 war der Kläger im Allgemeinen Krankenhaus St. G und vom 23. bis 31. August 1961 im Kreiskrankenhaus P wegen Asthma bronchiale in stationärer Behandlung.

Am 19. September 1961 erstattete der Kläger bei der Beklagten Anzeige über das Vorliegen einer Berufskrankheit (BK). Auf Veranlassung des Staatlichen Gewerbearztes Dr. W vom Amt für Arbeitsschutz der Freien und Hansestadt H erstatteten der Chefarzt der Medizinischen Abteilung des Krankenhauses P, Prof. Dr. W und Oberarzt Dr. S am 31. Januar 1962 ein Gutachten. Sie kamen zu dem Ergebnis, daß der Kläger an einem Asthma bronchiale und einer Rhinitis vasomotoria durch Allergie gegen die Berufsantigene Roggen- und Weizenkleie bzw. Mehl leide (Nr. 41 der Anlage zur Sechsten Berufskrankheiten-Verordnung - BKVO - vom 28. April 1961) und seine Erwerbsfähigkeit hierdurch seit ungefähr einem Jahr um 20 v. H. gemindert sei.

Mit Bescheid vom 15. Januar 1963 lehnte die Beklagte den Entschädigungsanspruch des Klägers ab, weil die Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK nicht gegeben seien. Zwar sei die Asthmaerkrankung auf berufliche Einflüsse zurückzuführen, der Kläger habe aber seinen Beruf nicht aufgegeben. Da seine Wohnung direkt über der Bäckerei liege, sei eine absolute Trennung von den Roggen- und Weizenantigenen in der Wohnung ebensowenig gewährleistet wie in den im Vorderhaus gelegenen Büroräumen. Ferner beabsichtige der Kläger nur die handwerkliche Mitarbeit aufzugeben, nicht aber die kaufmännische Leitung. Die bloße Aufgabe der handwerklichen Tätigkeit stelle jedoch nach der Rechtsprechung keinen Berufswechsel dar. Solange der Kläger noch die kaufmännische Leitung seines Betriebes innehabe, ständen ihm keine Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu.

Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hamburg nach Anhörung des Medizinaldirektors Dr. H. mit Urteil vom 20. November 1964 den Bescheid der Beklagten vom 15. Januar 1963 "unter Feststellung der Erkrankung des Klägers an Asthma bronchiale als Berufskrankheit im Sinne der Nr. 41 der Sechsten BKVO" aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die gesetzliche Entschädigung zu gewähren. Die hiergegen eingelegte Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg mit Urteil vom 10. Juni 1966 zurückgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt: Nach den gutachtlichen Äußerungen des Chefarztes Dr. W und des gerichtlichen Sachverständigen Medizinaldirektor Prof. Dr. H handele es sich bei dem beim Kläger festgestellten Asthma bronchiale um eine Allergie gegen die Berufsantigene Roggen- und Weizenkleie bzw. Mehl. Durch diese Erkrankung sei seine Erwerbsfähigkeit etwa seit Anfang Januar 1961 um 20 v. H. gemindert. Entgegen der Ansicht der Beklagten habe das Bronchialasthma, wie es Nr. 41 der Anlage zur Sechsten BKVO voraussetze, den Kläger zur Aufgabe seiner beruflichen Beschäftigung gezwungen. Der Kläger, der seine Tätigkeit in der Backstube aufgegeben habe, erledige nur noch die anfallenden kaufmännischen Arbeiten, soweit sie nicht Hilfskräften übertragen worden seien, fahre die erforderlichen Backwaren zu den beiden Verkaufsstellen und überprüfe sonnabends die Reinigung der Backstube. Wenn ein früher in der Backstube tätiger selbständiger Bäckermeister - wie hier der Kläger - einen wesentlichen Teil seiner Fachtätigkeit infolge der schädigenden Einwirkungen aufgegeben habe, so habe er, auch wenn er die Leitung seines Betriebes beibehalte und sich im übrigen mit kaufmännischen Arbeiten beschäftige, die "berufliche Beschäftigung aufgegeben". Der Kläger habe deshalb, da der Versicherungsfall im Jahre 1961, also nach dem 1. Januar 1952 eingetreten sei, gemäß § 4 der Sechsten BKVO Anspruch auf Entschädigung.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Sie rügt, das LSG habe Nr. 41 der Anlage zur Sechsten BKVO verletzt. Es habe übersehen, daß die Vorschrift die Aufgabe der beruflichen Beschäftigung schlechthin verlange. Der Kläger sei früher sowohl handwerklich als auch in kaufmännischer Weise - noch dazu in einem besonders großen Betrieb - tätig gewesen. In einem solchen Falle fordere die angeführte Vorschrift die Aufgabe der beruflichen Tätigkeit in beiden Teilbereichen. Der Kläger habe seine berufliche Beschäftigung jedoch nur eingeschränkt.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig.

II

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig und auch begründet.

Rechtsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Entschädigungsanspruch ist § 545 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF in Verbindung mit § 1 der Dritten BKVO und Nr. 41 der Anlage zur Dritten BKVO idF der Sechsten BKVO vom 28. April 1961 (BGBl I, 505). Das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 30. April 1965 - UVNG - (BGBl I, 241) ist auf den vorliegenden Streitfall nicht anwendbar; es gilt - von hier nicht gegebenen Ausnahmen abgesehen - nur für Versicherungsfälle - Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten -, die sich nach seinem Inkrafttreten ereignet haben (Art. 4 § 1 UVNG).

Der Anspruch auf Gewährung von Verletztenrente hängt davon ab, ob eine zu entschädigende BK i. S. der Nr. 41 der Sechsten BKVO beim Kläger vorliegt. Für die Anerkennung eines Bronchialasthmas als BK ist erforderlich, daß diese Erkrankung "zur Aufgabe der beruflichen Beschäftigung oder jeder Erwerbsarbeit gezwungen hat".

Nach den nicht angefochtenen tatsächlichen Feststellungen des LSG besteht bei dem Kläger seit Anfang 1961 infolge von Allergie gegen die Berufsantigene Roggen- und Weizenkleie bzw. Mehl ein Bronchialasthma, das von etwa 1961 an die Erwerbsfähigkeit des Klägers um 20 v. H. herabgesetzt hat, also in einem Grade, der geeignet ist, einen Rentenanspruch auszulösen. Es fehlt jedoch an der vom Gesetz geforderten Aufgabe der beruflichen Beschäftigung oder jeder Erwerbsarbeit. Diese Voraussetzung hat das Berufungsgericht zu Unrecht als gegeben angenommen.

Das LSG geht zutreffend davon aus, daß in der neu aufgenommenen Nr. 41 der Anlage zur Sechsten BKVO nicht mehr, wie bisher in der Nr. 19 der Anlage zur Fünften BKVO vom 26. Juli 1952 (BGBl I, 395), darauf abgestellt wird, daß die Krankheit zum Wechsel des Berufs oder zur Aufgabe jeder Erwerbstätigkeit zwingt, sondern vorausgesetzt wird, daß die Erkrankung "zur Aufgabe der beruflichen Beschäftigung ... gezwungen hat". Das LSG meint nun, der Gesetzgeber habe mit dieser Formulierung nicht nur klargestellt, daß die Aufgabe der bisherigen beruflichen Beschäftigung tatsächlich erfolgt sein muß, sondern auch den Realitäten des Lebens - insbesondere bei Selbständigen - insofern Rechnung getragen, als er nicht mehr, wie früher, die völlige Aufgabe des Berufs, sondern nur die Aufgabe des wegen seiner schädigenden Einwirkungen gefährdenden Arbeitsplatzes fordere. Diese Auffassung leitet das LSG daraus her, daß in Nr. 41 der Anlage zur Sechsten BKVO - im Unterschied zur bisherigen Nr. 19 der Anlage zur Fünften BKVO - nicht der Begriff "Beruf", sondern "berufliche Beschäftigung" verwendet wird, also auf die Tätigkeit abgestellt werde. Dieser Auffassung vermag der Senat nicht beizutreten. Die Ersetzung der früheren Gegenwartsform durch die Vergangenheitsform in der Nr. 41 der Anlage zur Sechsten BKVO stellt nur klar, daß die Entschädigungspflicht erst begründet wird, wenn der Erkrankte seine berufliche Beschäftigung tatsächlich beendet, also aus dem objektiv gegebenen Zwang zur Aufgabe der Beschäftigung die entsprechenden Folgerungen gezogen hat. In diesem Sinne hat auch der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) die Neufassung der rechtsähnlichen Nr. 19 der Anlage zur Fünften BKVO durch Nr. 46 der Anlage zur Sechsten BKVO verstanden (Urteil vom 28. April 1967 - 2 RU 154/64 - BG 1967, 358).

Wie ebenfalls der 2. Senat des BSG bereits entschieden hat, ist bei der Beurteilung, ob ein Beruf i. S. der Nr. 19 der Anlage zur Fünften BKVO gewechselt oder eine berufliche Beschäftigung i. S. der Nr. 46 der Anlage zur Sechsten BKVO aufgegeben worden ist, von dem Beruf auszugehen, durch dessen Ausübung der Versicherte sich die Erkrankung zugezogen hat (BSG 18, 98, 99; Urteil vom 28. April 1967 aaO). Entsprechendes gilt für die "Aufgabe der beruflichen Beschäftigung" i. S. der Nr. 41 der Anlage zur Sechsten BKVO. Nach den Feststellungen des LSG ist der Kläger als selbständiger Bäckermeister Inhaber eines "größeren" Bäckereibetriebes in Hamburg mit zwei weiteren Filialverkaufsstellen in zwei anderen Hamburger Straßen und neun Hilfskräften, darunter einem Bäckermeister und einem Konditormeister. Die bisherige berufliche Beschäftigung des Klägers war nach diesen Feststellungen dadurch gekennzeichnet, daß neben seine persönlich handwerkliche Arbeit in erheblichem Umfang eine Tätigkeit als Unternehmer trat; sie ist somit nicht die eines Bäckermeisters, der seinen Bäckereibetrieb im wesentlichen allein betreibt und trägt. Über einen solchen Rahmen geht der beschriebene "größere" Bäckereibetrieb des Klägers mit zwei Filialverkaufsstellen weit hinaus. Ohne Mitarbeiter bei den handwerklichen Arbeiten und auch bei den übrigen, insbesondere den kaufmännischen Arbeiten, kann der Kläger bei der Gestaltung seines Betriebes und dessen Umfang nicht auskommen. Diese Mitarbeiter bedürfen aber einer koordinierenden Leitung und Beaufsichtigung. Nach Aufgabe seiner handwerklichen Tätigkeit in der Backstube hat der Kläger weiterhin den Betrieb geleitet, diese Tätigkeit durch organisatorische Veränderungen noch intensiviert, die beiden Verkaufsstellen mit Backwaren beliefert, Kundenbesuche durchgeführt und samstags die Reinigung der Backstube überprüft. Danach hat er nur einen Teil seiner beruflichen Beschäftigung aufgegeben und ist, wie das LSG festgestellt hat, "durch organisatorische Veränderungen" auf einen anderen Teil derselben ausgewichen. Während er vor dem Auftreten des Asthma bronchiale sowohl handwerklich - als Bäckermeister - als auch in der kaufmännischen Leitung des Betriebes tätig war, beschäftigt er sich seit seiner Erkrankung vornehmlich als Betriebsunternehmer in der Beaufsichtigung und Leitung des Betriebes sowie durch Ausführung von Kundenbesuchen, ferner beim Transport der Backwaren aus dem Bäckereibetrieb am H Hauptbahnhof in die beiden anderen Verkaufsstellen. Als maßgebende berufliche Beschäftigung i. S. der Nr. 41 der Anlage zur Sechsten BKVO ist danach bei dem Kläger die eines Inhabers eines "größeren Bäckereibetriebes mit zwei Verkaufsstellen" in zwei anderen Straßen in H anzusehen, die zugleich seine wirtschaftliche und soziale Lebensstellung geprägt hat.

Das Bronchialasthma hat den Kläger hiernach nur gezwungen, einen Teil seiner Fachtätigkeit zu unterlassen; diese hat er Mitarbeitern übertragen. Den anderen Teil seiner bisherigen beruflichen Beschäftigung, nämlich die Leitung des Betriebes und die sonstigen von ihm schon bisher ausgeübten Tätigkeiten, hat er beibehalten und zu ihnen noch neue Tätigkeiten übernommen. Dieser - beibehaltene und neu übernommene Teil stellt im Hinblick auf die Höhe des Umsatzes (1962 = 350.000 DM), auf die Zahl und räumliche Ausdehnung der Verkaufsstellen sowie auf die Zahl der Beschäftigten einen so wesentlichen Teil der beruflichen Beschäftigung des Klägers dar, daß entgegen der Ansicht des LSG in der bloßen Einstellung der rein handwerklichen Tätigkeit in der Backstube noch keine Aufgabe der beruflichen Beschäftigung i. S. der Nr. 41 der Anlage zur Sechsten BKVO gesehen werden kann; der Kläger hat diese Beschäftigung lediglich eingeschränkt. Der 2. Senat des BSG hat in einem ähnlichen Fall - Aufgabe des Umgangs mit Stoffen als Schneiderin, aber Weiterführung eines Modeateliers - die "Aufgabe der beruflichen Beschäftigung" verneint (Urteil vom 28. April 1967 aaO).

Bei dieser Sach- und Rechtslage konnte der Senat unentschieden lassen, ob der Kläger seine - ihn gesundheitlich gefährdende - Beschäftigung auch deshalb nicht in rechtlich erheblicher Weise aufgegeben hat, weil er noch gelegentlich die Backstube auf ihren Reinlichkeitszustand überprüft und sich möglicherweise auch sonstwie nicht hinreichend von Einflüssen der angeführten Berufsantigene fernhält (dazu BSG 10, 286, 290).

Nach der Rechtsprechung des 2. Senats zu Nr. 19 zur Anlage der Fünften BKVO kann allerdings ein Entschädigungsanspruch auch dann gegeben sein, wenn triftige Gründe den Versicherten veranlassen, seinen bisherigen Beruf einstweilen weiterauszuüben (BSG 10, 286, 291). Damit ist aber nur ausgesprochen worden, daß die Berufsaufgabe für eine gewisse Übergangszeit, die dem Versicherten billigerweise nicht versagt werden darf, hinausgeschoben werden kann. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts will der Kläger seinen Bäckereibetrieb aber nicht aufgeben. Da diese durch die Rechtsprechung entwickelte Ausnahmemöglichkeit dem Kläger somit nicht zugute kommen kann, bedarf es keiner Entscheidung, ob jene Rechtsprechung bei Anwendung der Nr. 41 der Anlage zur Sechsten BKVO übernommen werden könnte (dazu auch das angeführte Urteil des 2. Senats vom 28. April 1967).

Da der Kläger somit keinen Anspruch auf Entschädigung wegen einer BK hat, sind die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben; die Klage ist abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 215

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