Leitsatz (amtlich)
Hat die Erwerbsunfähigkeit eines Versicherten seit dem Beginn der zur Arbeitsunfähigkeit führenden Erkrankung fortwährend bis zum Versicherungsfall des Alters bestanden, so ist die versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit mit dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit auch dann nicht unterbrochen sondern beendet worden, wenn der Versicherte zunächst Übergangsgeld nach AVG § 18 Abs 1 S 2 ( = RVO § 1241 Abs 1 S 2), sodann Zeitrente nach AVG § 53 ( = RVO § 1276) und erst danach eine unbefristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezogen hat (Fortführung von BSG 1968-05-03 1/12 RJ 440/67 = BSGE 28, 68).
Normenkette
AVG § 18 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 36 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09, § 53 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1241 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1259 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09, § 1276 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. April 1970 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei der Berechnung eines vorgezogenen Altersruhegeldes Zeiten, in denen die Versicherte arbeitsunfähig krank war und Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bzw. Übergangsgeld bezogen hatte, als Ausfallzeiten i.S. des § 36 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zu berücksichtigen sind.
Die 1905 geborene Klägerin war wegen eines Leberleidens bis Februar 1961 und nach einem Arbeitsversuch erneut vom April 1961 an arbeitsunfähig krank. Auf ihren im Mai 1961 gestellten Rentenantrag wurde zunächst ein Heilverfahren durchgeführt und für die Zeit ab April 1961 Übergangsgeld gezahlt. Sodann bewilligte die Beklagte die Rente wegen Berufsunfähigkeit. Im Laufe eines beim Sozialgericht (SG) anhängigen Rechtsstreits erkannte die Beklagte die "vorübergehende" Erwerbsunfähigkeit der Klägerin für die Zeit vom 11. April 1961 bis 30. April 1963 an und gewährte nach Beendigung der Heilbehandlung entsprechende Rente. Auf erneute Rentenanträge der Klägerin verlängerte die Beklagte die Zeitrente zunächst bis zum 30. April 1964 und gewährte schließlich die Rente wegen "dauernder" Erwerbsunfähigkeit über den 30. April 1964 hinaus.
Bei der Umwandlung der Erwerbsunfähigkeitsrente in das vorgezogene Altersruhegeld vom 1. Juli 1968 an berücksichtigte die Beklagte die bis zum Ende der versicherungspflichtigen Beschäftigung zurückgelegten Versicherungszeiten, insgesamt 40,5 Versicherungsjahre (Bescheid vom 6. September 1968).
Die Klage, mit der die Klägerin die anschließende Zeit bis 30. April 1964 als Ausfallzeit auf das Altersruhegeld angerechnet haben will, hatte in beiden Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurück, weil eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit spätestens mit dem Eintritt dauernder Erwerbsunfähigkeit nicht nur i.S. des § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG unterbrochen, sondern beendet werde, wenn die Erwerbsunfähigkeit nicht später wieder weggefallen sei (Hinweis auf BSG 28, 68). Daran ändere auch nichts, daß die Beklagte zunächst nur eine vorübergehende Erwerbsunfähigkeit angenommen habe. Entscheidend sei vielmehr allein, daß nach der hier gebotenen rückschauenden Betrachtungsweise bei der Klägerin im streitigen Zeitraum von Anfang an eine Arbeitsunfähigkeit infolge Erwerbsunfähigkeit vorgelegen habe und damit ihre versicherungspflichtige Beschäftigung zum Abschluß gebracht worden sei (Urteil vom 28. April 1970).
Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG durch das Berufungsgericht. Der rückschauenden Betrachtungsweise des LSG, wonach die Erwerbsunfähigkeit bereits seit dem ersten Rentenbeginn bestanden habe, könne nicht gefolgt werden. Nach dem effektiven Krankheitsbefund habe es sich bei der Erwerbsunfähigkeit zunächst nur um einen vorübergehenden Zustand gehandelt; es habe also zunächst keine dauernde Erwerbsunfähigkeit vorgelegen. Diese Krankheitszeit müsse daher als Ausfallzeit für den neuen Versicherungsfall des vorgezogenen Altersruhegeldes angerechnet werden. Die Verschlechterung des Krankheitsbildes und damit der Dauerzustand der Erwerbsunfähigkeit sei erst ab Mai 1964 eingetreten. Erst ab diesem Zeitpunkt sei daher die Krankheitszeit nicht mehr als Ausfallzeit anrechnungsfähig.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 28. April 1970 und des SG Stuttgart vom 26. Februar 1969 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Zeit vom 24. Mai 1961 bis 30. April 1964 als Ausfallzeit gem. § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG bei dem ihr gewährten vorzeitigen Altersruhegeld anzurechnen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Ausführungen des Berufungsgerichts für zutreffend.
II
Die Revision der Klägerin ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 164 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, aber nicht begründet.
Das LSG hat zutreffend einen Anspruch der Klägerin auf die Anrechnung der Zeit vom Juni 1961 (der Monat Mai 1961 ist ohnehin als Beitragszeit berücksichtigt) bis April 1964 als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG verneint. In der streitigen Zeit ist eine versicherungspflichtige Beschäftigung nicht durch eine infolge Krankheit bedingte Arbeitsunfähigkeit i.S. dieser Vorschrift unterbrochen worden.
Der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat im Urteil vom 3. Mai 1968 (BSG 28, 68) entschieden, daß die versicherungspflichtige Beschäftigung eines Versicherten, der aufgrund krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezieht und bis zum Versicherungsfall des Alters seine Erwerbsfähigkeit nicht wiedererlangt, in der Regel mit dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit beendet wird und daher von einer bloßen Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung i.S. des § 1259 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (= § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG) nicht mehr gesprochen werden kann. Der 11. Senat hat sich dieser Rechtsauffassung im Urteil vom 22. November 1968 angeschlossen (vgl. Die Rentenversicherung 1969, 162). Beide Senate haben dieses Ergebnis damit begründet, daß nach den Vorstellungen des Gesetzgebers Empfänger von Renten wegen Erwerbsunfähigkeit - im Gegensatz zu den Beziehern einer Berufsunfähigkeitsrente - in aller Regel jedenfalls eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit nicht mehr ausüben können. Demzufolge wird die Erwerbsunfähigkeitsrente - anders als die Berufsunfähigkeitsrente - mit 1,5 v.H. der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage berechnet und insoweit dem Altersruhegeld gleichgestellt (§§ 30 Abs. 2 Satz 1, 31 Abs.1 Satz 1 AVG). Der erkennende Senat hat damit übereinstimmend im Urteil vom 25. Februar 1971 (SozR Nr. 34 zu § 1259 RVO) ebenfalls festgestellt, daß der Empfänger einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist und deswegen für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit die Anrechnung einer Ausfallzeit nach § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO bei einem später eintretenden neuen Versicherungsfall nicht in Betracht kommt.
Dem LSG ist darin beizupflichten, daß im vorliegenden Fall ein anderes Ergebnis nicht allein deswegen gerechtfertigt ist, weil der Klägerin die Erwerbsunfähigkeitsrente zunächst lediglich auf Zeit (bis zum April 1964) bewilligt worden war. Der Revision ist zwar zuzugeben, daß bei einer solchen Zeitrente i.S. des § 53 Abs. 1 AVG die Anrechnung von Zeiten der Arbeitsunfähigkeit als Ausfallzeiten in Betracht kommt, wenn die Erwerbsunfähigkeit vor dem Versicherungsfall des Alters wieder weggefallen ist. Insofern bleibt - worauf bereits der 1. Senat aaO hinweist - auch bei der vom LSG vorgenommenen Auslegung des § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG die Regelung in den §§ 30 Abs. 2 Satz 4, 31 Abs. 2 Satz 2 AVG (= §§ 1253 Abs. 2 Satz 4, 1254 Abs. 2 Satz 2 RVO) rechtserheblich. Hier ist indes die von der Beklagten ursprünglich angenommene Besserung des die Erwerbsunfähigkeit begründenden Zustandes nicht eingetreten, die Erwerbsunfähigkeitsrente mithin auch bis zum Eintritt des neuen Versicherungsfalls nicht weggefallen. Vielmehr hatte nach den von der Revision nicht angegriffenen und damit für den Senat gem. § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG die Erwerbsunfähigkeit zusammen mit der Arbeitsunfähigkeit im April 1961 begonnen und dauerte sodann bis zum Versicherungsfall des Alters ununterbrochen an.
Für diesen Fall ist es unerheblich, daß die Ärzte der Beklagten zunächst angenommen haben, die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin werde in absehbarer Zeit wieder behoben sein. Anders als bei der Entscheidung über die Gewährung einer Rente auf Zeit i.S. des § 53 Abs. 1 AVG braucht bei der Prüfung der Anrechenbarkeit des entsprechenden Rentenzeitraumes als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG eine derartige Prognose für die Zukunft nicht gestellt zu werden. Hier ist erst nach Eintritt des neuen Versicherungsfalles zu prüfen, ob die ursprünglich ärztlicherseits vermutete Besserung auch tatsächlich eingetreten ist. Der insoweit vom LSG vorgenommenen rückschauenden Betrachtungsweise ist daher zuzustimmen. Bei Eintritt des Versicherungsfalles des Alters stand demnach fest, daß die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin - entgegen der ursprünglichen und sich nachträglich als unzutreffend erweisenden Meinung der Ärzte - nicht wieder behoben werden konnte und somit für die Klägerin seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit im April 1961 keine Möglichkeit mehr bestanden hat, wieder eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufzunehmen.
Dem Vorbringen der Revision, es habe zunächst nur eine "vorübergehende" und erst ab Mai 1964 eine "dauernde" Erwerbsunfähigkeit vorgelegen, kann schon deswegen nicht gefolgt werden, weil das Gesetz nur eine Erwerbsunfähigkeit kennt. Auch für den Fall der Zeitrente nach § 53 Abs. 1 AVG unter der Voraussetzung einer begründeten Aussicht, daß die Erwerbsunfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein wird, gilt keine von § 24 Abs. 2 AVG abweichende Begriffsbestimmung der Erwerbsunfähigkeit. Es hat mithin vor und nach dem 1. Mai 1964 der gleiche Zustand der Erwerbsunfähigkeit bestanden. Lediglich die ursprüngliche Annahme der Ärzte der Beklagten, dieser (einheitliche) Zustand werde überhaupt wegfallen, hat sich später als unzutreffend erwiesen, weil die zuerst angenommene Besserung des Leberleidens nicht eingetreten ist.
An dem vom LSG gewonnenen und zu billigenden Ergebnis ändert auch nichts der Umstand, daß bei der Klägerin nach der Rentenantragstellung (Mai 1961) ein Heilverfahren in der Zeit vom 6. Dezember 1961 bis 4. Januar 1962 durchgeführt und deswegen im Hinblick auf § 18 Abs. 1 Satz 2 AVG zunächst Übergangsgeld und sodann erst vom 5. Januar 1962 an die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit gezahlt worden ist. Zwar können auch Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit, zu denen nach wohl herrschender Meinung auch die Übergangsgeldzahlungen nach § 18 Abs. 1 Satz 2 AVG gehören (vgl. BSG in SozR Nr. 19 zu § 1259 RVO; Eicher/Haase, 3. Aufl., Anm. 5 a und Verbandskommentar, 6. Aufl., Anm. 8 jeweils zu § 1259 RVO; a.A.: Brackmann, Band III, S. 700 f IV), eine versicherungspflichtige Beschäftigung i.S. des § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG unterbrechen und damit Ausfallzeiten sein. Voraussetzung für die Anrechnung ist aber auch hier, daß die Heilbehandlungsmaßnahmen die Erwerbsunfähigkeit beseitigen und damit das endgültige Ausscheiden der Versicherten aus dem Erwerbsleben verhindern konnten. Gerade daran fehlt es. Für die Zeiten des Bezugs des Übergangsgeldes vom April 1961 an kann daher nichts anderes gelten als für den anschließenden Zeitraum der ununterbrochenen Zahlung der Erwerbsunfähigkeitsrente bis zum Eintritt des Versicherungsfalles des Alters. Dies um so mehr, als auch das Übergangsgeld Lohnersatzfunktion und damit nicht nur rentenähnlichen Charakter hat, sondern hier aufgrund der Regelungen in den §§ 18 Abs. 1 und 19 AVG sogar an die Stelle der Rente getreten ist (vgl. BSG in SozR Nr. 11 zu § 146 SGG und Nr. 19 zu § 1259 RVO sowie Urteil des 3. Senats vom 16.12.1970 - 3 RK 31/67 -).
Da somit die versicherungspflichtige Beschäftigung der Klägerin durch die seit April 1961 bestehende Arbeitsunfähigkeit nicht unterbrochen, sondern beendet worden ist, kann die anschließende Zeit bis April 1964 keine Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG sein. Der Revision der Klägerin muß daher der Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen